1. Kaffee, Kuchen und ein Korb
Der Spätsommer zeigte sich von seiner prächtigsten Seite. Ich konnte nicht meckern.
Es war warm. Das Wasser des Stausees funkelte wie Abermillionen Glassplitter. Vor mir auf dem runden Tisch stand ein imposantes Stück Mandarinentorte. Daneben eine große Tasse dampfender Milchkaffee. Ich war jedoch nicht wegen des Kuchengedecks im Café Sösedamm.
Ich sprach den Kellner an, der sich gerade an meinem Tisch vorbei mogeln wollte.
„Ist Mara da?"
Der junge Mann war neu. Glatt rasiert, pomadiges Haar. Pickel am Hals. Ich hatte ihn hier noch nie gesehen. Er musterte mich von oben bis unten wie ein Stück angeschwemmtes Totholz.
„Sie hat Spätschicht. Ab fünfzehn Uhr."
Ich sah auf meine Uhr. Ein Sahnespritzer hatte sich darauf verirrt. Wenn ich die Torte langsam löffelte und den Kaffee gemächlich schlürfte, würde die halbe Stunde wie im Fluge vergehen. Der Neue beugte sich zu mir herunter. Sein billiges Aftershave kroch mir in die Nase.
„Ob Mara Zeit für sie hat ist jedoch fraglich!"
Er zog die rechte Augenbraue hoch. Bewundernswert. Auch nach mehrjährigem Training hatte ich diese coole Art der Muskelkontrolle nicht hinbekommen.
„Der Laden ist voll heute."
Na klar, dachte ich, und sah mich auf der nur halb gefüllten Terrasse um. Wahrscheinlich hat es ein Auge auf sie geworfen, das Würstchen.
Noch einmal sah er mir mit geringschätzigem Blick auf den Haaransatz. Dann drehte er sich um und eilte zu einem anderen Tisch am Ende der Terrasse, wo eine weißblondierte Seniorin ihren mageren Arm gehoben hatte, an dessen Handgelenk zahlreiche Goldreifen das Licht der untergehenden Sonne reflektierten.
Ich starrte auf mein Tortenstück und hatte plötzlich keinen Appetit mehr. Eine späte Wespe flog heran , drehte ihre Runden um meinen Tisch und versuchte sich auf den Rand der Kaffeetasse zu setzen. Panisch, mit einer irre schnellen, ruckartigen Bewegung schob ich meinen Stuhl eine Armlänge nach hinten.
Die Wespe war schon schrecklich gewesen, doch das Brüllen hinter mir ließ mich vollends zusammenfahren.
„Verdammte Axt! Haben sie keine Augen im Schädel ...?"
Der Nachbartisch war näher als gedacht, und im nächsten Augenblick stand ein breitschultriger Kerl mit Halbglatze und Schaufelhänden vor mir. Auf Brusthöhe zierte ein riesiger Kaffeefleck sein kurzärmliges Baumwollhemd. Die Gesichtsfarbe des Riesen ließ nichts gutes erwarten. Nicht einmal die piepsige Stimme seiner Begleiterin hielt ihn davon ab mir grob in die Jacke zu fassen. Er knurrte durch seine gebleichten Zähne, die unnatürlich ebenmäßig waren. Keine Ahnung warum, aber das Wort Blendax schoss mir durch den Kopf.
„Du dreckiger Gammler wirst mir das bezahlen!" Dabei zeigte er auf das eingestickte Logo auf seinem Hemd. Ich versuchte es zu erkennen. War das ein Hase, ein springendes Pferd oder ein Feuer speiender Löwe?
Blendax roch aus dem Mund, und es war ganz offensichtlich: er mochte mich nicht. Gut, die Haare hatte ich längere Zeit nicht gewaschen. Und einen Zopf trug heutzutage auch kaum jemand mehr. Vielleicht lag es aber auch an meinem muffigen Bundeswehrparka aus dem Nato-Shop.
Der Typ riss mich hoch und ich hörte eine Naht reißen.
Der junge Kellner eilte herbei und rief etwas. Das Frauchen am Nachbartisch kreischte: „Dennis! Lass ihn doch. Lass ihn doch!"
Dann eine Engelsstimme. Sanft und weich, lockend und verheißungsvoll:
„Lupo! Was soll der Scheiß?"
Mara!
War die halbe Stunde schon vorbei?
Ohne Schwierigkeiten, scheinbar schwerelos schob sich meine Retterin zwischen den Blendax-Riesen und mich, und brachte ihn dazu mich loszulassen. Er schnaubte wie ein wilder Stier, beruhigte sich aber als er Maras blonde Löckchen bemerkte.
Ohne ein Wort zu verlieren packte sie mich am Ärmel und zog mich von der Terrasse. Erst als wir auf dem Parkplatz vor dem Café angekommen waren, sah sie mich wieder an.
„Verdammt noch mal Lupo, was machst du hier?"
„Kaffee und Kuchen genießen."
Sie sah mich mit zusammen gekniffenen Augen an. Ihr Mund war nur noch ein dünner Strich.
„Und was war das mit dem Kerl da eben?"
„Dem Blendax-Riesen? Ich habe ihn angerempelt. Aus Versehen. Ist komplett ausgerastet. Wegen ein bisschen Kaffee auf dem Designer-Hemd!"
Auch Mara verfügte über das Talent die Augenbraue hochzuziehen, ohne dass sich irgendetwas anderes in ihrem Gesicht bewegte. Bei ihr sah es beinahe noch imposanter aus. Ich schmolz dahin.
„Waren wir uns nicht einig, dass du dich hier nicht mehr blicken lässt? Mensch, Lupo! Auch deine Briefchen und die Blumen kannst du dir schenken!"
Über ihre Augäpfel legte sich ein nasser Film. Wohl nicht aus Trauer. Eher aus Wut. Oder aus Enttäuschung? Im Falle von Enttäuschung war noch nicht alles vorbei. Da ließ sich noch was machen.
„Guck dich mal an. Bist völlig abgerissen. Was ist los mit dir?"
Sie hatte Recht. Mein Parka stank, die Hose war am Knie praktisch nicht mehr vorhanden und meine Stiefel waren völlig verschlammt. Von meinen Fingernägeln ganz zu schweigen. Ich versuchte es mit einer unverfänglichen Formulierung.
„Ich war zwei Tagen nicht zu Hause."
„Wissenschaftliche Nachforschungen im Stadtwald?"
Ich nickte. Dabei sah ich auf ihre kleinen Füße in den hübschen Riemensandalen.
Sie kannte mich. Gleich würde sie mich fragen was ich da getrieben hatte.
Was für eine Frau!
„In zwei Wochen erscheint die erste Ausgabe. Soll ich sie dir vorbei bringen?"
Sie schüttelte heftig mit dem Kopf.
„Keine so gute Idee. Die Kollegen reden schon. Lupo, ich brauche den Job hier, verstehst du!"
„Dann bringe ich dir das Heft nach Hause."
Sie verzog das Gesicht.
„Eine noch schlechtere Idee! Lupo, ganz ehrlich, ich will mit deinen komischen Monsterjägerfreunden nichts zu tun haben!"
Ich spielte an meinen Fingernägeln herum. Sie sahen wirklich erbarmungswürdig aus. Ich brauchte dringend eine Dusche.
„Mein Rucksack steht noch auf der Terrasse. Und die Torte, und mein Kaffee."
Mara sah mich sehr ernst an. Und irgendwie auch wieder nicht. Irgendwie doch liebevoll. Aber auch streng.
„Du wartest hier. Ich bringe dir die Sachen raus."
Wenige Minuten später kam sie zurück. Über der Schulter meinen Rucksack. In der Hand einen Pappteller mit Aluabdeckung. Den Rucksack stellte sie neben mein Fahrrad auf die Erde, den Pappteller auf den Sattel.
„Alles Gute für dich. Meine Schicht fängt gleich an."
Gleich näherte sie ihr Gesicht dem meinen, spitzte den vollen Mund mit dem zartrosa Lippenstift und ...
Kein Kuss. Keine Umarmung. Nicht mal eine Andeutung.
Das war es dann wohl.
Ich sah ihr nach. Eigentlich hatte ich sie zum Essen einladen wollen. Heute vor drei Jahren waren wir uns zum ersten Mal begegnet. Im CARTOON, dieser ranzigen und leider einzigen Discothek am Ort. Wir hatten beide schon mehrere Starfighter intus, als wir uns morgens um halb zwei tiefer in die Augen zu schauen begannen.
Wie konnte sie das vergessen haben?
Damals hatte ich noch keine Pappmachémonster fotografiert und die Bilder an irgendwelche freakigen Selbstverleger-Magazine verscherbelt. Tja, die liebe Not trieb einen sonst wohin. Auch in die Arme solch merkwürdiger Vögel.
Ja, ich gebe es zu. Unser letztes gemeinsames Essen im Jägerstübchen vor zwei Jahren war in die Hose gegangen. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Das Pommesfett musste wochenlang nicht ausgetauscht worden sein. Der Wirt hatte es später auf Nachfrage eingestanden. Eine ganze Nacht waren Mara und ich nicht vom Klo herunter gekommen.
Danach hatte sie mir verkündet, dass das mit uns nichts werden würde. Ich verstand es bis heute nicht. Was konnte ich denn für das ranzige Fett?
Okay, im Jägerstübchen hatten Kontrolleure schon vor Jahren vergammelte Lebensmittel entdeckt, woraufhin der Laden für ein halbes Jahr schließen musste. Doch seitdem war alles wieder in Ordnung, was mir Sven, der dort regelmäßig aß und manchmal beim Spülen half, versichern konnte.
Den Kuchenteller konnte ich weder in den Rucksack stecken, noch auf den Gepäckträger klemmen. Also sah mich nach dem nächstgelegenen Mülleimer um.
Es wurde dunkler. Am Himmel waren Wolken aufgezogen. Das Glitzern auf dem Stausee hatte nachgelassen, das Wasser hatte erneut seine graue Farbe angenommen.
Ich fuhr über den Staudamm, und musste einige Male abbremsen um Fußgängern auszuweichen. Einmal wäre ich beinahe auf dem krümeligen Kiesweg gestürzt. Ein Mann mit kratziger Raucherstimme schrie mir nach, dass Radfahrer hier abzusteigen hätten. Ich zeigte ihm den Mittelfinger und war froh dass wir schon zu weit voneinander entfernt waren, als dass er mich vom Rad boxen konnte. Er hatte eine kräftige Statur gehabt. Hundertdreißig Kilo Mindestgewicht. Mit Wutbürgern war nicht zu spaßen, das hatte ich heute schon einmal erfahren müssen.
Nachdem meine erste Leidenschaft für heute passé war, dachte ich an meine zweite Passion, meine Fotokamera, die tief unten im Rucksack zwischen Müsliriegelpapier und schmutzigen Unterhosen steckte. Der Abend würde zeigen ob die Aufnahmen etwas geworden waren.
Das Entwickeln von Bildern war wie eine Schatzsuche. Nie wusste ich vorher, ob ich am Ende etwas Glitzerndes in der Hand hielt oder bloß in ein leeres, dunkles Loch starrte.
Ich war ungeduldig wie lange nicht mehr und konnte es kaum erwarten wieder zu Hause zu sein. Also trat ich in die Pedalen und fuhr so schnell ich konnte hinunter in die Stadt.
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