10. Schwanz ab & Beschwörungsversuch

Der Radiowecker sprang an und irgendein Sprecher wünschte mir einen guten Morgen, bevor er mit dem Vorlesen der Frühnachrichten begann. Proteste in Polen, Besetzung der iranischen Botschaft in Bonn, ein Häftling stirbt in einem IRA-Gefängnis. Alles sehr diffus. Für Details war ich noch nicht wach genug. Amanda aber lag noch immer zusammengerollt an meinen Füßen. Das war etwas Konkretes!

Mein Tagesprogramm für heute stand. Als erstes wollte ich die Scheck'sche Wohnung genauer unter die Lupe nehmen, ganz besonders die Küche und die Stelle, an welcher die Nebelgestalt gehockt hatte.

Ich ging gern in die Stadtbibliothek und schlenderte ungeplant zwischen den Regalen umher. Ganz am Ende des Lesesaals, dort wohin sich selten jemand verlief, standen die Bücher über Parapsychologie, Geister, Monster, PSI-Phänomene, Ufos und Kryptozoologie. In einem Buch über Spukerscheinungen, auf dem Umschlag war ein altenglisches Geisterhaus abgebildet, hatte ich gelesen, dass Geister niemals ohne Grund die Welt der Lebenden heimsuchen. Das erschien mir schon damals plausibel. Auch die Nebelgestalt hatte Gründe für ihr Auftauchen.

Als Zweites nahm ich mir vor, nach einer Spur des fetten Katers Charly zu suchen. Gut möglich, dass es da einen Zusammenhang gab!

Ich hatte nichts dagegen, den Fall noch heute abzuschließen, denn es gab noch genug andere Dinge für mich zu tun. Zum Beispiel Silva Mystica zu kopieren, die Blätter zu heften, im Umschläge zu stecken, zu beschriften und mit Briefmarken zu bekleben. Eine Mark musste ich für jede Sendung berappen. Dagegen standen fünf Mark, die ich für jedes Heft bekam.

Ich schlich ins Badezimmer. Beim Blick in den Spiegel kam mir zum ersten Mal seit langem der Gedanke, dass ich meine Haare kürzen und dem Pferdeschwanz Lebewohl sagen könnte. Auch der Vollbart erschien mir mit einem Mal wie das Relikt aus einer längst vergessen Zeit. Ein Oberlippenbart tat es doch auch! Weniger war mehr! Auch Fritsch, der Friseur, zu dem Frau Scheck jede Woche ging, trug so einen. Ich konnte mir vorstellen, dass der noch einmal richtig groß in Mode käme! Dabei fiel mir ein, dass Herr Bremer von gegenüber auch einen trug. Wenn ich ihm den Bart nachmachte, dann kam er vielleicht auf die Idee, ich stünde auf ihn. Ich beschloss, die Entscheidung zu vertagen und schnitt mir erst einmal den Zopf ab. Lautlos fiel er ins Waschbecken und rutschte sanft in Richtung Abfluss. Es hätte mich keineswegs gewundert, wenn er angefangen hätte zu zappeln wie ein Aal, um seinem Schicksal, dem Flug in den dunklen Mülleimer, zu entgehen.

Es war erst halb acht. Erstaunlich für meine Verhältnisse! Um neun musste ich erst im Copyshop sein. Es war also noch genügend Zeit für ein Frühstück mit Amanda und einen Besuch in Schecks Wohnung.

Gerade war die Sonne hinter den Dächern der Nachbarhäuser hervorgekrochen und tauchte meine kleine Küche in ein wohliges Gelborange. Es ging mir gut. So gut, dass ich vor lauter Euphorie beinahe Maras Nummer gewählt und sie spontan zu Spiegelei, Toast und schwarzem Kaffee eingeladen hätte.

Ich begnügte mich mit Haferflocken, Milch, einem Apfel und Tee. Sollte es jemals in meinem Leben noch einmal ein Frühstück mit Mara geben, würde ich hundertjährigen Champagner, vergoldeten Kaviar und Trüffelsahne auftischen.

Das kleine Radio in der Fensterbank plärrte Kids of America von Kim Wilde und Amanda wollte raus gelassen werden. Das behagte mir gar nicht. Ich hatte Angst, dass sie nicht zurück kam. Vorsichtshalber ließ ich den Fensterflügel in der Küche einen Spalt weit offen stehen.

Um zehn vor acht verschloss ich meine Wohnung und stieg die Treppe zur Hausmeisterwohnung hinab.

Alles sah aus wie gestern. Das Sprüchlein hing noch immer an der Wand, der Spiegel war nicht gesprungen und der Küchenstuhl lag noch immer umgefallen auf dem Boden. Es roch nach kaltem Kohl, Wäschepulver und ausgeblasenen Kerzen.

Die Kerzen!

Im Fensterbrett fand ich eine Schachtel Streichhölzer. Ich zündete eins an und hielt es nacheinander an die sieben Kerzendochte. Die siebte Kerze brannte, ganz knapp bevor die Flamme des Zündholzes meinen Finger versengte. Mehr als sechs Kerzen mit einem Zündholz! Rekord!

Ich setzte mich auf den Stuhl, auf dem Frau Scheck gestern mit ihrer fettigen Küchenschürze gesessen und mir die Hände geknetet hatte. Ich sah aus dem Fenster. Romantische Candlelight-Atmosphäre kam nicht gerade auf, an einem sonnigen Augustmorgen wie diesem! Ich wartete.

Zwei Minuten. Drei Minuten. Zehn Minuten.

Nichts.

Kein Windzug. Niemand unsichtbares blies die Kerzen aus. Keine Nebelerscheinung zeigte sich auf dem Stuhl gegenüber.

Was hatte ich erwartet? Gespenster waren unberechenbar. Und genau das machte sie so  gruselig.

Es ging auf halb neun zu. Zeit die Kopiervorlagen zusammen zu packen, und zur Arbeit zu radeln. Schecks Geist musste noch ein wenig auf seine Erlösung warten.


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