22. Brötchenhälften, Briefgeheimnis

Kaffeeduft stieg mir in die Nase. Hieronymus hatte Brötchenhälften und Tassen bereit gestellt. Es war Frühstückspause, das beinahe schönste an meinem Job.

„Wo bleibt Rebecca?" Hieronymus wirkte ehrlich besorgt. Niemand sonst außer ihm konnte ein belegtes Brötchen mit Wurst, Salat, Gurke und Mayonaise in zwei Happen vertilgen.

Es blieb mir nur eine Notlüge.

„Wahrscheinlich ist sie krank, oder sie hat gestern zu lange gefeiert. Im Cartoon war Happy Hour. Da gab's die Getränke für eine Mark."

Ich konnte mich nicht erinnern Hieronymus schon jemals angeschummelt zu haben. Auch nicht in der Schule. Wir beide kannten uns seit der fünften Klasse. Wir hatten in der Schulmannschaft Fußball gespielt und für für's Schultheater Bühnebilder gemalt.

Niemand außer der alten Scheck und Rebecca durften von der Geistererscheinung wissen. Es würde zu viele Fragen und zu wenige Antworten darauf geben. Zu wenige Antworten führten ja stets zu den abenteuerlichsten Spekulationen, welche nie das Gute, sondern immer das Skandalöse betonten. Darauf hatte ich keinen Bock. Schließlich gab es für mich einen Ruf zu verlieren!

Ich nahm den Umschlag vom Verkaufstresen und steckt ihn mir unauffällig in den Hosenbund. Das Papier trug das Logo der Georgskirche. Eine Heiligenfigur in einem Kreis, drumherum der Kirchenname. Bei uns Vierzehnjährigen hieß die Georgskirche nur Sankt Grobian, wahrscheinlich weil das besser zu Pastor Lauensteins Verhalten passte, welches er uns hatte angedeihen lassen.

Der Umschlag war nicht bloß zugeklebt, sondern zusätzlich mit einem blutroten Wachssiegel verschlossen, was ihm eine hochherrschaftliche, geheimnisvolle, beinahe schon königliche Aura verlieh.

„Alles okay mit dir?" Hieronymus bedachte mich mit einem besorgten Blick, seinem berühmten Dackelblick.

„Habe nicht genug gepennt, das ist alles. Silva Mystica musste noch eingetütet und frankiert werden!"

Das verstand Hieronymus. Mit Papier und Umschlägen, mit Kleben, Binden, Heften kannte er sich aus.

„Bringst du mir auch mal so ein Gruselheft mit? Das vom Krypto-Club finde ich echt beschissen, die können überhaupt nicht schreiben. Alles voller Rechtschreibfehler. Deins ist bestimmt besser!"

Ich wusste zwar nicht wie Hieronymus darauf kam, dass ich ein Formulierungsgott war, denn er hatte noch nie etwas von mir gelesen, aber ich nahm das versteckte Lob gern an. Er schien restlos überzeugt, nachdem ich ihm erklärt hatte, dass nur ich den wahren Mysterien des Lebens auf der Spur war. Ich erwog Hieronymus von den Drohungen gegen mich zu erzählen, denn er wusste eigentlich immer eine Lösung und hatte nicht nur die Eisenstange im Angebot!

„Richtig nett von Rebecca, dass sie dir den Karton nach Hause gefahren hat!"

Ich nickte beifällig und nahm mir eine weitere Brötchenhälfte, dieses Mal mit Löcherkäse und saurer Gurke. Hieronymus sah mich verschwörerisch an.

„Du, ich glaube, die steht tierisch auf dich! Besorge ihr 'n Strauß Blumen und besuche sie! Wird sich garantiert freuen."

Bestimmt würde sie sich freuen! Sehr sogar! Mehr als ein schiefes Grinsen, das mich hoffentlich nicht verriet, fiel mir nicht dazu ein.

Völlig unerwartet überkam mich der Wunsch ins Café Sösedamm zu fahren und mich bei Mara auszuquatschen. Auch wenn das momentan undenkbar war und ich mir damit alle Chancen auf ein Comeback bei ihr verbauen würde, allein der Gedanke an ein solches Gespräch streichelte meine Seele.

Ich dachte an meinen alten Kumpel Sven, den Restaurant-Tester, den ich seit einer halben Ewigkeit nicht gesehen hatte. Der dicke, gemütliche Sven war ein prima Zuhörer, der nicht viel fragte, aber gern und viel aß und trank. Ich mochte seinen schwedischen Akzent, den er in all den Jahren beibehalten hatte, und der meine Sehnsucht nach dem Land im Norden ständig aufs neue befeuert hatte.

Mir wurde klar wie allein ich den letzten Wochen gewesen war. Bis auf Amanda hatte es kaum jemanden gegeben, mit dem ich mehr als drei, vier Sätze ausgetauscht hatte. Ich nahm mir vor, mich noch in dieser Woche bei Sven zu melden.

Hieronymus hieb mir auf die Schulter und riss mich aus meinen Gedanken. „Nimm noch das letzte Schnittchen, und dann zurück an die Arbeit!" Ich lehnte ab. Doch darauf schien er nur gewartet zu haben. Mit raschem Griff schnappte er sich die Brötchenhälfte und schob sie sich zwischen seine gewaltigen Zähne. Zweimal zugebissen und das Ding war verschwunden.

Bevor ich mich um den defekten Schwarzweißkopierer kümmerte, verzog ich mich auf's Angestelltenklo. Gemütlich war es dort nicht. In der Ecke standen ein Wischmob und ein Wassereimer. Die Wände waren hellblau gekachelt, ein ausgeblichener Kalender mit Tiermotiven von 1979 hing traurig neben dem gesprungenen Waschbecken. Es zog, es war kalt und roch nach billigem Reinigungsmittel. Ich setzte mich auf den herunter geklappten WC-Deckel und zog den Brief aus dem Hosenbund.

Neben das Siegel hatte jemand meinen Namen geschrieben, flüchtig, wie in Eile darauf gekritzelt. Ich ahnte schon, was ich in dem Umschlag finden würde.


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