21. Göttlicher Besuch, Abholschein

„Der Schwarzweißkopierer Nummer drei ist immer noch im Arsch ...!"

Hieronymus hatte schlechte Laune. Ich hängte meine Jacke in die Garderobe und inspizierte anschließend die Arbeitsliste, welche er für den heutigen Tag angelegt hatte.

Um zehn öffnete der Laden. Kurz darauf kamen die ersten Kunden. Viel zu tun gab es allerdings nicht. Zehn Kopien, drei Mappenbindungen, die Vervielfältigung eines Werbeblattes für das griechische Restaurant Akropolis in der Bahnhofstraße. Einmal mehr fragte ich mich wie Hieronymus das finanziell eigentlich schaffte.

Am Nachmittag versuchte eine Schülerin ihr Zeugnis per Collage zu manipulieren. Freundlich aber bestimmt erklärte ich ihr, dass ihr Ansinnen durchaus nachvollziehbar sei, unser Laden ihr bei dem Vorhaben aber nicht helfen könne und auch nicht wolle, in erster Linie wegen rechtlicher Bedenken.

Kurz vor achtzehn Uhr, als ich schon mit niemandem mehr rechnete, ritt ein Mann auf einem Pferd auf den Parkplatz, und band seinen Gaul am Treppengeländer fest. Mir war nur ein Mann bekannt, der im Jahr 1981 noch mit einem Pferd durch die Stadt ritt.

Als er herein kam nahm er den Hut mit der Feder ab und zog sich die Handschuhe elegant von den Fingern.

„Guten Abend!"

Ich war gerade dabei gewesen, die farbigen Papiere unterm Verkaufstresen nachzufüllen und zu sortieren. Jetzt richtete ich mich auf und sah ihn an.

„N'Abend, was kann ich ...?"

Ja, dieses Gesicht kannte ich. Wie hätte ich es vergessen können? Dunkles Haar, penibler Seitenscheitel, das von einer Hasenscharte entstellte Gesicht. Zwei Jahre religiöses Martyrium kamen wieder hoch, und es ärgerte mich maßlos, dass ich auch heute noch, vierzehn Jahre danach, weiche Knie bekam.

„Pastor Lauenstein, was kann ich für sie tun?"

Das war nicht als eine blöde Floskel. Irgendwas musste ich ja sagen. Ich hatte nicht den Eindruck, dass er Kopien benötigte. Hatte er mich wiedererkannt? Es schien mir nicht so.

„Herr Lupo Scholz arbeitet bei ihnen. Ist er da?"

Sein herrischer, selbstgerechter Tonfall hatte sich in all den Jahren nicht verändert. Mit gerümpfter Nase sah er sich im Laden um, als hätte irgendwo ein Hund in die Ecke gekackt.

Ich schluckte. Das Sprechen fiel mir schwer.

„Lupo? Der holt gerade Brötchen ..."

Lauenstein leckte sich flüchtig über die Lippen, und ich befürchtete schon er würde sich gleich auf mich stürzen und mich fragen was ein Mitarbeiter um diese Zeit beim Bäcker wolle, wo doch alle wüssten, dass abends gar kein Bäcker mehr geöffnet habe.

„Meine Tochter hat sich gestern Abend mit ihm getroffen."

Jetzt fehlte nicht mehr viel und mir würde das Herz in die Hose rutschen, oder etwas noch viel Unangenehmeres. Was hatte ich mit Lauensteins Tochter zu tun? Ich kannte sie nicht mal. Mein Gehirn lief auf Hochtouren.

Pastor Lauenstein griff in seine Jacketttasche, zog ein Stück Papier daraus hervor und hielt es mir vor die Nase.

„Äußerst unklug von ihm, einen Abholschein vom Schuster in seinem Hemd stecken zu lassen!"

Hemd? Von welchem Hemd sprach er? Ich sah an mir herunter. ich trug doch heute gar kein ... Dann fiel der Groschen. Hart und unerbittlich. Das Knallen des Aufpralls dröhnte hundertfach durch meinen Schädel. Ich wollte etwas sagen, spürte aber wie mir die Worte auf halber Strecke im Hals stecken blieben. Meine Unterlippe zitterte merklich.

„Rebecca? Rebecca ist ihre Tochter?"

Meine Verblüffung war echt. Nie im Leben hätte ich dieses durchgeknallte Persönchen mit der Pastorenfamilie Lauenstein in Verbindung gebracht, diesem Hort des Anstands, der Tradition, der strengen Regeln und Vollkornplätzchen.

Pastor Lauenstein stand noch immer da wie die Leib gewordene Verdammnis und durchbohrte mich mit seinem stählernen Blick. Das hatte ich schon im Konfirmandenunterricht kaum ertragen. Es war als würde er mir durchs Herz mitten in die Seele blicken und mein ganzes Sein wie ein Buch durchblättern, wobei er die Seiten nicht bloß anfasste, sondern kräftig daran riss bis sie zu reißen drohten.

Erkannte er mich jetzt? Ich hatte noch immer nicht den Eindruck. Was wollte er hier? Reue? Sollte Lupo sich, sobald er vom Brötchenholen zurück war, vor Lauenstein auf den Boden schmeißen, ihm die schwarzen Reitstiefel küssen und um Vergebung winseln? Mehr zu sich selber als an mich gewandt murmelte er: „Was hat er ihr angetan, dieser gottlose Heide?"

Jetzt beugte er sich zu mir herüber, und ich rechnete fest damit, dass er mir gleich ins Hemd fassen und mich über den Tresen ziehen würde. Das wäre dann schon das zweite Mal in wenigen Tagen, dass mich jemand grob anfasste. Ich schielte zu Hieronymus hinüber, der im hinteren Teil des Ladens Regale aufräumte. Er wusste wo die Eisenstange für Notfälle stand.

Im letzten Augenblick schien Lauenstein sich eines Besseren zu belehren. Er atmete hörbar aus und verdrehte die Augen in Richtung Decke, als hätte er vom Schöpfer höchstpersönlich eine Botschaft der Mäßigung empfangen.

„Geben sie ihm das hier!"

Lauenstein knallte einen Umschlag auf den Tresen. Sein klobiger Ring, den er am Daumen trug, reflektierte das Licht der Neonröhren. Er zog sich sein Jackett zurecht, besserte mit flacher Hand den Scheitel nach, setzte sich den Dreispitz mit Feder zurück aufs Haupt und streifte die Handschuhe über. Während er in Richtung Tür marschierte hörte ich ihn murmeln: „Selbstjustiz ist keine Lösung, Herr. Ich weiß, ich weiß! Verzeih!"

Er riss die Tür auf und schmiss sie so kräftig hinter sich zu, dass die Messingglöckchen abrissen und scheppernd auf den Steinboden fielen. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht schritt er die Treppe hinab zu seinem Pferd.

Was für ein Auftritt. Hieronymus kam zu mir und legte mir die Hand auf die Schulter.

„Was wollte der?"

Ich zuckte mit den Schultern.

„Hat gefragt, ob er hier letzte Woche zufällig seinen Schlüsselbund vergessen hat!"

Von Pastor Lauenstein würde ich noch hören, so viel war sicher. Ich sah zu wie er sich auf den Rücken seines Rappen schwang, sich die Zügel ums Handgelenk wickelte und dem Tier sacht die Hacken in die Seiten drückte.

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