2. Kapitel - Alltag

„Sam? Sam!! Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?!"
Lucie ist gereizt, ich höre es an den erhöhten Klang ihrer Stimme. Gerne würde ich ihr zuhören, aber meine Augen kleben immer noch an diesem un­heilvollen Brief in meinen Händen. Die Krankenversicherung. Besser gesagt, die meiner Mutter. 
Meine Finger verkrampfen sich, als ich nochmals die letzten Zeilen lese, dieses scheinheilige „Mit freundlichen Grüßen" genauso wie das „Sehr ge­ehrte Mrs. Cheste". 
Ich hole tief Luft und schließe meine Augen, bevor ich schließlich zornig den Zettel zerknülle und ihn mit aller Kraft so fest zusammendrücke, dass er eher an einer tischtennisballgroßen Kugel erinnert, als an eine hinterhältige Nachricht. 
"SAMANTHA CHESTE!!!", brüllt Lucie plötzlich durch den Hörer, sodass ich zusammenzucke. „WENN DU NICHT SOFORT EINEN TON VON DIR GIBST, DANN RUFE ICH DIE POLIZEI!" Sie blufft. 
Trotzdem klingt mein Lachen gepresst und angespannt. „Dann will ich nicht wissen, was du für eine schöne Rechnung kriegen wirst.", sage ich und versuche einen möglichst heiteren Tonfall anzuschlagen. 
Stille. Dann: „Was ist los?" Besorgnis. Aha, mehr braucht es nicht, damit ich weiß, dass mein Versuch zu schauspielern bei Lucie nicht gefruchtet hat. 
Ich reibe meine Stirn und überlege.
Soll ich es ihr wirklich sagen? Soll ich ihr erzählen, dass die Versicherung sich offiziell mit diesem Schreiben dazu bekennt, sich endgültig querzustellen, was die Bezahlung der Chemotherapi­en meiner Mutter betrifft? Dass sie damit endgültig ihr Todesurteil besiegeln? Dass ich mich allen Ernstes frage, warum es etliche Versicherun­gen und Tarife überhaupt gibt, wenn sie bei Millionen von Ausnahmen sich immer wieder ihrer eigentlichen Aufgabe entziehen? 
Ich seufze.
Ich hab es so satt, am Existenzminimum zu leben, jedes Mal aufs Neue die Rechnungen und Kosten am Anfang eines jeden Monats zu fürchten und nicht zu wissen, wie wir das alles bezahlen sollen. Ich hatte mich immer an die Hoffnung geklammert, dass alles besser werden würde, wenn Mum wieder gesund war und wir noch mal einen Neuanfang starten können. Anfangs sah es auch wirklich nach einer Besserung aus, die Krankenversicherung ist für die Kosten eingesprungen und ich habe angefangen, in einer nahe ge­legenen Bar zu jobben. Dann der erste Brief: Wenn nicht innerhalb von zwei Monaten eine Besserung des Gesundheitszustandes meiner Mutter eintre­ten würde, wäre die Kasse nicht mehr dazu bereit, länger als einen weiteren Monat über der Frist für die Kosten aufzukommen. Und es kam wie es kom­men musste: Der Krebs streute, die Werte der Untersuchungen wurden rapi­de schlechter, alle Hoffnungen mit einem Schlag zerstört, wie ein Spiegel, der in tausende von Teile zerspringt. Noch immer bin ich der festen Mei­nung, dass es nie so weit hätte kommen müssen, wenn Mum nicht krampf­haft jeden Abend gebetet hätte, dass es bald eine Verbesserung ihres Zu­stands gäbe, damit die Kosten weiterhin bezahlt werden. Sie hätte sich nie so viele Sor­gen darum gemacht, wenn sie nicht genau gewusst hätte, dass es dann kei­ne Rettung mehr für sie gab. 
Ich kaue auf meiner Unterlippe.
Lucie weiß, dass Mum Leukämie hat, aber wie schlecht es wirklich um sie steht, wissen nur sie selbst und ich.
Meine Stimmung ist an ihrem Nullpunkt angelangt.
Nein, ich kann es ihr nicht sagen. Irgendein anderes Mal, aber nicht jetzt. Ich schüttele den Kopf.
„Nein, alles OK. Bin wohl ziemlich müde noch von gestern. Im Rendezvous war es wieder total voll und deswegen bin ich erst um zwei im Bett gewe­sen." 
„Arbeitest du immer noch dort?", fragt sie verwirrt. Das Ich dachte, dass brauchst du nicht mehr... hängt unausgesprochen in der Luft. 
Ich verlagere mein Gewicht vom linken auf's rechte Bein und stütze mich am Türrahmen zur Küche ab.
„Na ja, eigentlich ist es gar nicht so schlecht da. Die sind alle total nett dort und zahlen tun sie auch nicht gerade wenig und wenn ich mal nicht kann, bräuchte ich auch nur Bescheid zu geben."
Es ist die Wahrheit. Ich mag den Flair und die Aufgeschlossenheit. Aber eigent­lich stecken zwei ganz andere Gründe dahinter: Erst einmal ist das Geld, dass ich dort verdiene, wirklich notwendig und zweitens setze ich mich gerne dem Stress dort aus. Dann kann ich für ein paar Stunden auch mal verges­sen, dass meine todkranke Mutter zu Hause im Bett liegt, vor sich hinvegetiert und im Stillen sogar auf die Erlösung wartet. Ich kann für einen kurzen Mo­ment diese Last vergessen, die schwer auf meinem Herzen liegt und mich ständig umgibt. Der Job laugt mich so aus, dass ich erschöpft in dem Bett neben Mum liege und trotz des Röcheln und Stöhnens neben mir dennoch einschlafen kann und nicht die ganze Nacht wach liege, weil ich fürchte, sie könnte jeden Augenblick aufhören zu atmen und neben mir sterben. Für manche ist Stress die Hölle, für mich ist es der pure Segen. Für andere ist ihr zu Hause der Himmel auf Erden, für mich ist es der tägliche Schrecken. 
Am anderen Ende der Leitung vernehme ich ein tiefes Seufzen. „Sam... übertreib' es nicht. Hörst du? Wenn dein Körper dir sagt, dass er nicht mehr kann, dann musst du auch aufhören! Du darfst dich dann nicht mit aller Ge­walt durchbeißen. Pausen sind wichtig, damit du dich auch mal erholen kannst. Nimm dir für die nächste Zeit doch einfach mal frei und wir beide ma­chen dann einen schönen Mädelstag. Nur wir zwei, so wie früher. Was hältst du davon?" 
Ich denke zurück, an die vielen DVD-Abende, die ausgelassenen Quas­sel-Stunden, die Kino-Besuche, die Shopping-Ausflüge. Ja, die Versuchung ist groß, denn die Wahrheit ist: Seit sie mit Ryan zusammen ist, kriege ich sie kaum noch alleine zu Gesicht. Ich freue mich für die beiden – ehrlich! – aber manchmal wünsche ich mir einfach nur ein paar Stunden alleine mit ihr, ohne ihn im Schlepptau. Dann komme ich mir immer wie das dritte Rad am Wagen vor. Einfach völlig überflüssig.
Und doch es ist nicht machbar. Meine Mutter braucht mich jetzt mehr denn je, auch wenn ich glaube, dass es nach all dem hier nicht besser wird. Trotzdem lehne ich ab.
„Du weißt, das würde ich echt gerne Luce, aber ich kann nicht. In letzter Zeit habe ich echt viel zu tun und das kann ich nicht aufschieben." 
Sie atmet frustriert aus. „Na schön..." Ihre Enttäuschung ist groß und in­nerlich schelte ich mich selbst dafür, dass ich sie so vernachlässige.
„Versprich mir aber wenigstens, dass du nicht mehr so viel im Rendez­vous kellnerst, ja?", fragt sie und schlägt diesen Engelston in ihrer Stimme an, der es mir unmöglich macht, ihr etwas abzuschlagen. Lucie weiß das und nutzt diese Taktik, um wenigstens diese Sorge aus ihrem Kopf streichen zu können. 
Ich muss schmunzeln.
„Ja, ich versuch's.", sage ich schließlich ihren Er­wartungen entsprechend und lindere etwas ihre Enttäuschung. 
„Bist ein Schatz!", freut Lucie sich. 
Ein kurzer Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich lieber Schluss machen soll­te, wenn ich noch pünktlich zum Rendezvous will.
„Luce? Ich muss aufhö­ren." 
„Wie? Jetzt schon? Aber wir erzählen gerade mal eine Viertel Stunde! Und ich wollte dir doch noch meine ganze Planung bezüglich deiner Ge­burtstagsfeier erklären!" Große Empörung. 
„Ja, keine Sorge, dafür bleibt noch genug Zeit. Morgen kannst du mir al­les haarklein erzählen und ich verspreche auch dieses Mal wirklich zuzuhö­ren. Also, wir sehen uns dann! Lieb dich!" 
„Bitte?! Morgen ist doch aber schon-" 
Ein kurzer Druck auf den rot leuchtenden Hörer beendet ihre Standpauke und ich weiß mit ziemlicher Gewissheit, dass das morgen in der Schule noch ein Nachspiel haben wird, so wie ich sie kenne. 
Schnell stecke ich das Telefon auf die Ladestation, welches ein kurzes Piepen von sich gibt, bevor ich dann ins Schlafzimmer eintrete. Seltsamer­weise schlägt mir dieses Mal kein muffiger Geruch entgegen und als ich mei­ne Mutter in ihrem dünnem Nachthemd vor dem offen stehenden Fenster sehe, weiß ich auch warum. 
„Mum!", sage ich und kann nicht umhin, sie tadelnd anzusehen. „Du sollst doch nicht aufstehen!"
Schnellen Schritts stelle ich mich neben sie und be­ende den eisigen Durchzug, indem ich etwas zu heftig die Fenster wieder verriegele. 
„Ich halte es nicht aus, den ganzen Tag im Bett zu hocken und nichts zu tun.", entgegnet sie mit heiserer, kratziger Stimme schließlich ruhig und schaut mich an. 
Auch wenn sich ihre Miene aufhellt, als sie mich sieht, so kann ich die Trauer in ihren Augen nur allzu deutlich erkennen. Es schnürt mir die Kehle zu. 
Sanft umfasse ich ihre knochigen Schultern und führe sie langsam zurück zum Bett. „Komm, setz' dich. Ich weiß, dass du noch sehr schwach bist."
Wie mechanisch schlagen meine Hände die beigefarbene Bettdecke zurück und lockern das plattgedrückte Kissen auf. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft ich das schon in letzter Zeit für sie gemacht habe. 
Ihr dunkles Kopftuch hat sie abgenommen und neben sich auf meine Sei­te des Bettes gelegt. Nun kann man deutlich ihre kahle Kopfhaut sehen, aber auch Wimpern und Augenbrauen sind bereits ausgefallen. Ihre blei­che Haut ist mittlerweile so dünn geworden, dass man das Netz ihrer Adern darunter erkennen kann, welches sich über ihren ganzen Körper verteilt. Die Lippen sind trocken und spröde und an einigen Stellen aufgerissen. Ich gebe ihr deswegen soweit wie möglich kaum Anlass zum Sprechen, doch sie lä­chelt und erzählt trotzdem mit mir. Ich habe oft genug versucht sie davon zu überzeugen, dass sie ihre Kraft lieber sparen soll, denn ich kann sehen, wel­che Mühe und Anstrengung sie jeder Atemzug kostet. 
Ihre letzte Chemotherapie ist mittlerweile schon fast zwei Wochen her, weshalb ich den Brief der Krankenversicherung auch als ziemlich dreist empfunden habe.
Meine Mutter hat sich bewusst dafür entschieden sie abzubrechen, weil sie innerlich schon spüren konnte, dass es nichts mehr gebracht hätte, sie noch fortzusetzen und das wussten sie auch, da bin ich mir sicher. Mir gegenüber hat sie nie den Gedanken ausgesprochen, dass sie aufgegeben, die Tatsache zu sterben akzeptiert hat, aber ich merke es daran, wie seelen­ruhig sie den Tag abwartet. 
Tief im Innern habe ich aber trotzdem darauf gehofft, dass sie sich noch umentscheidet, falls die Versicherung weiterhin zahlen sollte. Aber vor paar Minu­ten habe ich ja den klaren Beweis in der Hand gehalten, dass dem nicht so ist. 
Behutsam decke ich sie zu und schiebe das Kopfkissen höher, damit sie aufrecht sitzen kann. Abermals wandert mein Blick über sie. Kommt es mir nur so vor oder wird ihre Atmung wirklich von Tag zu Tag schwächer?
Ihre grasgrünen Augen sehen mich aus halbgeöffneten Lidern an. 
„Bitte... setz' dich zu mir.", sagt sie irgendwann und hebt mehrmals schwach ihre Finger auf der Seite meines Bettes.
Mir ist immer noch schlei­erhaft, wie sie es geschafft hat, aufzustehen und die Fenster zu öffnen. Sie versucht sich an einem Lächeln und hilflos muss ich mit ansehen, wie ihre Unterlippe wieder einmal aufreißt und zu bluten anfängt. 
„Nicht, Mum! Hör auf, ich setz' mich schon zu dir."
Ich schiebe den Stuhl neben ihrem Bett dichter zu ihr heran, ehe ich mich dann darauf setze und ihre Hand in meine nehme und mit Schrecken feststelle, dass sie noch kraft­loser und knochiger geworden ist.
Ich schlucke, versuche die Enge in mei­nem Hals zu lösen, aber es klappt nicht. 
„Sammy..."
Ich senke den Blick, schaue auf unsere Hände und halte ihre krampfhaft fest, während ich versuche, dagegen anzukämpfen nicht daran zu denken, dass sie immer schwächer, kraftloser wird, sie sich nur noch we­gen mir an diesem seidenen Faden ihres Lebens klammert und ich einfach nicht verstehen und akzeptieren will, dass das alles so verdammt ungerecht ist. 
Eine einzige Krankheit, eine einzige Veränderung unseres Körpers und wir werden zu einem wimmernden Häufchen Elend, was Tag ein, Tag aus nur noch im Bett liegen und die Stunden zählen kann. 
Ich schließe die Augen, als ich merke, dass sie zu brennen beginnen. Ich habe mir tief in meinem Innern geschworen, nicht vor ihr zu weinen, weil sie dann auch mitleiden würde und das will ich nicht. Ich will für sie stark sein, ihr zeigen, dass ich mich später auch ohne sie durch's Leben boxen kann und werde. 
„Sammy, mein Schatz...", beginnt Mum wieder und schiebt unendlich sanft meine langen, goldenen Wellen hinters Ohr. 
„Mum, ich..." Ich schlucke abermals gegen den Kloß in meinem Hals an, mit dem gleichen Erfolg wie zuvor. „Heute kam ein Brief von der Versicherung an..." Meine Stimme kippt, ich muss eine Pause machen. 
„Sie würden nicht mehr zahlen, stimmt's?"
Verblüfft schaue ich auf.
Sie hat den Kopf schief gelegt und streichelt mit dem Daumen meinen Handrücken.
„Sie haben ein paar Tage vorher angerufen und es mir telefo­nisch mitgeteilt. Der Brief war nur die Bestätigung dafür." Sie lächelt bitter und dieses Mal reißt ihre Oberlippe auf. Das ist zu viel. Ich kann nicht mehr. Hilflos schluchze ich auf und spüre, wie mir heiße Tränen über's Gesicht lau­fen...

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