Kapitel 6
A m a r a
Irritiert sah ich Luon soeben dabei zu, wie er versuchte, sich zwischen zwei hübschen Kleidern zu entscheiden. Das linke Kleid in seiner Hand war gelb und grün, sehr schlicht von den Farben her, besaß einen tiefen V-Ausschnitt und einen verspielten Look. Das andere Kleid war schwarz, langärmlich und sehr enganliegend. Doch er hing beide Kleider kopfschüttelnd wieder zurück und zog eine Grimasse.
Ja, wir waren im Moment shoppen. Und ja, dieser Vorschlag kam tatsächlich von ihm und ja, er war derjenige, der mir meine Klamotten aussuchte.
Die Tatsache, dass das ein Fremder war, hatte ich bereits vergessen, denn mit Luon fühlte es sich an, als würden wir uns schon länger - beinahe ewig - kennen.
Amüsiert sah ich dem jungen Mann, über den ich kaum etwas wusste, weiter dabei zu, wie er zunächst mich und dann ein rotes, seidiges, Abendkleid betrachtete und zielstrebig zu diesem lief.
Es sah schrecklich aus, aber ich war viel zu höflich, ihm das zu sagen, also wartete ich geduldig bei der Kabine, bis er mir das Kleid in die Hand drückte und zwei weitere darauf lagen.
»Woher kommst du eigentlich, Luon?«, fragte ich nebenbei und zog den grauen, schweren Vorhang vor mir zu, sodass sein Lächeln dahinter verschwand. Grinsend drehte ich dem Vorhang den Rücken zu und betrachtete mein gerötetes Gesicht in dem starkbeleuchteten, großen Spiegel vor mir.
Schnell zog ich meine Klamotten aus, schlüpfte zunächst in das Rote mit dem gewagten Ausschnitt und der stark figurbetonten Form. Gerade, als ich mich im Spiegel betrachtete, sagte er: »Ursprünglich nicht von hier. Meine Eltern wohnen in einem Haus am See, ich mittlerweile hier, in einer kleinen Wohnung um die Ecke.«
Erstaunt darüber, dass er mir endlich einmal etwas über sich verraten hatte, hielt ich die Luft an und musterte mich in dem integrierten Spiegel der Kabine weiterhin ausgiebig, während meine Hände über den seidigen, glänzenden Stoff fuhren. Meine blauen Augen nahmen skeptisch den Ausschnitt und die Form des Kleides genauer unter die Lupe.
»Wie sieht es aus?«, wollte Luon ungeduldig wissen und eine Sekunde, nachdem er das gefragt hatte, zog er ohne Weiteres den Vorhang beiseite und seine Augen wurden schlagartig größer, was mich rot werden ließ.
Gefiel es ihm doch nicht an mir?
Unsicher strich ich eine blonde Strähne hinter mein Ohr und lächelte scheu, während ich seine dunklen Augen durch den Spiegel betrachtete, die mich inspizierten.
»Ich dachte das sieht besser aus, aber es ist ganz okay«, kam die knappe Antwort und mein Mund öffnete sich wie von selbst. Bitte was?
Ich wusste ja, das Kleid war schrecklich, aber mit so einer ehrlichen Antwort hatte ich dennoch nicht gerechnet, aber es gefiel mir, dass er ehrlich war. »Na herzlichen Dank«, sagte ich grinsend, musste wegen seines Lächelns aber dann doch herzhaft lachen. Anschließend zog ich den Vorhang zu und zog das nächste Kleid - ein hellblaues ohne Träger - über und begutachtete es mit grunzelter Stirn. Mit den Fingern fuhr ich mir durch mein offenes Haar und empfand das Kleid an mir als hübsch.
Als ich erneut den Vorhang beiseiteschob, war Luon verschwunden und ich schüttelte amüsiert den Kopf. Statt auf mich zu warten, kramte er zwischen farbigen Blusen herum. Ob es ihm Spaß machte?
»Luon?«, hakte ich zielstrebig nach und sein Blick richtete sich ruckartig auf mich, während ein Daumen zeitgleich in die Höhe schoss und er mit seinen Lippen das Wort ›perfekt‹ andeutete.
Und so ging diese Shoppingtour weiter, bis ich zwei volle Taschen hatte und Luon ebenfalls einige Dinge für sich gekauft hatte. Darunter neue Unterwäsche, die unbedingt von Calvin Klein sein musste, T-Shirts und ein paar schlichte Jogginghosen.
Gerade schlenderten wir entspannt auf seinen kleinen Wagen zu, Luon öffnete den Kofferraum mithilfe seines Schlüssels.
Wir legten unsere Taschen hinein und in dem Augenblick, als ich einsteigen wollte, hielt Luon mich an meinem Handgelenk sanft fest und ich drehte mich mit forschendem Blick in seine Richtung.
»Wie wäre es, wenn du und ich uns mal besser kennenlernen?«, flüsterte der junge Mann leise, was mich verwirrte.
»Wie kommst du da jetzt drauf?«, hakte ich nach und lehnte mich gegen die hintere, kalte Tür des dunklen Wagens.
Ich hatte nicht erwartet, dass er auf mich zukam, was das Thema anging, aber es freute mich. Ich wollte gerne mehr über ihn wissen, denn er schien jemand zu sein, den ich von Anfang an in mein Herz geschlossen hatte. Ob ich wollte oder nicht.
Luon schob daraufhin seine Hände in die vorderen Hosentaschen und stellte sich leicht breitbeinig vor mich hin, während mich seine schönen Augen eindringlich beobachteten.
»Weil du und ich so etwas wie Freunde sind, korrekt? Vielleicht ja für kurze Zeit ein Pärchen?«, er grinste boshaft und wackelte vielversprechend mit den Augenbrauen. Schnaubend lachte ich.
»Der Deal? Luon, im Ernst? Ich dachte, das war ein Witz«, meinte ich und übersprang so gesehen die erste Frage. Waren wir Freunde? Nach so kurzer Zeit?
Das wäre schön. Ein Freund, der mir Beistand leistete. Obwohl ich auch Eve hatte, wollte ich sie dennoch nicht auf meine Seite ziehen oder sonstiges. Hier ging es immernoch um ihren Bruder.
Ich entfernte mich von Luons dunklem Auto und verschränkte die Arme vor der Brust. Dabei sah ich ihn eingehend von oben bis unten an.
»Das war mein völliger Ernst. Und meine Güte, wenn man vom Teufel spricht«, murrte er und sein Blick richtete sich auf etwas hinter mir, weswegen ich mich sofort versteifte, als eine große Hand sich auf meine Schulter legte und die Person vertraut zudrückte.
Kacke, musste er mich denn immer anfassen?
»Amara«, hörte ich ihn flüstern und schloss die Augen kurz, während der Blick von Luon immer intensiver wurde und mich förmlich durchbohrte.
Langsam drehte ich mich um und sah Nathaniel dabei zu, wie er seine Hand von meiner Schulter entfernte und mich sanft anlächelte. Verdammt, er sah so schön dabei aus. So perfekt, so falsch.
Seine markanten Gesichtszüge waren etwas versteift, seine Lippen zu einer schmalen Linie gepresst und seine, sonst so frische, Hautfarbe war heute sehr blass. Seine Kieferpartie war zum Zerreißen angespannt. Etwas in mir machte sich Sorgen um ihn.
Trotzdem versuchte ich, die Kontrolle zu behalten und fragte möglichst neutral: »Was tust du hier, Nate?«
Der schwarzhaarige Mann fuhr sich durch die weichen Haare und warf einen prüfenden Blick auf Luon, bevor er mich liebevoll musterte, was mein Herz schneller schlagen ließ.
»Ich habe dich gerade eben im Laden gesehen und wollte fragen ob das Treffen heute Abend noch steht? Vielleicht in dem niedlichen Restaurant, am Waldrand?«, überfiel mich mein Ex-Verlobter und es fiel mir schwer, zu schlucken. Luon hinter mir räusperte sich und der Blick von Nate und auch mir richtete sich auf ihn, während die schönen braunen Augen von Luon nur mich anstarrten, als sei ich geisteskrank.
Mit den Lippen formte er ein ›Ich kann dir helfen‹, bevor er sich an Nathaniel wendete und auf meine Einwilligung wartete.
Luon? Was meinte- Der lächerliche Deal, natürlich.
War ich denn bereit, ein neues Leben zu beginnen? Nathaniel hinter mir zu lassen und mich auf mich selbst zu konzentrieren? Sollte ich einen Deal eingehen, den normale Menschen nicht eingehen würden? Mit einem Menschen, den ich kaum kannte?
»Baby, bitte. Ich vermisse dich. Melissa hat mir nie etwas bedeutet, echt nicht. Gib mir eine Chance, es dir zu beweisen. Wir machen doch alle mal Fehler«, wiederholte er und ignorierte von dort an Luon vollständig. Er wusste, er hatte mich in seiner Hand. Er wusste, ich würde ihm aus den Händen fressen.
In meiner Brust begann mein Herz schmerzhaft zu klopfen und meine Gedanken überschlugen sich rasant. Die Bilder dieser Nacht durchfluteten meine Erinnerungen.
»Sie will nichts mehr von dir wissen, wie blind bist du eigentlich?«, erklang die bedrohlich ruhige Stimme von Luon und zum ersten Mal war ich dankbar für seinen Kommentar, denn ich wäre weich geworden und hätte nachgegeben, wie so oft.
Obwohl er mit Marissa oder Melissa oder wie auch immer sie hieß, geschlafen hatte. Mehrfach und seit mehreren Wochen was mit ihr am Laufen hatte. Wochen. Aber ich hatte noch immer Herzklopfen, wenn ich ihn sah. Ich hatte noch immer den Wunsch, seine Lippen auf meinen zu spüren, obwohl mein Verstand strikt dagegen war, stand mein Herz noch immer zwischen zwei Stühlen stand.
Jetzt war ich an der Reihe, ihm eins auszuwischen und mit Luons Hilfe würde ich das schaffen, aber im Moment war ich noch nicht bereit dafür. Ich griff nach der warmen Hand von Luon, der mich mit seinem hübschen Lächeln irgendwie aus dem Scherbenhaufen zog. Es war unglaublich, dass so eine fremde Person so viel mit mir anstellen konnte.
»Sie ist nicht so jemand, der sich sofort jemand Neuen sucht und mich vergisst, Cooper. Und erst recht niemanden, der in einem billigen Schuppen arbeitet, keinen Stil besitzt und tätowiert ist«, spottete Nate angewidert, was das Fass zum Überlaufen brachte.
Moment. Woher wusste er das alles? Woher wusste er den Nachnamen von Luon? Ob er mich etwa stalkte?
Die Wut ließ mich diesen Aspekt vergessen, als ich bemüht leise und voller Hass sagte: »Okay, einverstanden. Wir treffen uns am Abend im Restaurant. Aber ich möchte nicht über diese verdammte Beziehung reden, nicht auf offener Straße.«
Ich drehte den beiden den Rücken zu, als ich die Tür des Wagens öffnete und mich hineinsetzte.
»Luon, ich möchte nachhause, bitte«, murmelte ich antriebslos und rieb mir die erhitzte Stirn. In mir war so ein Chaos. Nate war ein toller Mann, aber dieser Fehler war zu schwerwiegend.
Wie stellte er sich das vor? Als ob ich ihm je wieder so vertrauen könnte, wie vor alledem. Es würde nie wieder so sein, wie es einmal war, damit musste er klarkommen.
• • •
Nachdem der Lockenkopf und ich bei mir zuhause angekommen waren, bot er mir an, eine Weile zu bleiben, aber ich lehnte dankend ab, denn ich musste zunächst einmal mein Gedankenwirrwarr ordnen und bis zu dem besagten Abendessen würde es ein Weilchen dauern.
Nun ja, aber abwimmeln ließ sich der nervige Typ leider auch nicht, also seufzte ich ergeben und setzte mich genervt neben ihn auf das Sofa, welches er zur Hälfte in Beschlag genommen hatte.
Gerade als ich es mir bequem machen wollte und seine Nähe nicht mehr zu nervig empfand, schnappte Luon sich meine Beine und legte sie über seinen Schoß, während er stumm die gelbe Kerze auf meinem kleinen Tisch betrachtete, die als einzige eine Art Dekoration darstelle.
Das Gefühl von seinen Händen an mir war ungewohnt, aber nicht unangenehm. Er war warm und sanft, als er meine Waden und Füße leicht massierte. Zunächst war ich verkrampft bei dieser Geste, doch ich entspannte mich zunehmend, lehnte mich ganz zurück und schloss leicht die Augen als ich mich daran gewöhnt hatte. Er konnte das wirklich gut, obwohl es eigenartig war, dass er das überhaupt tat.
»Luon?«, flüsterte ich ruhiger und versuchte dabei meine Gedanken an Nathaniel einfach mal zu vergessen - und es gelang mir tatsächlich.
»Hm?«, erwiderte er ebenso leise und verstärkte den Druck an meinen Fußsohlen, was mich zum Zusammenzucken brachte, da ich dort kitzlig war. Er passte seinen Druck wieder an und wanderte nach oben zu meinen Knien und wieder hinab.
»Wie alt bist du eigentlich?«, fing ich vorsichtig an, ein paar weitere Informationen aus ihm herauszuquetschen, ohne zu aufdringlich zu wirken. Ich wollte wenigstens ein paar Dinge über den Mann mit dem eigenartigen Verhalten und den schönen Tätowierungen, wissen. Und seien es nur Standardfragen wie seine Lieblingsfarbe und der Kram.
Ob er noch mehr Tattoos als die Schwalbe, den Löwen und die Gitarre besaß?
»21 und du, Amara?«, ging er auf meine Frage überraschenderweise ein. Leicht öffnete ich meine Augen und schielte zu ihm, nur um festzustellen, dass er mich intensiv musterte.
Schluckend und völlig in seinen Bann gezogen, sagte ich: »22.«
Er war tatsächlich ein Jahr jünger als ich? Damit hätte ich nicht gerechnet. Er wirkte so reif - wenn er nicht gerade von dem Deal sprach. Luon grinste mich kurz an, bevor er mir in die entspannte Wade kniff.
»So alt schon, Blondie?«
Seine Sticheleien quittierte ich mit einem minimalen Augenverdrehen und fragte ihn langsam weitere unscheinbare Dinge.
Es stellte sich heraus, dass Luon Cooper keine Geschwister hatte, seine Eltern anscheinend sehr liebevoll waren und er einen guten Draht zu seinem Opa hatte, welcher nach dem Tod seiner Frau nach Schweden ausgewandert war. Auch schraubte Luon neben dem Kellnern im Diner gelegentlich an Oldtimern und las gerne Fantasyromane.
Hin und wieder kamen ein paar Gegenfragen und solche Fragen wie ›Weshalb hilfst du mir?‹ und ›Weswegen warst du an jenem Abend bei dieser Sackgasse?‹, ›Hast du eine Freundin?‹, beantwortete Luon erst gar nicht, sondern blickte mich etwas desinteressiert an.
»Woher kennt Nathaniel deinen Nachnamen?«, war meine letzte Frage für heute, während ich gespannt auf seine Antwort wartete.
Doch stattdessen erstarrte er plötzlich und sah mich verwirrt an. Seine Hände entfernten sich von meinen Beinen.
»Kannst du bitte damit aufhören?«
Er klang genervt und die lockere Art, des sonst so aufgeschlossenen Mannes, war auf einmal verschwunden und stattdessen war da diese Wut, die mich tatsächlich stutzig machte und etwas kränkte.
Was war an dieser Frage so falsch? Sie war doch völlig normal, oder etwa nicht?
Es hatte mich eben nur gewundert.
Ergeben hob ich die Hände in die Luft, doch da war er bereits, wie von der Tarantel gestochen, aufgesprungen und hatte ohne ein weiteres Wort meine Wohnung verlassen und mich verblüfft zurückgelassen.
Scheinbar hatte ich mit diesen Fragen einen wunden Punkt bei Luon Cooper getroffen.
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