4. Kapitel - Rendezvous

Röcheln, Stöhnen, hörbares Ausatmen, dann... Ruhe.
Mühsam öffne ich die Augen und blicke mich verschlafen im Zimmer um. Gold-rot scheint das Licht der Sonne durch die großen Fenster und taucht alles, was von ihr er­fasst wird, in einen freundlichen Pfirsich-Farbton.
Ich reibe über meine Augenlider, als ich merke, dass sie vom vielen Wei­nen total verklebt sind.
Merkwürdig... Warum habe ich von diesem Ausflug am Strand geträumt?
Verschlafen schaue ich der untergehenden Sonne zu, wie sie sich langsam aber unaufhaltsam dem Horizont nähert.
Es ist schon so lange her... Diese unbeschwerte Zeit, denke ich voller Trauer und schließe die Augen. Es wirkt fast wirklich schon wie eine Illusion und nicht wie eine Erinnerung...
Beim Aufstehen habe ich große Mühe meine Beine in Bewegung zu brin­gen, weil sie eingeschlafen sind und die Blutzirkulation in den Knien durch das lange Hocken ziemlich lange unterbrochen wurde. Ich habe zuvor näm­lich neben dem Bett gekniet, Oberkörper auf dem Bett ausgestreckt, sodass mein Kopf auf dem Schoß meiner Mutter geruht hat. Noch immer habe ich das Gefühl, den leichten Druck ihrer Hand auf mei­nem Hinterkopf zu spüren.
Jetzt hellwach, betrachte ich sie, wie sie halb auf­recht sitzend schläft. Ihr Gesichtsausdruck wirkt friedlich, beinahe zufrieden. Im ersten Moment wirkt sie wie Dornröschen; als bräuchte sie nur ihren per­fekten Prinzen, der sie wach küsst, aber mir entgeht keinesfalls ihre schwa­che, flache Atmung.
Mein Herz krampft sich sofort zusammen, als sich mir der Gedanke auf­drängt, dass sie vielleicht schon sehr bald nie wieder jemals auch nur einen Atemzug machen wird.
Ich schüttele entschieden den Kopf und verdränge alle Gedankengänge in diese Richtung.
Lautlos schleiche ich mich aus dem Raum, nachdem ich vorsichtig die Vorhänge zugezogen habe, damit es nachher nicht heiß und stickig darin wird. Ein kurzer Blick auf die Uhr an der Wand links von mir genügt, damit ich weiß, dass ich eine ganze halbe Stunde zu spät bin. Schnell sprinte ich ins Bad, spritze mir Wasser ins Gesicht, um auch die letzten Reste meiner Heulattacke verschwinden zu lassen und gehe weiter in mein Zimmer. Dort liegen bereits meine Sachen für die Schicht im Rendezvous parat, sodass ich nichts weiter tun brauche, außer mich umzuziehen. Dadurch muss ich mich nicht lange mit der Suche nach den passenden Sachen aufhalten. Zu­sammen mit Bürste und Haargummi binde ich mir meine langen, goldigen Locken nach hinten zu einem am Hinterkopf anliegenden Zopf, schnell meine schwarzen Ballerinas angezogen und: Fertig! Ein kurzärmliges, luftiges, dunkelgraues Sweatshirt, eine schwarze, ungelöcherte Röhrenjeans und ich bin bereit für die Arbeit. Beim Rausgehen greife ich mir flink Jacke, Tasche und Haustürschlüssel und schlage einen etwas zügigeren Gang auf den Weg zum Rendezvous an.


Mona:

Gelassen trete ich an das Gebäude mit der riesigen Blinkreklame „Ren­dezvous" heran. Meine Augen tasten das Gebäude und deren Informationen schnell ab: Alt, es ist ziemlich alt sogar. Um die hundert Jahre muss das Grundgerüst sein, vielleicht wurde es auch schon Ende des 19. Jahrhun­derts gebaut, wer weiß? Das Holz hinter den Backsteinwänden ist löchrig, aber trocken und verdammt hart. Die Vorderseite mit dem Eingang zur Bar ist von oben bis unten mit Efeu bewachsen und verleiht dem Ganzen da­durch noch eine besondere Note. Die roten Blätter an der Hauswand passen perfekt zu dem alten Gemäuer. Die Fenster sind sauber und in weißen Rah­men eingefasst. Werden höchstwahrscheinlich einmal die Woche geputzt. Der Rahmen wird monatlich mit Holzleim eingeschmiert, damit es auch den nötigen Schutz gegen Regen hat.
Ich schließe die Augen. Mir tut mein Kopf weh. Das passiert nicht, weil diese ganzen Infos auf mich einströmen, sondern, weil diese dämliche Blin­kreklame mich stört. Dieses Teil ist so dermaßen protzig und kitschig, dass ich es am liebsten abschalten und abreißen würde. Das Ding nimmt fast die ganze Dachbreite ein. Welcher Idiot kommt also darauf dieses riesige, pin­ke, hässliche Teil dort ranzuklatschen?!
Ich reibe mir die Stirn und senke meinen Blick auf den Eingang. Neben der offenen, weißen Holztür steht ein kleines Tafelbrett mit der Aufschrift: Fridaynight – Jeden Freitag ab 18 Uhr einen Cocktail gratis für die Damen!
„Und hier soll sie wirklich arbeiten?" Schwer vorstellbar, dass sie das nervige Geblinke den kompletten Abend aushält.
„Sieht so aus. Es steht zumindest so in den Unterlagen, die uns Asuja mitgegeben hat.", antwortet Selene und mustert ihre Umgebung herablas­send.

Ich rolle die Augen. Wie kam Asuja nur darauf mich ausgerechnet mit Selene loszuschicken?
Sie wendet den Kopf und schaut mich aus zusammengekniffenen Augen an. „Und vergiss nicht", zischen ihre vollen Lippen. „Benimm' dich! Asuja hat uns ausdrücklich aufgetragen, so gut wie keine Aufmerksamkeit zu erregen. Stellst du irgendetwas an, dann leite ich das weiter und du bist hier weg vom Fenster!"

Ich bezweifle keinen Augenblick, dass sie es ernst meint. Eiskalte Zicke. „Ach was!", entgegne ich und tue ihre feindseligen Worte mit einer Handbe­wegung ab, wohl weißlich, dass sie das immer auf die Palme bringt. „Nun mach dir mal nicht ins Höschen. Du wirst mich schon noch lieben lernen, im­merhin müssen wir ja jetzt zusammen und nicht gegeneinander arbeiten." Ich grinse sie frech an und blinzele ihr unschuldig entgegen.
Sie schnaubt verächtlich. „Nur über meine Leiche!" Und mit diesen Wor­ten richtet sie ihren Blick wieder zur Bar und schreitet wie ein Model auf dem Laufsteg darauf zu, während ihre tiefschwarze Mähne um sie herumwirbelt. Etliche Männerblicke richten sich auf ihre Erscheinung, die frostig von ihr ignoriert werden. Ich seufze und wünsche mir manchmal heimlich auch so beachtet zu werden. Stattdessen bleibt mir nichts anderes übrig, als wie eine treue Gehilfin ihr hinter herzutrotten. Warum erinnert mich das nur so verflucht an Sherlock und Watson?


Selene:

Das Klacken der Absätze meiner kniehohen Winterstiefel ist trotz der Musik und den vielen Gesprächen der Leute überall zu hören. Ich lasse mei­nen Blick durch die Räumlichkeiten schweifen. Das gedämpfte Licht vermit­telt eine ruhige, gemütliche Atmosphäre, sodass die Pärchen sich in die hin­tersten Ecken setzen, damit sie ungestört fummeln können.
Ich suche den Raum nach einem freien Tisch für mich und Mona ab. Mir ist durchaus bewusst, dass sich viele Männerblicke auf mich richten, aber für mich hat das keinerlei Bedeutung. Links von mir begafft mich gerade ein junges Pärchen. Sie sind gerade einmal eineinhalb Monate zusammen, sie streiten sich täglich über das Thema Sex. Das Mädchen fühlt sich von ihm unter Druck gesetzt, sie will eigentlich noch nicht so früh, weil sie Jungfrau ist und ihre Hemmungen ihm gegenüber noch sehr groß sind, aber sein Hor­montrieb ist unersättlich, weswegen er sie bei jeder Gelegenheit begrabscht.
Ich stolziere an ihnen vorbei, auf den Tisch dicht neben der Theke zu. Er ist zwar schon besetzt, aber das werde ich gleich ändern. „Ist was?!", blafft mich die künstliche Gummiente von Teenager an. Sie ist vierzehn, kifft jede freie Minute und vögelt mit einem Kerl, den sie eigentlich gar nicht mag, in der Hoffnung, ihren Angebeteten damit eifersüchtig zu machen. Ihr Gesicht ist so voll gekleistert mit Schminke, dass sie jede Woche mindestens einmal alle Utensilien für die grauenhafte Maske nachkaufen muss. Ihr Gehirn ist noch immer ziemlich zugedröhnt von dem ganzen Gras, das sie inhaliert hat, und ich muss meine ganze Willenskraft aufbringen, nicht jeden Moment bei diesem Gestank loszukotzen. Ich stelle sie mir zwanzig Jahre später vor: Alt, faltig, gelbe, stinkende Zähne, tiefe Augenringe mit überdimensionalen Tränensäcken.

Ein selbstgefälliges Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus. Es ist wirklich amüsant zu sehen, wie diese unwissenden, dummen Menschen in ihr Verderben laufen und es nicht einmal bemerken. Ich stemme eine Hand in die Hüften und blicke sie und ihre drogensüchtige Emofreundin herablas­send an. „Es ist mir wirklich sehr unangenehm euch mitteilen zu müssen, dass ihr den Platz leider wechseln müsst."
„Sagt wer?", fragt sie provozierend und legt ihre Stirn in Falten – soweit das bei ihrem Gesichtskleister überhaupt möglich ist.
„Ich, und wenn ihr schön brav seid und eure süßen, kleinen Hintern woan­dershin manövriert, passiert euch auch nichts." Ich lächele kalt und streiche mir meine schwarzen Locken hinters Ohr. Sie fangen sofort an, wie dumme Hühner loszugackern. Diese Reaktion habe ich erwartet. Sie wissen nicht, wer bzw. was ich eigentlich bin. Sie sind zu unwissend und blind, um es zu erkennen. Sie haben nicht den blasses­ten Schimmer, dass sie mir gegenüber total hilflos sind.
Ich seufze dramatisch. „Ich hatte euch gewarnt" Blitzschnell packe ich das Gesicht der künstlichen Gummiente und richte ihren Blick mit Gewalt auf mich. Sie ist zu erschrocken über meine Handlung, als das sie sich hätte wehren können und schon ist sie so willenlos wie eine Stoffpuppe. Ich drin­ge in ihr Gehirn ein und pflanze dort den Wunsch, sich an einem anderen Tisch mit ihrer Freundin zu setzen und dort das fortzusetzen, was sie vor meinem Auftauchen begonnen haben. Ich lasse ihr Gesicht los und sie be­ginnt den von mir verpflanzten Auftrag auszuführen.
„Komm, wir setzen uns woandershin. Diese Freakshow ist mir echt zu be­kloppt." Mit diesen Worten ergreift sie die Hand des anderen Mädchens und geht mit ihr hinter die Theke zum anderen Raum.
Zufrieden schaue ich ihnen nach.
„Es ist nicht gerade das, was ich denke, oder?" Ich drehe mich um und begegne Monas Blick. Meine Antwort auf ihre Frage spare ich mir, sie weiß es so oder so schon.

Ohne ein Wort setze ich mich an unserem gerade eroberten Tisch und schlage die Speisekarte auf.
„Selene, ich rede mit dir!" Sie setzt sich mir gegenüber.

„Nerv nicht", entgegne ich gelangweilt und lese mir die Gerichte durch. Nicht gerade das, was ich bevorzuge, aber es gibt weitaus Schlimmeres.
Mona lässt die flache Hand auf den Tisch sausen, sodass die leeren Glä­ser kurz abheben und mit einem Klirren wieder auf der Tischplatte aufkom­men. Unsere benachbarten Gäste drehen sich erschrocken zu uns um.

„Verdammt nochmal!", schreit sie mich wutentbrannt an. „Du weißt ganz genau, wie die Spielregeln lauten!"
„Geht's auch etwas leiser?!" Ich klappe die Karte zu – meine Wahl steht fest. „Natürlich kenne ich die Regeln. Geistige Übergriffe auf Menschen sind nicht gestattet, mit Ausnahme von Selbstverteidigung. Sie wollten nicht frei­willig ihren Platz verlassen, also musste ich etwas nachhelfen, das ist alles. Sie hätten uns sonst an der Ausführung unseres Auftrages gehindert und das ist inakzeptabel."

„Genauso wie dein Egoismus, deine Hochnäsigkeit und die Tatsache, dass du eben gerade deinen Vorteil gegenüber Menschen ausgenutzt hast.", zischt sie und ihre grünen Katzenaugen sprühen Feuer, als sie mich angucken.
„Verpetz' mich doch, wenn dir meine Methoden zum Erreichen des Ziels zuwider sind.", säusele ich mit honigsüßer Stimme, lächele sie provokant an und bette mein Gesicht in meinen Händen. Sie ist kurz vorm Explodieren, das sehe ich ihr an. Nichtsdestotrotz ist sie viel zu stolz, um vor mir eine Szene zu machen.

„Nicht jeder ist so herzlos wie du und zeigt mit dem Finger auf die Makel und Schwächen anderer."
Mit einer Antwort in dieser Art habe ich gerechnet. Sie ist sehr leicht zu durchschauen. Ihr Hang zur Aussprache wird ihr irgendwann nochmal das Genick brechen.

„Schön, dann lass es entweder gut sein und akzeptier' meine Vorgehens­weise oder verpfeif' mich an den Rat und du kannst seelenruhig alleine Sa­mantha ausfindig machen und zwar so, wie es dir beliebt."
Meine Partnerin setzt gerade zu einer Erwiderung an, als neben uns plötzlich eine Kellnerin auftaucht. Sie ist klein und zierlich vom Körperbau und ihr schwarzer Bob mit den streng geraden geschnittenen Pony verleiht ihr etwas Kindliches, Junges. Mir springen ihre Narben an den Armen au­genblicklich ins Auge, die davon herrühren, dass ihr Vater ihre Familie sie vor kurzem verlassen hat, ihre Mutter deshalb mit ihren zwei jüngeren Zwil­lingsbrüdern total überfordert ist, sodass ihre Mutter ständig gereizt ist und Depressionen hat und ihr jede noch so kleine Schuld in die Schuhe schiebt und sie schließlich mit dem Ritzen angefangen hat.

Ich wende den Blick ab. Manche Menschen haben viele Hintergrundinfor­mationen, sodass es einen überfluten kann. Wir machen das nicht absicht­lich. Wir erfassen Äußerlichkeiten in Sekundenschnelle, das ist genau so wie mit Menschen, aber wir verarbeiten sie schneller. Hinzukommt, dass wir in Emotionen von Menschen lesen können wie in einem Bilderbuch. Das und die nicht verschlüsselten Gedankengänge vieler Leute führt dazu, dass wir sie scannen. Es kann einen verrückt machen, auf die Dauer so viele Ein­drücke von anderen zu bekommen. Deswegen halten sich unsere Art auch nur an menschenleeren, ruhigen Orten auf, um Zwischendurch auch mal abschalten zu können.
„Haben Sie sich schon entschieden?" Ihre Stimme hat einen beruhigen­den Klang. Sie lächelt uns ganz offenherzig an, was ihre dunkelbraunen, schwarz geschminkten Augen noch besser zur Geltung bringt.

„Einen Pina Colada"
Sie notiert es sich auf ihrem kleinen Block und schaut dann zu Mona. Ich sehe ihr an, dass sie immernoch sauer auf mich ist. Lächelnd wendet sie sich der Kellnerin zu und sagt: „Und für mich bitte ein Bier frisch vom Fass."

Sie ist schon dabei zu schreiben, als sie Mona verblüfft aus Rehaugen ansieht. Mir bleibt buchstäblich die Spucke weg. Was um Himmelswillen hat sie denn nun schon wieder vor? Sie ist keine Biertrinkerin. Dieses bittere Gebräu hat sie noch nie gemocht. Ich werde nicht aus ihr schlau. Verwirrt ziehe ich eine Augenbraue hoch und blicke sie fragend an.
Mona bemerkt das Zögern der Kellnerin. „Oder haben Sie so etwas nicht?"

„Doch, doch. Natürlich! Ein Bier vom Fass also. Kommt sofort!", antwortet sie, notiert sich Monas Wunsch flink und marschiert schnellen Schritts in die Küche.
„Was hast du vor?", raune ich und verenge die Augen. Mir ist das Ganze nicht geheuer.

Doch alles, was ich als Erklärung bekomme, ist ein scheinheiliges Lä­cheln und spätestens jetzt ist mir klar, dass das Bier lediglich Mittel zum Zweck ist.
So schnell, wie die kleine Schwarzhaarige gegangen ist, so schnell taucht sie auch wieder mit unseren Getränken auf ihrem Tablett auf. Mit einem lauten Knallen stellt sie Monas Bier auf dem Tisch ab, sodass die Schaum­krone ordentlich wackelt. Mit gespielter Leichtigkeit saust mein Cocktail fast geräuschlos vor mir nieder auf den Glasuntersetzer und ehe ich mich verse­he ist die Kellnerin auch schon fort.

Mit einem breiten Grinsen hebt Mona ihr riesiges Bierglas hoch, nickt mir kurz zum Prost zu, setzt an und trinkt. Und trinkt und trinkt und... trinkt.
„Äh... Mona?"

Sie ignoriert mich und macht weiter. Sie kneift die Augen zu, es schmeckt ihr nicht, und trotzdem kippt sie sich das komplette Glas hinter bis es völlig leer ist. Mit sichtlichem Ekel setzt sie wieder das Glas ab und schiebt es an­gewidert von sich.
Ich mustere sie mit gerunzelter Stirn. Schließlich sieht sie mich wieder an und lächelt freudig. „Das tat gut!"

„Erzähl keinen Mist. Du hättest es beinahe wieder alles hochgewürgt."
„Das wäre aber ziemlich unlogisch. Warum sollte ich mir denn etwas be­stellen, was ich gar nicht mag?"

Mir reißt gleich mein Geduldsfaden. „Was weiß ich, was du damit bezweckst oder bezwecken wolltest. Fakt ist, du hasst Bier und das habe ich dir angesehen, also versuche mich nicht für blöd zu verkaufen."
Ihr Lächeln verschwindet. „Oh man."

Die Verwirrung kehrt zurück. „Was?"
„Oh. Man."

Ich rolle genervt die Augen.
„O Gott! O Gott!" Ihr Blick wird panisch. Sie lehnt sich zurück und... fängt an zu rülpsen. Gute vier Sekunden rülpst mir mein Gegenüber laut ins Ge­sicht. Alle Gespräche stellen sich ein und wirklich jeder Blick ist auf uns ge­richtet. Ich bin fassungslos.


Mona:

Ich fange augenblicklich an zu lachen und kann nicht mehr aufhören. Se­lenes Blick ist einfach nur göttlich. Na gut, vielleicht hätte ich nicht ganz so fies sein und ihr mitten ins Gesicht meinen Bieratem hauchen sollen, aber ich will ihr klarmachen, was es heißt, sich mit mir anzulegen. Und wie könnte ich ihr besser eins auswischen, als mit schlechten Manieren?
Ich reibe mir den Bauch. „Oh je... Das war wohl doch etwas zu viel des Guten." Mein freches Grinsen rüttelt Selene wieder wach und sofort kühlt ihr Blick auf Weltraumtemperatur runter. Ich habe eindeutig gerade eine Grenze überschritten. Ihre Nasenflügel blähen sich und ihr Gesicht bekommt ein kräftiges Rot.

Jetzt bin ich dran. Blitzschnell steht sie auf, dreht mir den Rücken zu und stapft davon. Irritiert bleibe ich sitzen und sehe ihr nach, ehe ich ihr schließ­lich folge.
„Selene! Selene, warte!" Ich packe sie am Handgelenk, um sie zum Ste­hen zu zwingen. Sobald ich sie auch nur ansatzweise berühre, fährt sie ruckartig zu mir herum, entreißt mir kraftvoll ihre Hand und erdolcht mich mit Blicken.

Ich weiche erschrocken ein paar Schritte zurück. „Fass mich nicht an!", faucht sie säuerlich und beinahe habe ich den Verdacht, dass sie ihre Zähne wie ein bissiger Wolf zu fletschen scheint. „Du bist das unzivilisierteste We­sen, das mir jemals unter die Augen gekommen ist! Noch abartiger als du kann man gar nicht sein!"
„Jetzt wirst du aber gemein.", gebe ich zu bedenken, doch weiter komme ich erst gar nicht, ehe sie mir schon das Wort abschneidet.

„Schnauze! Oder ich stopf' sie dir, bis du würgend erstickst!"
Ich reiße die Augen auf. Okay, so einen Umgangston bin ich nicht von ihr gewohnt. Sauer ist gar kein Ausdruck mehr bei ihr. Sie schnauft wie ein Tier, ihre Hände zittern und wenn ich es wagen sollte, sie noch mehr auf die Spit­ze zu treiben, dann stürzt sie sich wahrscheinlich auf mich. Ohne ein weite­res Wort wendet sie sich erneut von mir ab und marschiert von Neuem da­von.

„Wo willst du denn hin?", rufe ich ihr hinterher. Ich bekomme etwas Angst davor, dass sie einfach so abhauen und mich hier in der Menge stehen las­sen könnte.
„Auf Toilette, mir deine Sabber vom Gesicht waschen!"

Uff... Merke: Selene nie wieder so auf hundertachtzig bringen.
Aus der hinteren Ecke erklingt ein lauter Knall – die Toilettentür. Getuschel neben mir. Zwei Omas sitzen an einem Tisch und raunen sich gegenseitig hinter vorgehaltener Hand etwas zu. Als ich zu ihnen gucke, sind sie still. Das kann ich nicht ab. „Was ist?! Noch nie zwei Freundinnen streiten sehen, oder was?!" Ihre Unterkiefer klappen herunter, aber ich kümmere mich nicht weiter drum und kehre zurück an unserem Tisch.
Es dauert ungefähr zehn Minuten bis Selene wieder aus der Toilette und zu mir an den Tisch kommt. Ich kann noch immer ihre Gereiztheit spüren und will es nicht noch einmal herausfordern, also unterlasse ich jeglichen Kommentar, als sie mich wütend anfunkelt. Stattdessen füge ich mich, schlage Samanthas Akte auf und beginne zu lesen, um mich möglichst un­auffällig zu geben, so, wie es Selene sich wünscht. Sie schnaubt und mur­melt was von „Warum nicht gleich so" vor sich hin. Ich rolle die Augen und richte meinen Blick über die Mappe hinweg auf sie mit der Nachricht: Ge­wöhn' dich nicht dran!


Kühle Abendluft weht ins Rendezvous, als ich die Tür aufreiße und eilig eintrete. Die brütende Hitze, die mir schlagartig entgegenströmt, ist extrem unangenehm, aber ich unterdrücke den Drang danach gleich wieder nach draußen zu gehen.
John ist der erste, der mich bemerkt. „Sam!", ruft er freudig aus und dreht sich daraufhin zu Maggy um. „Du schuldest mir fünf Mäuse." Fordernd hält er seine Hand unter ihre Nase, woraufhin sie widerwillig ihr Portemonnaie öffnet und ihn den Schein bockig in die Hand drückt.
Ich runzele die Stirn. „Hab ich was verpasst?"
„Sie wollte nicht glauben, dass du heute noch auftauchst."
„Man... hättest du nicht mal blau machen können? Jetzt bin ich um fünf Dollar ärmer wegen dir!" Schmollend verschränkt sie die Arme und zieht da­bei eine Schnute, die mich immer an den Blick eines Hundebabys erinnert.
„Entschuldigt, dass ich zu spät bin. Hab unglücklicherweise verschlafen."
„Unerhört!", näselt Maggy während sie die Hände in die Hüften stemmt und gespielt die Nase rümpft. Es folgt ein Rippenstoß von John.
„Babe, du siehst nicht gut aus...", sagt er zu mir. „Na ja, doch eigentlich siehst du immer heiß aus, aber heute wirkst du einfach...", er verstummt. Ihm fiel das passende Wort nicht ein und gestikulierte deshalb hilflos mit den Händen.
„Erschöpft?", hilft Maggy ihm aus.
„Ja, genau! Erschöpft! Danke, Babe!" Er haucht ihr einen federleichten Kuss auf die Wange, bevor er sich wieder mir zuwendet.
Es war wirklich unheimlich niedlich, wie sie miteinander umgingen. Au­ßenstehende würden sofort annehmen, dass sie ein Pärchen sind. Vielleicht wären sie das auch, wenn John nicht stockschwul und Maggy nicht durch und durch auf ihresgleichen abfahren würde. Andere mögen es möglicher­weise als „komisch" bezeichnen, mit zwei Homosexuellen zusammenzuar­beiten, wo ich doch eindeutig nicht so bin. Aber die Wahrheit ist: Es ist geni­al! Die zwei sind die Geschwister, die ich nie hatte.
„Ich mein's ernst, Babe!", sagt John und legt seine Hände auf meine Schultern. „Zuviel Stress macht Falten! Ab einem gewissen Alter hat die Haut einfach genug und eh du dich versiehst, hast du ein Gesicht wie ein Mops oder eine Bulldogge." Zur Demonstration legt er beide Hände an seine Wangen und zieht sie nach unten.
„Spinner", meint Maggy, gibt ihm einen leichten Klaps auf den Hinterkopf und guckt mich dann mit ihren riesigen, dunklen Kulleraugen an. Sie ist das kleine Unschuldsreh in unserer Clique, weil sie einfach so zuckersüß ist. „Es ist okay, wenn du mal nicht hier arbeitest. Camille hat garantiert nichts dage­gen. Johnny und ich schmeißen den Laden auch zu zweit."
Ich muss lachen. Sie sind einfach nur herzallerliebst. Ich hätte gerne noch Geschwister gehabt, aber ehe ich meinen Wunsch äußern konnte, war mein Vater schon von uns gegangen.
„Mir geht's gut, wirklich. Aber es ist echt rüh­rend, dass ihr euch so um mich sorgt."
Empört schnappten die beiden nach Luft. „Das ist ja wohl das Mindeste, was wir tun können für dich!"
„Wir wissen, dass du es nicht leicht hast, Babe, und irgendwie müssen wir dich ja unterstützen."
Wie gesagt: Ich liebe die beiden!
„Ich störe eure süße Unterhaltung ja nur ungern, aber ich habe eine Bar zu führen und wenn mich nicht alles täuscht, dann habe ich euch drei dafür eingestellt, meine Gäste zu versorgen und nicht, um euch gegenseitig zu be­tutteln."
Camille. Ich drehe mich um und blicke in ein angespanntes Gesicht. Ca­mille, die Chefin des Rendezvous', ist nicht mehr als Haut und Knochen. Sie ist etwas über vierzig, unglücklich verheiratet, dauerhaft gestresst und raucht alle fünf Minuten. Camille ist gebürtige Franzosin, kam im Alter von acht Jah­ren nach New York und lebt seitdem auch dort privat. Aus geschäftlichen Zeitgründen übernachtet sie jedoch oftmals hier im Rendezvous in Wrain­wood.
„Samantha, Schätzchen"
Sie kramt aus ihrer Pullovertasche eine Zigarettenschachtel, zieht eine Stange mit dem Mund heraus und steckt sie anschließend mit ihrem neon­pinken Feuerzeug an. Camille hat einen schon fast krankhaften Feuerzeug­verschleiß. Jedes Mal wenn ich hier bin, sehe ich sie mit einem anderen Feuerzeug ihre Zigaretten anzünden. Sie zieht genüsslich an ihrer Droge und stößt den inhalierten Rauch dann in meine Richtung aus. Das Orangen­aroma dringt mir in die Nase. Früher hat mich der Rauch sehr gestört. Mitt­lerweile macht es mir fast nichts mehr aus.
„Ich freue mich wirklich, dass du hier bist, aber hatte ich letztes Mal nicht gesagt, dass du zu Hause bleiben kannst?"
„Schon ok. Ich mach's auch umsonst."
Sie schüttelt den Kopf. Einige Strähnen ihrer nussbraunen Haare beginnen sich aus ihrem Dutt zu lösen.
„Darum geht es nicht." Sie zieht erneut und schaut mich an.
Ich weiß. Ich weiß, dass es nicht um die Bezahlung geht, sondern insge­heim um meine Mutter. Aber hier zu sein und nicht zu Hause ist einzig und allein meine Entscheidung. Ich antworte nicht und schließlich lässt Camille das Thema mit einem Seufzen fallen. Ihr ist durchaus bewusst, dass ich nicht gerne über meine Mutter reden will, versucht aber trotzdem mir beizu­stehen. Ich schätze das wirklich, aber ich brauche niemanden, der mir stän­dig unter die Nase reibt, wie schlecht es um sie bestellt ist. Ich will das Elend zu Hause nicht so oft ertragen. Mir reicht es schon, wenn es insgeheim in meinen Gedanken umherschwirrt.
„Tu, was immer du tun musst, Süße." Und mit diesen Worten wendet sie sich ab und geht wieder in die Küche.
Ich schaue ihr nach und genau in diesem Moment wird mir bewusst, dass ich gerne einmal mit ihr Tauschen möchte und sei es nur für ein paar Stun­den. Frustriert wende ich den Blick ab, bevor mich der Neid übermannt. Es hat keinen Zweck Dingen hinterherzutrauern, die einem von vorneherein ver­gönnt sind.


Selene:

Ich stupse Mona an, die gerade mit in den Akten von Samantha versun­ken ist, und mich gerade finster anfunkelt, da sie sich ziemlich erschrocken hat.
„Musste das sein?", beschwert sie sich.
Ich kann ganz genau in ihren Augen sehen, dass sie nicht genau weiß, was sie von mir halten soll. Eigentlich mag sie mich nicht, versucht aber mit mir erfolglos zu sympathisieren, weil wir zusammen in ein Team gesteckt wurden.
Genau wie Mona frage ich mich, warum Asuja ausgerechnet uns ausge­sucht hat, aber ich bin einfach nicht der Typ, der alles hinterfragt und sich querstellt, bis er endlich eine Antwort hat. Das ist auch der entscheidende Unterschied zwischen mir und ihr. Als Asuja verkündet hat, das wir diejeni­gen sind, die auf die Erde gesandt werden, um nach Samantha zu suchen, war ich zwar nicht gerade begeistert mit diesem nervtötenden, vorlauten, un­zivilisierten Mädchen jetzt auskommen zu müssen, aber ich habe es schwei­gend hingenommen. Hingegen Mona halb am Austicken war.
Sie ist wie ein Huhn. Plappert ununterbrochen leise vor sich hin, sie inter­essiert es gar nicht, ob man ihr zuhört oder nicht, so als bestünde ihre einzi­ge Aufgabe darin, dich totzuquatschen. Und scheuchst du ein Huhn auf, dann beginnt es sofort sich aufzuplustern und loszukrähen. Genau wie sie.
Ich erinnere mich ganz genau daran, was Mona sagte, als Asuja ihr gera­de die Botschaft übermittelt hatte, dass ich ihre Partnerin sein würde:
„Das ist doch nicht Ihr Ernst! Sie können mich doch nicht einfach mit die­ser Ziege losschicken!"
Ich habe mir verkniffen, zu bemerken, dass nicht ich mich in diesem Mo­ment wie eine Ziege verhielt, sondern sie – nur am Meckern.
„Setz' dich hin, Mona! Es liegt nicht in deiner Macht, dieses Urteil zu dis­kutieren, sondern es auszuführen. Solange du kein Mitglied des Rates bist, wirst du tun, was man dir sagt und nicht gleich immer dagegen auflehnen. Erst wenn du ebenfalls eine Stellung im Rat hast, besitzt du das Recht seine Entscheidungen zu kritisieren - vorher nicht!" Und damit hatte sich die Sa­che. Mona brach ihren Redeschwall ab und setzte sich widerstrebend wie­der hin.
Nichtsdestotrotz denke ich einfach, dass es nun mal in ihrer Natur liegt, so temperamentvoll zu sein. Auch wenn sie ihre Energie in vielleicht unnöti­ge Dinge steckt, so muss man ihr eines lassen: Wenn sie sich dafür ent­scheidet, etwas zu tun, dann auch mit Herz und Seele. Sie ist niemand, der jemandem Freundlichkeit vorheuchelt. Sie hat auch nie den Hehl daraus ge­macht, dass sie mich nicht leiden kann. Ihre direkte Art zwingt sie einfach dazu, ihrem Gegenüber genau das zu sagen, was sie denkt und dabei ist es ihr egal, ob ihre Aussagen negativ oder positiv behaftet sind. Diese Eigen­schaft macht sie sehr speziell, aber stärkt ihren Charakter. Entweder man mag sie sehr oder eben nicht.
Ich bestreite nicht, Mona irgendwo doch auf eine gewisse Art und Weise zu mögen und zu respektieren, aber ihr Nervigkeitsgrad ist einfach viel zu hoch, als dass es mir möglich ist, keine gereizten Aussagen ihr gegenüber zu machen.
Ich betrachte sie: ihre kindlichen Sommersprossen, die dazu blasse Haut, der kleine volle Mund zusammen mit der aristokratischen Stupsnase, die von langen, schwarzen Wimpern umrahmten, katzengrünen Augen und dazu ihre feuerroten Korkenzieherlocken. Mona ist hübsch, fast schon exo­tisch, aber ihr Charakter reißt das alles wieder raus, sodass sie einem neu­tral erscheint. Vielleicht ist das auch gewollt, so unscheinbar zu wirken, aber so wie ich sie kenne, wird sie sich überhaupt keine Gedanken über so etwas machen.
Ich lehne mich unbeirrt nach hinten an die Rückenlehne und erwidere ih­ren Blick gelassen.
„Sei still und schau ganz unauffällig zur Theke hinter mir.", trage ich ihr schließlich auf.
Mona tat wie geheißen und lässt daraufhin ihre Augen langsam einen Punkt hinter mir fixieren. Stumm mustert sie das Szenario, bis dann der Gro­schen bei ihr fällt. Sie runzelt erstaunt die Stirn und schwenkt ihren Blick wieder zu mir.
„Denkst du das Gleiche, was ich denke?", frage ich und schlage die Bei­ne übereinander.
Sie überlegt kurz. „Na ja... Von der Beschreibung der Akten her kommt es hin. Hätten wir ein Foto von ihr, dann könnten wir uns natürlich diskreter vergewissern, aber so könnte es auch einfach nur ein Mädchen sein, was ihr ähnlich sieht und ebenfalls auf die Beschreibung passt. Wann ist sie herein­gekommen?"
„Eben gerade, kann nicht länger als fünf Minuten her gewesen sein. Mir ist sie gleich aufgefallen, weil sie doch schon ziemlich typische Merkmale aufweist. Ihre leisen, federleicht erscheinenden Schritte, ihr außergewöhn­lich schönes Äußeres, ihre Art der Wahrnehmung und Beobachtung ihrer Umgebung und ihre Augen, die nichts preisgeben."
Erneut betrachtet Mona die blonde Kellnerin hinter mir und nickt leicht, um meine Antwort zu bestätigen.
Ich überlege krampfhaft. Wir sind nah dran, allerdings fehlt uns noch der entscheidende Beweis, dass es sich auch tatsächlich um Samantha handelt. Die entscheidende Frage lautet nur: Wie finden wir genau das heraus?


Mona:

Selenes Gesicht nimmt einen nachdenklichen Ausdruck an. Ich kann praktisch spüren, wie ihre Gehirnaktivität zunimmt.
Entschieden greift sie über unsere Gläser hinweg nach Samanthas Ak­tenmappe, um sie sich selbst noch einmal vorzuknöpfen. Typisch Selene. Sie denkt, dass ihr Informationen zur Rätselslösung verhelfen werden, aber ich bin anderer Meinung. Ich glaube sogar zu behaupten, dass es einen ein­facheren Weg gibt.
Ich schaue mich um. Wie ich es mir bereits gedacht habe, entgeht fast niemandem die Anwesenheit der blonden Schönheit am Tresen. Selene hat recht: Vieles scheint daraufhinzuweisen, dass wir Samantha wirklich gefun­den haben, aber solange wir uns nicht zu einhundert Prozent sicher sind, können wir sie nicht mit dem Internat konfrontieren – unserer Heimat. Nicht auszumalen, welche fatalen Folgen es haben könnte, wenn wir der falschen Person von unserer Existenz erzählen.
Aber es muss doch etwas geben! Ich denke jetzt ebenfalls intensiv nach. Was ist bei uns anders als bei Menschen? Wir können die Gedanken des anderen nur lesen, wenn wir Körperkontakt haben und beide ihre mentalen Mauern gesenkt haben. Bei Menschen genügt oftmals nur ein Blick, um zu wissen, was er denkt. Selene meinte, dass ihre Augen nichts verraten. Es müsste also so sein, wie ich es bereits vermute:

Eine kurze, flüchtige Berührung ihrer Hände würde wahrscheinlich aus­reichen, um einen Einblick in ihre Gedankenwelt zu bekommen. Normaler­weise ist das nur möglich, wenn jemand unseresgleichen abgelenkt ist und nicht darauf achtet seine mentalen Barrikaden aufrecht zu halten oder aber er lässt es halt zu.
Samantha ist in der Menschenwelt aufgewachsen, sodass sie dement­sprechend keine mentale Mauer besitzen dürfte. Wenn dies alles sich be­wahrheiten sollte, dann können wir auch wirklich von ausgehen, dass wir sie gefunden haben.
Ich ticke Selenes Fußspitze sanft mit meiner an, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen und prompt zuckt ihr Blick zu mir.
„Ich weiß, wie wir den nötigen Beweis erlangen.", wispere ich ihr zu. Ein Ausdruck des Interesses huscht über ihre Züge und sie lehnt sich weiter zu mir vor.
Es ist selten, dass ich ihre komplette Aufmerksamkeit bekomme, doch sobald es um die Mission geht, sind jegliche Streitereien zwischen uns ver­gessen. „Ich höre.", antwortet sie und streicht sich als Zeichen dafür ihre schwarzen Wellen hinters Ohr.
„Wir können die Gedanken von anderen Mondgeburten nicht so ohne weiteres scannen, wie bei Menschen, richtig?"
„Richtig."
„Es sei denn, diese ist momentan unaufmerksam oder bewilligt es."
Selene bestätigt wieder mit einem Nicken.
„Aber Samantha kann sich gar nicht vor geistige Übergriffe schützen. Niemand hat ihr gezeigt, wie es geht. Zwar können wir so auch nicht wissen, was sie denkt, aber wenn wir sie berühren, dürfte es für uns ein leichtes sein, das herauszufinden."
Schweigen.
Es vergehen gute zehn Sekunden, in denen keiner von uns beiden etwas sagt und Stille ist meistens kein gutes Zeichen bei Selene.
„Was hast du vor?", fragt sie schließlich und beäugt mich misstrauisch. Warum kann sie mir nicht einmal vertrauen?
„Überprüfen, ob sich meine These bewahrheitet. Dazu benötige ich aller­dings deine Hilfe."
„Du meinst, du willst in ihren Kopf einbrechen?!"
Ihr Tonfall sagt mir bereits, dass sie alles andere als begeistert davon ist. Ich gebe zu, es ist nicht gerade ladylike, aber im Moment die sicherste und einfachste Methode. Sollte meine Partnerin sich also querstellen und nicht einwilligen, dann müssen wir uns erst einmal wieder zurückziehen und einen anderen Plan zusammenbasteln. Das wird uns wertvolle Zeit kosten und einen Tadel von Asuja einbringen.
Andererseits ist es auch nicht gerade legal, was ich eben vorgeschlagen habe, sodass wir auch bombastischen Ärger bekommen könnten, wenn das auffliegt. Aber eben auch nur wenn!

Mein Blick ist starr auf Selene gerichtet und ich versuche soviel Flehen wie möglich darin hineinzulegen.
Ich habe nicht unbedingt Lust, mich noch länger hier aufzuhalten. Meine einzige Chance, dass sie sich bereit erklärt mitzumachen, besteht darin, zu hoffen, dass ihr Wunsch, wieder nach Hause zu gehen, genauso groß ist wie mein eigener.
Mit einem lauten Seufzen atmet sie hörbar aus. Selene gibt sich geschla­gen. „Na schön. Was soll ich deiner Meinung nach tun?"
Ich bin so erleichtert, dass ich gar nicht mitbekomme, wie sich ein Lä­cheln auf meinem Gesicht ausbreitet.


Selene:

Nur damit es keine Missverständnisse gibt: Ich tanze nicht nach ihrer Pfeife und ich bin auch überhaupt nicht von ihrer Idee überzeugt, aber ich denke, dass wir damit Zeit einsparen, wenn alles nach Plan läuft, und das oberste Gebot unserer Aufgabe lautet, Samantha so schnell wie möglich auf das Internat zu bringen. Außerdem macht mich dieser Zigarettenqualm hier drin langsam wahnsinnig. Keine Ahnung, wie man so etwas inhalieren und seinem Körper antun kann, aber Menschen erstaunen mich immer wieder. Aber das ist eine andere Sache. Im Moment hat mich nur meine Aufgabe zu interessieren und nichts anderes.
„Könntest du dafür sorgen, dass die zwei anderen dort drüben abgelenkt sind, während ich versuche, unsere Zielperson auf meine neue Bestellung aufmerksam zu machen? Ich werde mir irgendetwas zu trinken bestellen, um mit ihr in Kontakt treten zu können."
Ich gehe kurz in Gedanken ihren Plan einmal durch und nicke dann zum Einverständnis. Also schön, dann mal los. Ich stehe auf und spaziere gera­dewegs auf die Theke zu. Auf dem Weg dorthin gehe ich mögliche Themen zum Quatschen durch, ehe ich mich für einen belanglosen Smalltalkanfang entscheide.
Galant schwinge ich mich auf den Hocker vor der Theke, setze einen ge­langweilten Gesichtsausdruck auf und stütze mein Gesicht ab, indem ich mit dem linken Ellbogen ein Dreieck bilde. Ich seufze.
„Oh man... Ziemlich viel Betrieb heute, oder?"
Ein junger, schmächtiger Mann, vielleicht Anfang zwanzig, schaut vom Geschirrtrocknen auf.
Ups, ich hatte ganz vergessen, dass Menschen nicht so ein empfindli­ches Gehör haben wie wir. Das nächste Mal sollte ich wohl mehr darauf achten, mich etwas bemerkbarer zu machen.
Seine Erschrockenheit verwandelt sich schnell in Verblüffung.
Er sieht sich im Lokal um, bevor er mir eine Antwort gibt.
„Ach, das geht eigentlich noch. Am Wochenende ist es schlimmer."
Alle Achtung, er fasst sich schnell. Wäre ich nicht so gut darin, in den Gesichtern anderer zu lesen, dann hätte ich wahrscheinlich nicht bemerkt, dass ich ihn überrascht habe.
Ich schmunzele leicht. Vielleicht wird das ja doch noch ganz amüsant?
Ich mustere ihn. Recht niedliches Gesicht, aber seine schwule Ader ist ziemlich offensichtlich.
„Coole Ohrringe.", sage ich schließlich nach einer eindringlichen Muste­rung. Die verschiedenen silbernen Ringe ziehen sich auf beiden Seiten von dem obersten Rand der Ohrmuschel bis zum Ohrläppchen runter und sind durch dünne, feingearbeitete Ketten mit dem jeweils nächsten Ring verbunden. Am Ohrläppchen münden sie jeweils mit einem runden Stecker, an dem ein Kreuz befestigt ist. Sehr schlicht, aber faszinierend.
Er beginnt ebenfalls zu lächeln. „Danke. War auch nicht gerade einfach zu bekommen."
Ich runzele die Stirn.
„Du machst aber keine schmutzigen, bösen Sachen, oder?"
Er lacht. Kluges Kerlchen, er hat meine Ironie verstanden.
„Nein, nein. Keine Sorge, ich lasse nichts illegal importieren. Ich habe le­diglich meine geheimen Quellen." Verschmitzt zwinkert er mir zu, ohne da­bei mit dem Abtrocknen der Gläser aufzuhören.
Ich lege einen verführerischen Blick auf. Ich muss sichergehen, dass ich auch wirklich seine komplette Aufmerksamkeit bekomme, sodass Mona in Ruhe arbeiten kann.
Ein Mädchen – genauer gesagt, die Kellnerin, die uns vorhin bedient hat – kommt hinzu und runzelt verwundert die Stirn, als sie uns beide sieht. Eini­ge Sekunden darauf schwingen die Türen zur Küche auf und heraus kommt Samantha.
Perfekt. Es kann beginnen.


Mona:

Selene und ich wechseln einen kurzen Blick, bevor ich mich kurzerhand vom Stuhl erhebe und mich zu Wort melde.
„Entschuldigung? Könnte ich vielleicht noch etwas zu trinken haben?"
Viel zu spät fällt mir auf, dass ich mein Bierglas hochhalte. Innerlich jam­mere ich auf.
Verflucht! Jetzt muss ich nochmal dieses widerliche Gebräu trinken.
Noch schockierter bin ich aber, als ich mitbekomme, dass ich die Auf­merksamkeit der falschen Person errungen habe. Die Kellnerin neben Sa­mantha lächelt und nickt mir zu.
Ich gerate in Panik.
Warum muss ausgerechnet jetzt alles schief laufen?
Mein verzweifelter Blick huscht zu Selene und mehr braucht es nicht, um ihr mitzuteilen, dass ich ihre Hilfe brauche. Blitzschnell dreht sie ihren Kopf zur Theke, sodass ihre pechschwarze Mähne umhergewirbelt wird. Und plötzlich geht alles ganz schnell: Selenes Augen blitzen kurz hell auf und im nächsten Augenblick tanzt ein Glas hinter den Kellners aus dem Regal und zerschellt lautstark auf dem Boden.
Ich halte den Atem an.
Meine Partnerin hat gerade Telekinese in der Öffentlichkeit angewandt. Ich kann es kaum glauben. Wie kann sie nur so ein hohes Risiko eingehen? Ist sie etwa noch panischer als ich?
Viel Zeit zum Nachdenken bleibt mir allerdings nicht, als ich sehe, wie Samantha sich nach den Scherben bückt.
Mir entfährt ein frustriertes Stöhnen. Das war alles so nicht geplant gewe­sen. Nein, nein, nein, nein!
Ohne es zu wollen beiße ich mir vor Nervosität auf die Unterlippe. Und dann stehe ich mit einem Mal neben Samantha. Ich habe nicht großartig weiter nachgedacht, sondern bin einfach aus Instinkt losgegangen. Und wie eine Außenstehende sehe ich mit an, wie ich mich zu ihr hinunterbeuge und ihr zulächle.
„Kann ich vielleicht helfen?", frage ich sanft, so als würde ich versuchen ein scheues Tier nicht zu erschrecken. Und endlich bemerkt sie mich.
Fast wie in Zeitlupe kommt es mir vor, als sie sich zu mir umdreht und ihr klarer Blick mich durchdringt. Ein bis zwei Augenblicke erstarre ich, außer­stande mich zu bewegen. So etwas habe ich noch nie zuvor erlebt, dass mich ein Blick so extrem gefangen hält. So ehrlich, so offenherzig, so...
„Das wäre wirklich sehr nett.", antwortet Samantha schließlich und strahlt mit ihrem Lächeln sofort Wärme aus.
Ihre Stimme reicht aus, um mich wieder in die Realität zu katapultieren.
Ich blinzle und greife dann bewusst nach der Scherbe, die auch Samant­has Hand anvisiert. Nur flüchtig berühren sich unsere Fingerspitzen, aber das ist völlig ausreichend.
Mit rasanter Geschwindigkeit leite ich Magieströme über meine Finger in ihre hinein, taste mich weiter vor nach oben zu ihrem Kopf. Vorsichtig dringe in ihre Schädeldecke, umhülle ihr Gehirn und... komme nicht weiter.
Verwirrt halte ich inne und ohne Vorwarnung steigt aus Samanthas Kör­per blauer Nebel auf. Fasziniert sehe ich mit an, wie er emporsteigt und sich verformt. Als Ergebnis schwebt über ihr eine anmutige Frau in verchromter Rüstung. Anhand ihres Helmes erkenne ich, dass es eine Walküre ist.
Ich bin sichtlich erstaunt, fasziniert, verwirrt, überwältigt. All diese Gefühle durchfluten mich innerhalb eines Wimpernschlages und ehe ich mich verse­he, breitet die elegante Kriegerin ihre Arme aus, woraufhin schneeweiße Flügel zum Vorschein kommen. Ich bin wie gelähmt. Unfähig irgendetwas zu tun, mustere ich mit aufgerissenen Augen diese Gestalt über mir.
Ein großer Fehler, wie ich kurz darauf feststelle.
Mit einem Mal öffnet sie ihre Augen und ihr Blick signalisiert mir puren Hass. Im nächsten Moment spüre ich nur noch einen heftigen Stromschlag, der meinen kompletten Körper durchzuckt, und eine darauffolgende Druck­welle, die mich mit brutaler Gewalt quer durch die Bar schleudert.
Als mein Kopf auf dem Boden aufschlägt, verliere ich augenblicklich das Bewusstsein. Vollkommene Schwärze umhüllt mich und lässt alle Schmer­zen vergessen.


Ich schreie auf, will auf die Beine kommen, rutsche mit den Füßen weg und knalle stattdessen mit dem Rücken gegen die Theke.
Mein Atem geht in hastigen Zügen.
Ich finde keine Worte für das, was eben gerade passiert ist und ich den­ke, „Schock" ist auch keine Definition für mein momentanes Befinden. Vor gut drei Sekunden noch will mir ein aufmerksames Mädchen helfen die Scherben aufzusammeln und im nächsten Moment blitzt zwischen uns bei­den ein heller Funke auf und lässt sie durch die halbe Bar fliegen.
Ich beginne, am ganzen Körper zu zittern und schließe die Augen in der Hoffnung, dass alles nur ein Traum ist. Für geschlagene fünf Sekunden ist es in der Bar totenstill. Wäre eine Stecknadel heruntergefallen, so hätte man ihr Aufkommen definitiv gehört, da bin ich mir sicher.
Und dann bricht das Chaos aus. Alle Gäste des Rendezvous' rennen schreiend durcheinander und suchen schließlich das Weite. Trotz der ange­strengten Bemühungen vom Maggy und John, die Leute zu beruhigen, trifft keine Ruhe ein.
Nach einer nervenaufreibenden Weile ist schließlich die gesamte Bar leer. Außer einer verblüfften Camille und ein dutzend weiteren geschockten Angestellten, ist es hier wie ausgestorben.

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