18. Heimfahrt
Rebecca war nicht nur minderjährig und liebte abartige Spielchen, sie klaute auch das Auto ihrer Tante und fuhr damit herum, ohne Führerschein.
„Meine Tante Stella ist behindert. Schlaganfall. Sie kann nicht mal mehr einen Kaffeebecher halten ohne sich alles über die Hose zu schütten. Das Auto würde bloß in der Garage verstauben!"
Über so viel Naivität musste ich als Achtundzwanzigjähriger eigentlich den Kopf schütteln, doch war ich mit siebzehn etwa besser gewesen? Ich erinnerte mich an das alte Weltkriegsmotorrad meines Opas Fritz, das ich mit verpickeltem Gesicht oberhalb der Wohnsiedlung über die Feldwege gejagt hatte. Dabei hatte er es immer gut in seiner Garage verschlossen. Nur durch ein geschicktes Ablenkungsmanöver war ich an den Schlüssel gekommen. Ein oder zwei Mal hatte ich damit auch ein Mädchen ins Kino gefahren. Beim Sprung über die selbst gebaute Sprungschanze war schließlich die Vorderachse gebrochen. Opa Fritz hatte Gnade vor Recht ergehen lassen. Er meinte, dass mir die Halskrause, die ich fast drei Wochen tragen musste, Lektion genug sein dürften.
Ich befahl Rebecca auf dem Beifahrersitz zu warten, während ich aus meiner Wohnung ein kariertes Hemd, eine kurze Stoffhose und einen Kamm holte. Rebecca sollte sich auf Vordermann bringen damit ihre Eltern nicht unnötig Verdacht schöpften.
Zunächst dachte ich, dass sie weit weniger unter den Ereignissen litt, als ich befürchtet hatte. Doch als ich zu ihr zurück kam, sah ich ihre bleiche Haut, die zitternden Hände und den starren Blick. All das deutete auf nichts Gutes hin.
Mit schockstarrer Miene kämmte sie sich die verfilzten Haare, zog das zerrissene Top und die löchrige Hose aus und schlüpfte in die mitgebrachten Klamotten. Mit einem Papiertaschentuch und ein bisschen Spucke wischte sie sich die schlimmsten Dreckstriemen aus dem Gesicht.
Auf dem Weg zu ihr nach Hause verfuhren wir uns dreimal, weil Rebecca Probleme mit der Orientierung hatte. Sie hatte von einem großen Haus gesprochen, einem üppigen Garten, doch wo wir uns jetzt befanden gab es nur kleine Häuser auf kleinen Grundstücken, Mehrfamilienhäuser und Doppelhaushälften.
Ich hielt am Fahrbahnrand und sah ihr in das käsige Gesicht.
„Im Strange, das ist aber nicht hier! Das muss weiter den Berg hoch sein ...!"
Rebecca winkte ab und zeigte die Straße hinunter.
„Da vorn ist das Haus meiner Tante. Stell den Wagen einfach wieder in die Einfahrt ..."
Oh, Mann. Auf was hatte ich mich da eingelassen?
Ich fuhr wieder an, holte ein paar Meter Schwung, schaltete dann die Scheinwerfer und den Motor aus und ließ den Wagen lautlos rollen bis Rebecca irgendwann „Hier! Hier!" schrie und ich das Auto nach rechts auf ein unbeleuchtetes, mit hohem Gras überwuchertes Grundstück lenkte. Das Haus lag komplett im Dunkeln, nirgends brannte Licht.
„Stella schläft schon, und mein Onkel sitzt auf der hinteren Seite des Hauses im Wohnzimmer und guckt Fernsehen."
Ich fragte lieber nicht weshalb ihr Onkel den Wagen nicht vermisste, denn ich hatte den Eindruck, dass in Rebeccas Familie so einiges im Argen lag.
„Kommst du von hier aus allein zurecht?"
Statt eine Antwort abzuwarten griff sie nach meinem Arm und hakte sich ein. Wie ein Schluck Wasser hing sie an meiner Seite während wir die Straße hinauf, dann durch eine dunkle Gasse und über eine unbefahrene Kreuzung in Richtung ihres Hauses torkelten. Ich war heilfroh, dass die Straßen so leer waren und wir niemandem begegneten. Man hätte uns leicht für ein zugedröhntes Pärchen auf dem Heimweg von einem Feiermarathon halten können.
Plötzlich blieb Rebecca stehen.
„Von hier aus geht's allein ...! Unser Hund mag eh keine Fremden!"
Ich sah sie fragend an, doch schien sie meinen Blick zu ignorieren und starrte unverwandt die Straße hinauf. Wenn ich ehrlich war, dann hätte sie mir in diesem Augenblick keine größere Freude machen können. Die ganze Zeit über hatte ich mir schon überlegt wie ich den Eltern Rebeccas Zustand erklären sollte. Immer wieder war ich zu dem Ergebnis gekommen, dass das streng genommen unmöglich war, wenn ich mich nicht dem Verdacht aussetzen wollte, ihr etwas angetan zu haben.
Ich lehnte mich mit dem Rücken an einen Stromkasten um zu verschnaufen. Rebecca löste sich von meinem Arm, warf mir einen angedeuteten Luftkuss zu und stolperte weiter die steile Straße hinauf. Erst jetzt sah ich, dass sie keine Schuhe trug. Für einen Moment erwog ich ihr nachzulaufen, blieb dann aber doch wo ich war. Ich sah ihr nach bis sie auf der Kuppe angelangt war und nach rechts in eine Seitenstraße einbog. Dann verschwand sie aus meinem Blickfeld.
Als ich mich umdrehte und den Hang hinunter lief, begann sich der Himmel im Osten bereits gelb zu färben.
Ich hoffte inständig, dass Rebecca sich an unsere Abmachung hielt. Sie war nie bei mir zu Hause gewesen, sie hatte nichts Ungewöhnliches gesehen, gehört, erlitten und hatte vor allem keinen Kontakt zu Wesen aus dem Jenseits gehabt. Eine Erklärung für ihren desolaten Zustand musste sie sich selbst zurecht legen. Im Gegenzug versprach ich ihr, die Sache mit den Handschellen und den geplanten Vergewaltigungsversuch zu vergessen.
Die Welt war schon komisch. Seit fast zwei Jahren arbeiteten Rebecca und ich schon für Hieronymus im Copyshop, und ich wusste so gut wie nichts über sie. Nicht dass sie Schülerin und erst siebzehn war, nicht dass sie wohlhabende Eltern und eine gelähmte Tante hatte. Andererseits: ich hatte ihr ja auch so gut wie nichts über mich erzählt, bis auf die Tatsache, dass ich mal was mit Kunst studiert hatte und politisch eher links war. Genau das war mein Fehler gewesen!
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