14. Fliegender Simmel, Lieblingskuli

Scheck war weg, mitsamt der Praktikantin. Und noch immer glommen um mich herum zehntausende winzige Glutpartikel. An den Wänden, auf den Bodendielen, im Flokati vor dem Bett, an der Decke. Im Vorhang, auf dem Bettzeug und auf meinen Klamotten. Ich roch angesengten Stoff und verkohlte Tapete.

Man hätte das Lichterspiel einzigartig und feierlich nennen können, hätte es nicht mein Schlafzimmer verwüstet und es für die nächsten Wochen in eine unbewohnbare Ruine verwandelt.

Ich riss an der Handschelle, die mich noch immer an den Bettpfosten fesselte. Das konnte einfach nicht wahr sein!

Wenn ich Glück hatte lag der Schlüssel hier irgendwo zwischen dem zerwühlten Bettzeug oder auf dem Boden. Wenn nicht, dann musste Rebecca ihn in der Hand oder ihrem Schlüpfer gehabt haben als sie von Scheck eingesogen wurde.

Merkwürdigerweise dachte in diesem Moment an Silva Mystica, und dass ich noch keine einzige Ausgabe in einen Umschlag gesteckt und frankiert hatte. Ich dachte an Mara in ihrer schwarzen Kellnerinnenkleidung mit der kleinen weißen Spitzenschürze vor dem Bauch, und ich betete zu meinem Schöpfer, dass sie niemals von dieser Geschichte hier erfuhr.

Streng genommen hatte ich jedoch ganz andere Sachen am Hacken: Einen Hausgeist, der zunehmend enthemmter seine Show abzog, eine Praktikantin, die in meinem Schlafzimmer spurlos verschwand und eine Hausmeisterin, die endlich zurück in ihre Wohnung wollte. Darüber hinaus musste ich dringend die Handschelle loswerden.

Früher oder später würden die Eltern nach dem Verbleib ihrer Tochter fragen, und es wäre nur eine Frage der Zeit bis die Polizei vor meiner Tür stand und Sturm klingelte. Da ich nicht öffnen konnte würden sie die Wohnungstür aufbrechen und mich gefesselt in einem verkohlten Bett finden.

Was würde ich zu meiner Verteidigung sagen? Auch Hieronymus würde vermutlich nicht den Mund halten können und von den lüsternen Blicken erzählen, die Rebecca mir in den letzten Monaten zugeworfen hatte.

Ich war geliefert. Ich war am Arsch.

Amanda war eigenständig zurückgekehrt, wohin auch immer sie durch den Scheck'schen Nebel gesprungen war. Und sie schien es gut verkraftet zu haben. Bei Rebecca hatte ich da so meine Zweifel.

Da war wieder dieses Kratzen an der Tür, gefolgt von einem lang anhaltenden Miauen. Amanda! Meine letzte Hoffnung! Ich sah mich im Schlafzimmer um, in der Hoffnung etwas zu finden womit ich die Türklinke herunterdrücken konnte. Drei Meter etwa waren es bis zur Tür. Doch weder gab es hier einen Besen, noch eine Teleskopstange, und mit einer gefesselten rechten Hand ließ sich sowieso nicht viel bewerkstelligen.

Auf dem Nachttisch lag ein Stapel Bücher. Nur zwei davon hatte ich bisher gelesen. Den Rest hatte ich mir für die kommenden Wochen vorgenommen. Bücher waren mir ein heiliges Gut. Weder schmiss man sie weg, noch riss man Seiten aus ihnen heraus. Man warf sie auch nicht ins Feuer oder malte in ihnen herum. Eigentlich undenkbar sie als Wurfgeschoss zu benutzen, doch in meiner Lage blieb mir keine andere Wahl. Blieb die Frage welches von ihnen am besten flog.

Die Blechtrommel von Günther Grass hatte ich gerade fertig gelesen. Ein schweres, unhandliches Buch. Ich griff es und wog es in der Hand. Durch die Fessel war mein Schwungradius stark eingeschränkt, doch mit etwas Glück ...

Donnernd knallte es an die Tür und landete mit aufgespreiztem Deckel auf den Boden. Die Klinke hatte es dabei nicht einmal gestreift.

Tolkiens Herr der Ringe verschonte ich. Alle drei Bände enthielten so wunderbare Illustrationen! Doch der neue Simmel-Roman schien mir geeignet. Meine Mutter hatte ihn mir zum Geburtstag geschenkt. Sie stand auf Simmel. Ich fand ihn einfach nur grausig. Dieses Mal versuchte ich nicht direkt auf die Klinke zu zielen, sondern etwas weiter nach links, um meine mehr als unnatürliche Körperhaltung auszugleichen. In einem hohen Bogen, einer perfekten, ballistischen Kurve, sollte das Buch auf die Klinke fliegen. Wenn es dieses Mal wieder nicht klappte, musste ich den Tolkien opfern, mit Bettzeug oder meiner Unterhose schmeißen, oder den Nachttisch an die Tür pfeffern.

Ich warf. Der Simmel stieg in die Luft, dreht sich sanft, fächerte sich rascheln auf, erreichte seine Maximalhöhe auf halber Entfernung, senkte sich dann mit einem Klappern des Buchdeckels und traf die Türklinke an exakt der richtigen Stelle, um kurz darauf auf den Boden zu donnern und mit verknitterten Seiten unter den Kleiderschrank zu rutschen.

Die Tür ging auf und Amanda kam ins Zimmer gesprungen. Meine missliche Lage schien sie jedoch nicht im geringsten zu interessieren. Sie schnurrte, rieb sich an meinem Shirt und legte sich anschließend auf meinen Schoß.

„Amanda", rief ich, „such den Schlüssel!"

Ich klapperte mit der Handschelle, um dem Tier verständlich zu machen was ich wollte. Sie hob den Kopf, sah mich an, und legte sich wieder hin.

„Den Schlüssel, Amanda. Sei ein braves Kätzchen!"

Wieder hob sie den Kopf, blinzelte, schleckte sich das Maul und erhob ganz langsam, wie in Zeitlupe, ihren schlanken Körper. Mit bedächtigen Schritten lief sie über das Bett wobei sie die Nase dicht über der Matratze hielt. Plötzlich schob sie den Kopf unter das Kopfkissen, um kurz darauf mit einem länglichen Gegenstand im Maul zurück auf meinen Schoß zu krabbeln. Sie hatte meinen Lieblingskugelschreiber wiedergefunden. Den roten mit dem weißen SPD-Aufdruck, mit dem es sich so geschmeidig schreiben ließ. Danke Amanda, tausend Dank. Damit bekam ich jedoch keine Handschelle geöffnet! Doch zumindest hatte sie verstanden was ich von ihr wollte. Eine Wahnsinnsleistung für eine Katze.

„Na los, Amanda. Such den Schlüssel! Such den Schlüssel!"

Wieder stand sie auf, sah mich an, putzte sich das Brustfell und lief erneut über das Bett. Dieses Mal sprang sie jedoch auf den Boden. Ich hörte wie sie unter das Bett kroch, hörte wie sie die dort deponierten Zeitungen zerriss und die Fetzen über die Dielen verteilte.

Nach etwa zehn Minuten schien sie genug zu haben. Sie lief einmal quer durchs Zimmer, anschließend wieder zurück, und gerade als ich dachte, dass sie durch die offene Tür hinaus ins Wohnzimmer laufen und mich im Stich lassen würde, machte sie eine Drehung und sprang zurück auf meinen Schoß. In ihrem Maul trug sie einen kleinen silbergrauen Schlüssel.

Ich wusste es ja: Amanda war eine Wunderkatze und nicht von dieser Welt.

Zwei Dinge galt es nun zu erledigen: Zum einen musste ich Rebecca wiederfinden und sie möglichst wohlbehalten zu Hause abliefern, und zum anderen den alten Scheck, so nett er zu Lebzeiten auch gewesen sein mag, in die ewigen Jagdgründe verbannen. Dazu musste ich herausfinden weshalb es ihm so schwer fiel endgültig den Löffel abzugeben, und er es stattdessen vorzog in diesem ranzigen Haus herumzuspuken.

Ich hatte so gut wie keinen Anhaltspunkt. Genau genommen gar keinen. Oder doch. Kater Charly war vielleicht einer. Der Alte hatte ihn abgöttisch geliebt. Dann der Unfall auf der Treppe. Das ungeklärte Verschwinden seines Katers hatte Scheck mit ins Grab nehmen müssen. Das konnte einen schon reglos machen und in einen unruhigen Geist verwandeln!

War das die Lösung? Ich brauchte bloß den Verbleib des Katers zu klären, und das Gespenst würde sich in Wohlgefallen auflösen? Einen Versuch war es wert!

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