15. Unruhige Nacht, Schlafanzugmodel
Plötzlich wunderte ich mich, dass ich nicht vor Grausen herumschrie, nicht vor lauter Panik aus der Wohnung rannte, die Treppe hinunter auf den Innenhof, von dort auf den Marktplatz, und dort, zwischen den ganzen eisschleckenden Leuten, nur mit einer Unterhose bekleidet, meine ganze Furcht hinaus brüllte.
Ein paar Polizeibeamte mit festem Griff würden mich einsammeln und über Nacht in eine kahle Zelle sperren, wo ich sicher wäre vor dem elenden Feuerspuk. Mein Kopf funktionierte noch, ich konnte klar denken. Stand ich unter Schock? Nein, es ging mir gut.
Ich ging ins Bad und starrte in den Spiegel über dem Waschbecken. Kein Wunder, dass ich vorhin verbranntes Haar gerochen hatte. Mein Bart am Kinn war voller Brandlöcher, die linke Augenbraue zur Hälfte verschwunden. Ich griff mir ins Kopfhaar. Auch dort kahle Stellen. Wahrscheinlich war jetzt der richtige Zeitpunkt für die finale Typveränderung.
Ich schäumte Kinnpartie und Wangen ein und rasierte mir den Zottelbart ab bis auf einen struppigen Balken unter der Nase. Sollte der Nachbar doch denken was er wollte.
Bewundernd musterte ich mein Angesicht. So sah ein Mann aus, der Geister vertrieb!
Keine Angst zu verspüren bereitete mir beinahe mehr Muffensausen, als welche zu haben. Und die mürrische Scheck oder die lüsterne Rebecca fürchtete ich fast mehr als Nebeldämonen und Feuergeister. Ich fühlte mich prächtig, und in einem Anfall von Wahnsinn und Euphorie glaubte ich, endlich meine Bestimmung gefunden zu haben. Doch ich kannte mich. Vierundzwanzig Stunden später konnte nichts mehr davon übrig sein, und ich würde sogar bezweifeln, dass ich Tonerkartuschen wechseln und Papierfächer nachfüllen konnte.
Ich ging zurück ins Schlafzimmer, zog das Bettzeug ab und stopfte es in einen großen Müllsack. Dann besah ich mir die Matratze, das teuerste Stück in diesem Raum. Sie war glücklicherweise unversehrt geblieben. Die Wände musste ich neu tapezieren, zumindest jedoch weiß überstreichen, wobei drei Schichten wahrscheinlich nicht reichten. Meine Flokati-Teppiche rund ums Bett waren hoffnungslos verloren. Sie bestanden fast nur noch aus Brandlöchern.
Das Fenster stellte ich auf Kippe, in der Hoffnung, dass es am Abend nicht mehr ganz so penetrant nach angebranntem Schnitzel roch. Dann verließ ich das Schlafzimmer und schloß die Tür hinter mir. Ich wollte mir das Elend erst einmal nicht länger ansehen. Zum Schlafen konnte ich mich in den nächsten Tagen auch aufs Sofa legen.
Ich ließ mich in meinen Sessel fallen und beobachtete Amanda, die auf der Lehne lag, beim Schlafen. Sie hob den Kopf. Weißes Fell, schwarz umrandete Augen. Auch dieses Mal hatte sie mich gerettet, wenn auch indirekt. Die Vertreibung der sadistischen Rebecca hatte Magma-Scheck ihr abgenommen. Mir hatte er kein Haar gekrümmt. Weshalb eigentlich?
Vermutlich brauchte er mich noch. Schließlich sollte ich ihn erlösen. Ich begann zu grübeln und nebenbei Amandas Fell zu streicheln. Dabei schwankte ich zwischen Wachsein und Traum hin und her. Zwischendurch war ich mir nicht mehr sicher, dass ich auf diesem Sessel, in dieser Wohnung, in dieser Stadt, und nicht ganz woanders war, in einer anderen Welt, die der meinen zum Verwechseln ähnlich sah, sich jedoch in wenigen aber entscheidenden Punkten von dieser unterschied. Einer Art Parallelwelt. Ich erinnerte mich daran, in einer älteren Crypto-Ausgabe von so etwas gelesen zu haben.
Als ich schon so weit war mich auf die Suche nach Parallelwelt-Portalen in meiner Wohnung zu begeben, spürte ich wie mein Körper sich entspannte, sachte zur Seite fiel, der unendlichen Müdigkeit und der geschundenen Seele nachgab.
Mitten in der Nacht schreckte ich hoch. Dabei musste ich wohl Amanda mit dem Bein getroffen haben. Sie fauchte und machte ernsthafte Anstalten, ihre Krallen in meinem nackten Unterschenkel zu vergraben. Ich schielte zur Küchenuhr hinüber. Es war erst drei. Auf dem Hof war ein Höllenlärm. Irgendwo schrie eine Frau wie am Spieß. Es klang verzweifelt, panisch und dumpf, als befände sie sich in einem Pappkarton. Karton, Silva Mystica, Magmalampe. Jetzt konnte man draußen jemanden gegen eine Holztür trommeln hören.
Weshalb lag ich auf dem Sofa und nicht in meinem Bett? Ich sprang hoch, wobei ich mir den Fuß am Stubentisch stieß, und humpelte hinüber zum Küchenfenster. Unten auf dem Hof war es stockdunkel. In keinem der umliegenden Fenster brannte Licht, niemand stand am Fenster und bat brüllend um Ruhe. Der Lärm musste gerade erst begonnen haben, und ich war offenbar der erste, der ihn gehört hatte.
Mit nackten Füßen eilte ich in den Flur, schnappte mir den Schlüsselbund, schloss die Wohnungstür auf, rannte die Treppe hinunter, aus dem Haus, über den gepflasterten Hof. Um ein Haar wäre ich in ein zerbrochenes Einweckglas getreten. Die Essiggürkchen leuchteten im Schein des Mondes und für einen Moment beschlich mich die Angst, sie könnten sich in Bewegung setzen und an meinem Bein hinauf in meine Unterhose kriechen. Gottlob blieben sie wo sie waren.
Ich sah hinüber zu der langen Reihe hölzerner, zweiflügeliger Schuppentüren. Jeder Mieter besaß einen Verschlag, in dem er seinen Wagen parkte, sein Motorrad abstellte, Gerümpel lagerte oder sich eine Werkstatt eingerichtete hatte. Am Tag der Wohnungsbesichtigung hatte ich die Schecks gefragt, ob man auch ein Pferd unterstellen könnte. Herr Scheck hatte nur gelacht, während Frau Scheck mich wahrscheinlich schon damals in eine Schublade mit Andreas Baader gesteckt hatte.
Einige der Schuppen wurden häufiger genutzt, manche weniger. Ich öffnete meinen nur zweimal im Jahr. Zu Ostern wenn ich den Karton mit den selbstbemalten und mit Wolle umwickelten Eiern suchte, und zu Weihnachten wenn ich den gusseisernen Weihnachtsbaumständer benötigte.
Das Klopfen und Schreien kam von ganz hinten, dem Ende der Türreihe. Dort befand sich der Werkstatt-Verschlag der Schecks. Auf Augenhöhe hing ein Schild, auf dem in altdeutschen Buchstaben die Losung „Eintritt nur für Befugte!" prangte. Zwei massive Vorhängeschlösser sorgten dafür, dass die Vorgabe eingehalten wurde. Das Schreien hinter der Tür ging in ein jämmerliches Wimmern über. Es zerriss mir das Herz.
Ende im Gelände. Hier ging es für mich nicht weiter. Oder doch?
Ich erinnerte mich an den schweren Schlüsselbund, den Frau Scheck mir vor ihrer Flucht in die Hand gedrückt hatte und sprintete zurück in die Wohnung.
Unterdessen waren auch einige Nachbarn auf den Lärm aufmerksam geworden. Als ich die Treppen wieder hinunter lief, schauten sie mit müden Augen aus ihren Türen und fragten was los sei.
„Mein Kater. Er prügelt sich mit dem Kater vom Nachbarhaus! Ich muss dazwischen. Entschuldigen sie!"
Sie mussten nicht erfahren, dass Amanda gar kein Kater war, sich nicht im geringsten für Keilereien mit anderen Stubentigern interessierte, und viel lieber Geister und Dämonen jagte.
Vier von fünf Türen schlossen sich daraufhin wieder, mangels Interesses. Nur Herr Bremer von nebenan folgte mir bis nach ganz unten. Ich war mir hundertprozentig sicher, dass er mir bloß seinen hautengen Schlafanzug mit Garfield-Aufdruck und sein eingeschnürtes Gemächt präsentieren wollte, und bat ihn im Haus zu bleiben. Er gehorchte.
„Weshalb schließt sich jemand um drei Uhr früh im Schuppen ein, Herr Scholz?"
Ich machte eine scheuchende Handbewegung und er verschwand im dunklen Hausflur.
Während ich mit eiligen Schritten zurück zum Schuppen hastete besah ich mir die Schlüssel. Briefkasten, Haustür, Wohnungstür, Kellertür, Schuppen eins, Schuppen zwei. Bingo!
Das Wimmern war wieder lauter geworden, und so ganz allmählich entwickelte ich eine Idee von wem es kam. Ich traf die Schlüssellöcher erst nach mehreren Anläufen, so sehr zitterten meine Hände. Auch ließen sich die Schlüssel nur schwer herumdrehen. Ich tippte auf Rost. Nachdem ich ein wenig an ihnen gerüttelt, sie beschimpft und auf sie gespuckt hatte, sprangen sie schließlich auf und gaben die Holztür frei.
Kaum hatte ich sie ein Stück weit aufgezogen, als sich mir eine zarte Hand mit schwarz lackierten Fingernägeln entgegenstreckte und mir um Haaresbreite die Augen ausgestochen hätte.
Ohne Zweifel. Es war Rebeccas Hand. Beim zweiten Hinsehen entdeckte ich Brandblasen, Kratzer, abgeplatzten Nagellack.
Sie begann erneut zu kreischen.
„Lass mich hier raus, du verdammter Saukerl!"
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