25. Kapitel - Geheimcode und Tiefschlaf

Geheimcode und Tiefschlaf:

Unangenehmes Schweigen breitet sich im Raum aus, sodass ich nicht weiß, ob ich ihn jetzt mit meiner Aussage verärgert oder eher verschreckt habe.

Ich räuspere mich „Ähm... würdest du mir jetzt vielleicht sagen, wer du bist?“

Ein Schrei ertönt und lässt uns beide gleichzeitig zusammenschrecken.

„O MEIN GOTT! IST DAS ETWA EINE HAND?!“ O je... Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass Lucie nachher keine Schwierigkeiten haben wird, mir meine Geschichte abzukaufen.

Mein unbekannter Gegenüber, der anscheinend plötzlich taubstumm geworden ist, dreht sich auf dem Absatz um und marschiert Richtung Fenster. Irritiert blicke ich dem wehenden Mantel nach, bis ich begreife, dass er die Flucht ergreift.

„Hey, warte!“

Keine Reaktion.

„Du kannst jetzt nicht einfach abhauen! Bleib stehen!“

Er öffnet das Fenster und springt mit einem Satz mühelos auf die Fensterbank.

Ich bekomme Panik. „Mach keinen Unsinn! Du brichst dir die Knochen, wenn du da hinausspringst!“

Lucie hat Recht: Ich bin ein Moralapostel und die leibhaftige Spaßbremse für Freestyler.

Der lebensmüde Unbekannte auf meinem Fensterbrett schnaubt belustigt, wirft einen Blick über die Schulter und sagt: „Wir sehen uns.“ Danach verschwindet er von der Bildfläche. Panisch renne ich zum offenstehenden Fenster und sehe gerade noch, wie der Mantel in den Schatten des späten Nachmittags untertaucht.

Ich schnaube verärgert. „Wirklich toller Abgang.“

Ein erneuter Schrei, dieses Mal unmittelbar hinter mir.

Ich drehe mich um.

„Was ist das?!“ Ihr Finger ist anklagend auf Craike und ihr Blick neugierig auf mich geheftet.

„Lucie bitte! Dich hört man in der ganzen Nachbarschaft!“

Ihr Blick wird fordernder.

Ich stöhne frustriert auf.

Keine Zeit für Erklärungen. Craikes Gesundheitszustand ist jetzt wichtiger. Es tut mir wirklich leid, dass ich immer und immer wieder das klärende Gespräch mit ihr verschiebe, aber die Zeitpunkte sind jedes Mal ziemlich beschissen.

Entschlossen marschiere ich zu Craike und überprüfe Puls, Atmung und Herzschlag: Alles sehr schwach. Mein Blick wandert zu Lucie, die etwas verunsichert dreinschaut.

„Hilf mir mal bitte und nimm seinen anderen Arm.“, sage ich und lege währenddessen den linken über meine Schulter, um seinen Körper hochzustemmen.

Ich bin froh, dass sie nicht weiter auf diese äußerst merkwürdigen Ereignisse der letzten Stunde eingeht und aufgebracht endlich Antworten von mir verlangt, sondern meinen Anweisungen Folge leistet. Mit vereinten Kräften schaffen wir es, den bewusstlosen Halbdämon auf mein Bett zu manövrieren.

Der leichte Teil ist geschafft. Jetzt kommt der weitaus schwierigere.

„Nochmal zum Verständnis“

Ich lege meinen Kopf auf seine Brust und lausche seinem gleichmäßigen Atemzügen und rhythmischen Herzschlägen.

Alles wieder gut. Mir fällt ein Stein vom Herzen!

„Du bist eine Mondgeburt, die von den Engeln abstammt?“

„Ja“

„Der Typ da“, sie deutet mit ihrer fuchtelnden Hand auf Craike. „Ist dein Freund und hat dir das Leben gerettet und ist zudem auch noch ein Halbdämon?“

„Ja“

„Das ist ja unglaublich! Wie konntest du ihn mir nur all die Jahre verheimlichen? Also wirklich...!“ Sie kommt in Fahrt und auf meinem Gesicht breitet sich ein belustigtes Schmunzeln aus, während ich ihr dabei zugucke, wie sie die Hände in die Hüften stemmt und im Zimmer auf- und abtigert. Auf und ab. Auf und ab... auf und...

„Sam!!!“

Jemand rüttelt mich an der Schulter und augenblicklich sitze ich kerzengerade.

Verwirrt blinzele ich in Lucies verärgertes Gesicht. Sie hasst es, wenn man ihr nicht zuhört.

„Du kannst doch nicht einfach einschlafen!“

Ich räuspere mich verlegen. „'tschuldige“

Sie stöhnt genervt auf, verschränkt die Arme und mustert mich eingehend.

Wie spät ist es? Drei Uhr morgens durch? Oder doch schon eher halb fünf? Ich weiß es nicht, aber mein Körper fühlt sich an wie Blei und meine Gedanken... stecken irgendwie im Stau.

Ich seufze und schaue zu meinem Patienten neben mir. Mein Bett sieht so verlockend aus, aber ich kann ich nicht einfach runterschmeißen. Ich seufze abermals.

„Leg dich hin. Du siehst du total geschafft aus.“

„Gegen ein Nickerchen hätte ich jetzt nichts einzuwenden“, gebe ich zu und unterdrücke ein Gähnen. „Aber wer passt auf Craike auf? Außerdem ist an Schlaf gar nicht zu denken. Immerhin lauern vor dieser Tür Aufräumarbeiten, die mindestens eine Woche dauern werden.“

Ich verberge das Gesicht in den Händen.

Wo ist mein altes Leben geblieben? Das unkomplizierte, einfache und langweilige alte Leben? Ich will es zurück! Jetzt, sofort! Ich pack das hier nicht!

„Mach dir darüber keinen Kopf.“

Etwas Weiches legt sich um meine Schultern. Als ich aufschaue, erkenne ich, dass es eine Decke ist.

„Der Müll läuft nicht weg, also entspann dich.“

Etwas mühsam schiebt sie Craike ein wenig beiseite, damit ich ebenfalls noch auf das Bett passe und bedeutet mir mich hinzulegen. Widerrede zwecklos.

Sehnsüchtig betrachte ich die freigewordene Fläche meines Bettes, ehe ich mich zu Lucie umdrehe und frage: „Und was ist mit dir?“

Sie winkt ab. „Ich komm klar und jetzt ab mit dir!“

Schnell scheucht sie mich auf die weiche Liegefläche und deckt mich zu.

Die Müdigkeit übermannt mich so stark, dass ich schon nach wenigen Minuten in einen traumlosen Schlaf entschwinde.

Eine Woche später:

Gedankenverloren streife ich durch das Schlafzimmer meiner Eltern. Die Ordnung wurde wieder dank Lucies tatkräftiger Unterstützung wiederhergestellt. Zwar sehen die Treppe und die Wände im Flur ziemlich demoliert aus, aber alles in allem ist es noch recht erträglich.

Mein Blick wandert zu Mums Nachtschrank, auf dem sich noch immer ihre angelesenen Abendlektüren befinden. Als Lucie und ich hier hereinkamen, lagen sie überall im Zimmer verstreut. Vereinzelte Blätter waren herausgerissen oder die Seiten eingeknickt. Es war ein trauriger Anblick, den ich nicht auf mir sitzen lassen konnte, also habe ich sie wieder zusammengeflickt und entknittert. Dabei habe ich unter anderem einen zusammengefalteten Zettel gefunden gehabt, der an mich adressiert war. Insgeheim hatte ich auf eine Art Brief mit lieben Abschiedsworten getippt aber dem war nicht so. Alles, was darauf steht, sind ein „S“, eine gezeichnete Blume und die Zahl 140. Ich denke schon, dass ich etwas enttäuscht war, aber irgendwie auch erleichtert. Ein Brief, der die Gefühle meiner Mutter mit Worten beschreibt, hätte wahrscheinlich nur wieder meine sentimentale Seite hervorgebracht und alte Wunden aufgerissen, die gerade erst zu verheilen beginnen.

Wie dem auch sei: Der Zettel ist für mich bestimmt und ich bin mir sicher, dass meine Mutter mir damit etwas sagen will. Bleibt nur die Frage, was genau?

Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung. Jeden Abend sitze ich auf's Neue vor diesem Stück Papier und zermartere mir den Kopf darüber, was er zu bedeuten hat, aber egal, wie sehr ich mich auch bemühe, ich komme einfach nicht darauf.

„Ein Geheimcode?“, hatte Lucie mit skeptisch hochgezogenen Augenbrauen gefragt, als ich es, ohne großartig drüber nachzudenken, in der Pause aus meiner Jackentasche gefischt und betrachtet habe.

„Ich weiß nicht so genau...“, gestand ich nachdenklich und diskutierte mit ihr zusammen über eine mögliche Logik oder ein System in dem Ganzen, aber schlussendlich gab auch sie sich irgendwann geschlagen und verlor das Interesse an dem Rätsel.

Ich seufze auf und lasse mich auf die Bettseite meiner Mum fallen.

Ich schließe die Augen und atme tief ein. Enttäuscht stelle ich fest, dass ihr Geruch bereits verflogen ist und igele mich traurig ein. Ohne es zu wollen, beginne ich mich plötzlich sehr einsam zu fühlen.

Der Tod meiner Mutter ist nun schon mehrere Wochen her, aber in all der Zeit habe ich mich nicht irgendwie alleine gefühlt. Als Dad starb, hatte ich noch Mum, Lucie und Craike. Dann starb Mum, aber ich wusste, dass meine besten Freunde trotzdem noch an meiner Seite waren und jetzt? Seitdem Craike angegriffen wurde und ich seine Wunde versorgt hatte, ist er nicht mehr aufgewacht. Alles ist normal. Die Wunde ist verheilt und alle anderen Körperfunktionen arbeiten so, wie sie es sollen und dennoch bleiben seine Augen geschlossen.

Natürlich habe ich noch Lucie und selbstverständlich unterstützt sie mich, wo sie nur kann, aber unsere Zweisamkeit ist begrenzt und in drei Wochen wird auch das vorbei sein und unsere Wege werden sich trennen.

Als ich ihr erzählt habe, dass ich bald fort muss, hat sie anders reagiert, als ich erwartet habe. Jubelnd ist sie mir um die Schultern gesprungen, was mich extrem verwirrt hat. Sie hat meinen Blick bemerkt und mir erklärt, dass es damit zusammenhängt, dass sie sich nicht darüber freut, dass ich weggehe, sondern dass für mich jetzt alles ändert.

„Verstehe mich nicht falsch, Sam! Natürlich macht es mich traurig, aber ich freue mich auch für dich! Dein Leben lang hast du immer auf andere Rücksicht genommen und auf vieles verzichten müssen, aber jetzt beginnt endlich dein Abenteuer!“

Ich runzelte die Stirn. „Das nennst du Abenteuer? Meine Wohnung wurde verwüstet, meine Eltern sind tot, Craike liegt im Koma, ein blutrünstiger Köter hat versucht, mich zu zerfleischen und ich muss euch notgedrungen verlassen! Wenn du so scharf darauf bist, dann tausch bitte mit mir!“

„Ja, ich weiß, dass du es momentan als beschissen empfindest, aber du darfst nicht nur die negativen Seiten sehen!“

Sie nahm meine Hände und sah mich eindringlich an.

„Du bist in der Lage, Dinge zu wirken, für die ein Mensch niemals imstande sein wird! Du wirst Dinge sehen können, die ich nicht einmal erahnen kann! Dein Horizont wird soviel weiter sein als meiner und darum beneide ich dich!“

Ich drückte ihre Hände und lächelte zaghaft.

„Und außerdem habe ich bereits mein kleines Abenteuer mit Ryan. Jetzt wird es Zeit für deines!“

Ihr Schmunzeln wirkte verschmitzt und ich brauchte einige Sekunden, bis ich begriff, worauf sie anspielte.

Genervt rollte ich mit den Augen und stieß die Luft aus. „Lucie, ich gehe dorthin, um etwas über mich und meine Fähigkeiten zu lernen und nicht, um mir irgendjemanden anzulachen.“

Das brachte sie zum Kichern. „Nicht nur eine Spaßbremse, sondern auch noch so enthaltsam wie eine Nonne!“, zog sie mich auf und biss sich auf die Unterlippe, um nicht lauthals loszuprusten.

Ich tat entrüstet und stemmte die Hände in die Hüften, musste aber letztendlich lachend kapitulieren.

Ich werde sie vermissen. Lucie, Ryan und Eddy. Was Craike angeht, so habe ich keine Ahnung, ob er mir bis dahin folgen wird, wo ich später sein werde... Wobei die Frage nicht wird...?, sondern kann...? lautet.

„Das ist dein Abenteuer – dein Neuanfang für ein besseres Leben!“, schwirren mir die Worte meiner besten Freundin durch den Kopf.

„Neuanfang, hm?“, murmele ich leise und stehe auf.

Zeit, das Zimmer zu verlassen, bevor mich die Erinnerungen wieder einholen und übermannen.

Mein Weg führt mich in mein Zimmer neben mein Bett, wo unverändert Craike regungslos liegt.

Betrübt sehe ich mit an, wie sein muskulöser Brustkorb sich regelmäßig hebt und senkt, jedoch der Rest seines Körpers keinerlei Anstalten macht, sich zu bewegen.

Ich presse die Lippen aufeinander.

Warum war ich nicht früher zu Hause? Hätte ich ihn davor bewahren können? Wäre ich überhaupt in der Lage gewesen etwas auszurichten?

Ich greife nach seiner Hand, drücke sie und streiche mit den Daumen über seinen Handrücken.

Verzeih mir, bitte!, denke ich und merke, wie sich Tränen in meinen Augen allmählich sammeln. Lass mich nicht allein!

Hallo ihr Lieben!

Vielen herzlichen Dank für über 1500 Reads! Ihr seid echt unglaublich :) Was würde ich nur ohne euch machen?

Ich hoffe natürlich, dass auch dieses Mal euch das Kapitel gefällt ;) Ich weiß, ihr wartet wahrscheinlich schon sehnsüchtig darauf, dass endlich Sams "Neuanfang" beginnt, aber noch müsst ihr euch ein bisschen gedulden. Nichtsdestotrotz steuern wir aber mit großen Schritten auf diesen Augenblick zu :D

Einen wunderschönen Sonntagabend :*

Ganz liebe Grüße

Eure Princessa_Strigoja <3

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