Kapitel 4
A m a r a
»Was war das?«, rief Eve perplex und ich schob ihr reflexartig die Hand vor den geöffneten Mund und zog sie in die Wohnung, wo sie ihre violettfarbene Lederjacke und die schwarzen Schuhe auszog und mich dann wieder ernst ansah.
»Hast du Nate jetzt mit diesem Lucas betrogen?«, hakte sie nach und ich sah sie empört an.
»Eve, nein! Außerdem heißt er Luon, aber nein. Wir hatten nichts«, sagte ich lauter, als gewollt und sie hob beschwichtigend ihre Hände in die Höhe.
»Schon gut, schon gut. Es ist trotzdem hart zu hören, dass der eigene Bruder so ein Flittchen ist. Lief es bei euch nicht mehr gut? Das klingt alles so absurd, ich versteh' es einfach nicht«, seufzte sie enttäuscht und fuhr sich mit der Handfläche über die in Falten gelegte Stirn und anschließend über die rechte Wange, welche leicht rot schimmerte. Sie wurde immer rot, wenn sie etwas belastete oder sie Stress hatte.
»Es lief toll, sowie immer eben. Er hat mich ausgeführt, wir hatten oft schöne Nächte miteinander, aber er war öfter als sonst unterwegs, vorzugsweise ohne mich«, erklärte ich so neutral wie nur irgendwie möglich und bewegte mich zu dem Sofa zurück. Dass mich diese Erkenntnis erst nach der Trennung überkam, wunderte mich, denn sonst war ich eigentlich ein sehr aufmerksamer Mensch. Dass ich diese wichtigen Details übersehen hatte, machte mich unglücklich.
Seufzend plumpste ich auf das Sofa und Eve nahm kurze Zeit später den Platz neben mir ein.
Sie lehnte sich vor, stützte das helle Gesicht auf ihre Hände und ihre Ellenbogen auf die Oberschenkel, während sie wie in Trance immer wieder den Kopf schüttelte. Fassungslosigkeit machte sich in ihrem hübschen Gesicht breit, als sie realisierte, dass das kein Traum war, aus dem man erwachen konnte. Das hier war die Realität und ihr Bruder nicht der, für den sie ihn gehalten hatte.
»Was soll jetzt mit der geplanten Hochzeit werden? Mom und Dad werden ihn umbringen und deine Eltern werden wahrscheinlich auch nicht begeistert von eurer Trennung sein«, murmelte sie panisch vor sich hin und wurde zum Ende hin immer leiser, was meinen Herzschlag vorantrieb.
Die Hochzeit. Meine Mutter war ein totaler Fan dieser Beziehung und sehr überzeugt von Nathaniel. Er war der perfekte Schwiegersohn. Der Mann, den sie sich für mich gewünscht hatte.
Seufzend vergrub ich mein Gesicht wie Eve in den Händen und kämpfte förmlich mit meinen Gefühlen und Emotionen. Die Hochzeit hatte ich völlig verdrängt gehabt, doch gerade wirkte es so, als stürze meine Welt über mir ein.
Ich wollte nicht wieder in Tränen ausbrechen, irgendwann genügte es. Es machte mich kaputt und dennoch flossen sie unaufhaltsam. Eine warme Hand schob sich sanft reibend über meine steife Wirbelsäule.
Wie sollte ich das alles nur bewältigen?
»Süße? Das war rücksichtslos und einfach asozial. Bitte hör' auf zu weinen. Ich stehe hinter dir, auch wenn er mein Bruder ist. Aber sowas macht man einfach nicht. Ich bin für dich da, hörst du?«, flüsterte sie beruhigend an meinem Ohr und lehnte ihren Kopf auf meine Schulter.
Einige ihrer Strähnen kitzelten auf angenehme Weise einen Teil meines Gesichtes und verteilten die Tränenflüssigkeit in ihrem Haar und meiner gesamten Gesichtshälfte.
Es war unfassbar schön, das zu wissen und von ihr zu hören, dennoch musste ich tapfer bleiben.
Ich musste meinen Eltern ebenfalls beweisen, dass ich ohne Nathaniel leben konnte. Ob er ihnen bereits von der Trennung erzählt hatte?
»Okay, wir klären das lieber alles morgen in Ruhe. Jetzt erzähl' mir erstmal, wer das gerade war«, wechselte sie das Thema und lehnte sich ein Stück von mir fort.
Ihre zarten Fingerspitzen beseitigten die letzten Tränen und ich atmete ein weiteres Mal tief ein, bevor ich ihr von Luon erzählte und ihre Augen mit jedem Satz immer größer wurden.
»Und da hat er dich auf die Wange geküsst, obwohl du ihn so gut wie gar nicht kennst?«, platzte es erstaunt aus ihr heraus und sie schüttelte amüsiert den Kopf. Ich musste lächeln, als eine Stelle an meiner Wange angenehm zu prickeln begann – die Stelle, auf der seine Lippen gelegen hatten.
»Amara! So kenne ich dich ja gar nicht, dass du sowas zulässt... Interessant.«, versuchte sie überschwänglich grinsend, doch ich sah ihr an, dass sie es nicht guthieß.
Eve wollte mich aufmuntern mit dieser lockeren Art und ihrer gespielten Freude über meine lockere Bekanntschaft, doch die Enttäuschung gegenüber ihrem Bruder saß meiner besten Freundin tief im Nacken. Ein trauriger Ausdruck machte sich auf meinen Zügen breit.
»Wir waren das perfekte Paar, ich weiß. Aber es ist vorbei, Eve. Ich kann daran auch nichts ändern, auch wenn ich mir wünschen würde, es wäre nicht so gelaufen«, nuschelte ich gekränkt und die daraufhin folgende Stille war unerträglich, während wir uns intensiv ansahen. Ich hörte ihre gleichmäßigen Atemzüge und studierte ihr verzogenes Gesicht. Sie dachte nach, suchte den Sinn hinter Nathaniels Handeln, doch sie fand ihn anscheinend nicht, denn ihre Stirn legte sich erneut in Falten und sie schnaubte aufgebracht.
Ihre dunklen, fast schwarzen Augen erinnerten mich an die von Nathaniel.
»Würdest du ihm das denn verzeihen?«, fragte Eve und ihre Finger fuhren sanfte Kreise auf meinem Handrücken.
Könnte ich ihm so etwas verzeihen?
Es dauerte eine Weile, bis ich antworten konnte.
»Nein, ich denke nicht. Dafür sah es mir zu vertraut aus, er hat es nicht bereut, kein Stück. Zumindest sah er so glücklich mit ihr aus, Eve. Und so wie sie miteinander gesprochen haben, sich angelacht haben... «, seufzte ich und versuchte das schmerzende Stechen in meiner Brust, so gut es ging, zu ignorieren, aber es war trotzdem mein ständiger Begleiter: Draußen, auf der Straße, wenn Paare mir entgegenliefen, in Filmen, die die Liebe thematisierten, das Bild von ihr, als ich die Augen schloss.
»Und wann siehst du diesen Luon wieder?«, versuchte sie das Thema erneut zu wechseln, doch das funktionierte nicht. Klar, Luon war interessant, aber ob er für diesen Zeitpunkt passend war? Ich brauchte jetzt keinen weiteren Mann in meinem Leben, eigentlich.
»Er – Ich meinte, dass wir uns morgen sehen. In der Eile habe ich zugestimmt, ohne zu wissen, wann er auftauchen wird«, erklärte ich eine Spur ruhiger und der Schmerz verblasste leicht.
Für diesen Moment war nicht Nate mein einziger Gedanke. Schnaubend verschränkte sie die Arme vor der Brust.
»Was ist los?«, erkundigte ich mich neugierig und meine beste Freundin schmunzelte teuflisch, was mir für ein paar Sekunden tatsächlich Angst machte.
»Was du brauchst ist etwas Alkohol, ein sexy Outfit und andere Gedanken«, erklärte sie enthusiastisch und meine Augen wurden automatisch größer.
»Ich soll jetzt ernsthaft in einen Club und mir die Kante geben?«, fragte ich nicht gerade überzeugt. Meine blonden Augenbrauen zogen sich zusammen und Eve stöhnte leicht schmollend.
»Ich habe nicht gesagt, dass du dich ins Koma trinken sollst. Aber hab' einfach etwas Spaß, bevor du hier gammelst und in Selbstmitleid zerfließt. Liebeskummer ist einfach nur scheiße, Am«, sagte sie fachmännisch, doch ich schüttelte den Kopf stur.
Eves Blick wurde düsterer, jedoch schien es so, als würde sie mir meine Entscheidung nicht lange böse nehmen, denn sie lehnte sich wieder an mich und schloss ihre Augen.
Sie wusste, dass unsere Charaktereigenschaften bei so etwas weit auseinander ragten. Während sie ihre Sorgen herunterspülte, sich ablenkte oder ihren Schmerz überspielte, reflektierte ich mein Verhalten und das der anderen. Ich suchte den Sinn hinter jedem Schritt und das Motiv nach jeder Tat.
»Können wir meine Eltern anrufen? Ich möchte ihnen Bescheid geben, dass die Hochzeit nicht stattfindet«, flüsterte ich vorsichtig und Eve versteifte sich automatisch an meiner Schulter.
Übelnehmen konnte ich ihr diese Reaktion auf keinen Fall. Wie würde meine Mutter reagieren, wenn sie erfuhr, dass ihr liebster Schwiegersohn genau das nicht mehr war?
»Bist du sicher? Willst du nicht lieber noch etwas warten? Vielleicht morgen? Es ist immerhin schon spät«, die Unsicherheit in ihrer Stimme war deutlich zu erkennen, da sie an manchen Stellen leicht zitterte.
»Dann habe ich es hinter mir«, erwiderte ich und die Schwarzhaarige nickte langsam, also fischte ich mein Smartphone aus der Sofaritze zwischen uns beiden und wählte mit kalten Fingern die Nummer meiner Eltern.
Während das vertraute Geräusch des Rufaufbaus ertönte, starrten wir eisern mein Display an, welches das Gesicht meiner Mutter und ihre Nummer zeigte.
Nach dem dritten Klingeln nahm jemand ab und ich schaltete den Lautsprecher forschend an.
»Hallo?«, erklang die müde Stimme meiner Mutter, die dafür sorgte, dass der Kloß im meinem Hals immer größer wurde und ich unruhig hin und her wippte. Eve neben mir gab keinen Mucks von sich.
»Hey, Mom«, fing ich an und hörte sie am anderen Ende der Leitung tief Luft holen. Sie wurde hellhörig.
»Amara, was rufst du mich denn so spät an? Ist etwas passiert?«, wollte sie ohne Umschweife wissen und ich sah zu Eve, die meine Hand in ihre nahm und mir auffordernd und sanft zunickte. Ich blickte zu ihren blau lackierten Fingernägel und begann zu sprechen.
»I-Ich... Also, ich muss dir was erzählen«, stotterte ich nervös vor mich hin und biss mir frustriert auf die Unterlippe. Verdammt, warum musste das so schwer sein?
Meine Mutter schwieg eisern und ich konnte mir ihren ernsten Blick nur allzu gut vorstellen. Ihre grauen Augen, die sie zu Schlitzen zog und ihre geschminkten Lippen, die sie zu einer dünnen Lippe presste. Aufmerksam betrachtete ich meinen Flachbildschirm einige Meter weiter weg und anschließend schweifte mein Blick zurück zu dem Smartphone in meiner linken Hand.
Allerdings überraschte sie mich, als sie fragte: »Du bist schwanger, habe ich Recht?«
Oh Mom, sogar das wäre einfacher, dir zu erzählen, dachte ich hilflos und hätte um ein Haar gelacht. Ich schloss die Augen und schüttelte den Kopf.
»Nein, Mom. Nathaniel und ich haben uns getrennt«, hauchte ich erstickt und legte den Kopf in den Nacken, während ich krampfhaft meine Finger um Eves Hand legte, die mir diese entzog, um mich bekräftigend an der Schulter zu tätscheln. Sie stand mir bei und das tat so unfassbar gut. Einfach zu wissen, dass sie hier war, tat gut.
Ihre Augen wirkten gläsern, als würde sie sich dem Sinn meiner Worte erst jetzt bewusst.
Nathaniel und mich zusammen gab es nicht mehr, obwohl diese Beziehung mir gezeigt hatte, wie schön Liebe sein konnte. Wie schön Geborgenheit sein konnte. Wie schön es sein konnte, mit jemandem das Bett zu teilen.
»Amara, das ist jetzt nicht dein Ernst oder?«, flüsterte Mom fassungslos und ich schloss die Augen, um die weiteren Tränen zu unterdrücken. Nicht schon wieder.
Mein rechter Fuß zuckte unnormal stark.
»Doch, Mom. E-es tut mir leid, aber die Beziehung hat nicht mehr so funktioniert, wie wir es wollten«, murmelte ich enttäuscht und Eve rückte näher an mich heran. Ihr zierlicher Körper war steif und kalt. Sie schien überfordert zu sein und das war ich auch. Keiner von uns beiden wusste, wie wir reagieren sollten.
Wieder kehrte Stille ein und als ein Seufzen ertönte, bekam ich Gänsehaut.
»Ich... Wie geht es dir jetzt damit?«, wollte sie wissen und überraschte mich mit dieser Frage, dennoch sagte ich, ohne groß zu überlegen: »Schlecht. Ich wünschte, es wäre anders gelaufen, aber ich bin der Meinung, so ist es besser.«
Wieder brach Ruhe ein, bis Mom langsam und betont ruhig meinte: »Kopf hoch, Amara. Ich werde Nathaniel anrufen und mit ihm die Hochzeit erstmal abblasen. Dein Vater und ich können gerade nicht zu dir, weil uns Termine Zuhause halten, kommst du alleine klar?«
Wow, was?
»Mom, meinst du das ernst?«, hakte ich perplex nach und sah in Eves Gesicht, die mich genauso verwirrt anstarrte.
Solche Worte kannte ich von ihr nicht. Nicht, seit sie sich so mit Dad stritt. Und sie stritten schon lange.
»Natürlich, Amara. Aber ich möchte trotzdem, dass du versuchst, mit Nathaniel einen guten Kontakt zu pflegen. Hör' mal, ich muss jetzt wirklich auflegen, es tut mir leid, Schatz. Reden wir bitte ein anderes Mal darüber und richte Eve schöne Grüße aus. Wehe, deine Karriere leidet darunter, junge Frau«, mahnte sie mich und Sekunden später hatte sie aufgelegt und mich und meine beste Freundin erstaunt zurückgelassen. Wieso legte sie auf? War das alles? Ich... Sollte ich jetzt glücklich oder traurig über ihre Reaktion sein?
»Sie ist wirklich für Überraschungen gut. Sicher, dass das deine Mutter war?«, kicherte Eve, weswegen ich sie immernoch völlig neben der Spur ansah und den Kopf irritiert schüttelte.
»Sie wollte nicht einmal wissen, weswegen«, gab ich entrüstet von mir und Eve zuckte vorsichtig mit den Schultern, als sie erkannte, dass ich mit der Reaktion meiner Mutter nicht zufrieden war.
»Wahrscheinlich will sie es von meinem Bruder wissen oder persönlich von dir«, behauptete sie und ich nickte leicht, auch wenn ich mit den Gedanken noch bei meiner Mutter war.
Der restliche Abend verging erstaunlich schnell. Meine Freundin und ich schauten noch eine Weile irgendwelche Filme auf einem Sender, während Eve mich mit Tonnen an Popcorn vollstopfte. Irgendwann war ich so satt, dass ich mich auf dem Sofa ausbreitete, dabei Eve als menschliches Kissen benutzte und nach einer Weile eindöste.
Als meine schwarzhaarige Freundin dann gehen wollte, weckte sie mich und schickte mich, wie eine Mutter ihr Kind, ins Bett.
Dort angekommen war es dann nur noch eine Frage der Zeit, bis ich endlich einschlafen konnte, auch wenn der leere Platz neben mir ungewohnt war und mich in der Nacht frieren ließ. Ich vermisste Nate und war gleichzeitig froh, dass er jetzt nicht neben mir lag.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top