16. Kapitel - Wunder und Jahrmarkt

Wunder und Jahrmarkt:

Die nächsten Tage verbringen wir mit jeglichen Aktivitäten, die Craike irgendwie einfallen. Kino, Schwimmen, Fahrrad fahren, morgendliche Spaziergänge (die ich jetzt nicht mehr so schlimm finde wie am Anfang). Sogar in diese komischen Rollschuhe zwingt er mich, obwohl ich ihm klar und deutlich zu verstehen geben wollte, dass ich keine gute Figur in diesen Dingern abgebe. Aber alles Flehen und Betteln hat nichts bewirkt. Im Endeffekt stand ich trotzdem mit wackeligen Beinen in diesen Schuhen. Craike hat mich ausgelacht, als er gesehen hat, dass ich ständig versucht habe, mich irgendwo festzuhalten, aber das war mir egal. Trotz Helm und Schützer und schneckenhafter Fahrweise habe ich es geschafft, mich gefühlte zwanzig Mal auf den Hintern zu setzen. Mein Körper war am Abend übersät von blauen Flecken und meine Laune dementsprechend im Keller, weil Craike mich dazu gezwungen hatte.

Da wir so viel unternahmen, habe ich so gut wie keine Zeit, um auf trübe Gedanken zu kommen, und ich denke, dass dies auch Craikes Absicht ist. Mich ablenken, damit ich merke, dass das Leben weitergeht und ich nicht stehenbleiben darf. Wenn ich zu lange zögere, dann besteht die Gefahr, dass ich es nie wieder einholen kann und bis zum Ende meiner Tage damit beschäftigt bin, wieder ins Leben hineinzufinden. Die Zeit interessiert es nicht, ob meine Mutter gestorben ist oder ich sonstige Schicksalsschläge erlitten habe. Sie läuft trotzdem weiter und wenn ich nicht mitkomme, dann ist das mein Problem.

Aber ich bleibe nicht stehen, sondern nehme die Herausforderung an und rappele mich auf, um zu zeigen, dass ich nicht aufgeben werde. Nicht mehr. Und mit Craike an meiner Seite bin ich mir sicher, dass ich es schaffen kann.

Es ist Anfang August. Die Tage werden langsam aber sicher wieder kürzer, während die Nächte dadurch länger werden. Die Temperaturen sind nicht mehr so extrem, sondern halten sich jetzt im angenehmen Bereich. Mein Anrufbeantworter ist mittlerweile voll, weil Lucie ununterbrochen anruft, um mir mitzuteilen, dass sie sich Sorgen macht und erst Ruhe gibt, bis ich mit ihr gesprochen habe.

Craike hat mehrfach versucht, das Thema anzuschneiden. Er fände es besser, wenn ich sie informieren würde, aber ich wechsle jedes Mal das Thema. Ich bin noch nicht bereit, mich mit Lucie, Eddy und Ryan auseinanderzusetzen, genauso wenig wie mit der Schule. Auch wenn ich langsam mal wieder dorthin müsste.

Schule ist für mich ein Begriff, der zur Normalität gehört, aber noch ist die Normalität nicht ganz wieder in mein Leben eingezogen.

Erschöpft steige ich aus meiner Dusche und trockne mit einem Handtuch meine Haare. Schnell schlüpfe ich in meinem Pyjama, den ich mit ins Bad genommen habe, damit ich nie wieder in eine unangenehme Situation mit Craike gerate. Außerdem übernachtet er nun schon seit einem Monat bei mir, weshalb ich also nicht mehr einfach so nackt in mein Zimmer spazieren kann.

Nachdem ich mir die Zähne geputzt habe, gehe ich, mit meiner Bürste bewaffnet, in mein Zimmer, stelle mich vor meinen Spiegel an meinem Kleiderschrank und beginne damit, meine Haare durchzukämmen. Ich fluche über die vielen Knoten in meinen nassen Strähnen und schwöre, wie so oft, sie mir demnächst abschneiden zu lassen (was ich so gut wie jedes Mal verwerfe, wenn ich vor einem Friseursalon stehe).

Gähnend trabe ich zu meiner Kommode und lege dort meine Bürste ab.

Mein Blick wandert unbewusst zu Craikes Geburtstagsgeschenk.

Ich reiße die Augen auf, als ich sehe, dass die Strachyde nicht mehr so vertrocknet ist, wie vor einigen Wochen, sondern jetzt lediglich nur noch ein bisschen den Kopf hängen lässt. Die Blüten haben wieder eine einigermaßen akzeptable Farbe und der Stil mit den Blättern wirkt recht kräftig.

Ungläubig schaue ich zu Craike, der bereits auf der linken Seite meines Bettes eingeschlafen ist. Seine Gesichtszüge wirken entspannt und friedlich, während sein Brustkorb sich langsam und regelmäßig hebt und senkt. Es wirkt beinahe schutzlos.

Ich schüttele den Kopf und blicke wieder zur Pflanze.

Wie ist das möglich? Sie war völlig ausgedörrt! Sie hat überhaupt nicht mehr gelebt und jetzt? Jetzt richtet sie sich wieder auf, erhebt sich wieder wie eine Kämpfernatur.

Ich weiche erschrocken zurück.

Zeitgleich, als die Blume eingegangen ist, ging es mir ebenfalls schlecht. Jetzt, wo ich dabei bin alles zu verarbeiten, geht es ihr wieder gut.

Abermals gucke ich zu Craike.

Hatte er etwa recht? Gibt es wirklich eine Art Verbindung zwischen dieser Pflanze und mir? Auf keinen Fall!

Ich fasse mir an die Stirn und atme tief durch.

Bloß blöder Zufall, weiter nichts. Dass eine Blume den Gemütszustand ihres Besitzers übernimmt ist völliger Blödsinn. So etwas ist nicht möglich.

Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch lege ich mich zu Craike und starre an die Decke. Aus irgendeinem Grund beunruhigt es mich, dass diese Pflanze wieder gesund ist, obwohl es mich eher freuen sollte. Ein Wunder hatte ich es in Gedanken genannt. Nur ein Wunder hätte diese Blume noch retten können und ich habe daran nicht geglaubt. Und doch steht sie da und reckt ihren Blütenkopf dem Fenster entgegen. Craike war derjenige, der mir diesen Quatsch mit diesem Gefühlsaustausch erzählt hat und er war auch derjenige, der darauf bestanden hat, dass ich sie nicht wegschmeiße, sondern dort stehen lasse. Mir kommt die Erkenntnis, dass er  sich ziemlich sicher war, dass sie sich wieder aufrappelt. Fast so, als hätte er es gewusst.

„Und? Was hast du an deinen letzten freien Tagen so vor?“, unterbricht Craikes Stimme die friedvolle Stille. Unser morgendlicher Spaziergang ist mittlerweile zum Ritual geworden – praktisch für’s Wachwerden und einen guten Start in den Tag. Dieses Mal hat er uns an einen Spielplatz vorbeigeführt, wo gerade ein Mädchen alleine auf einer Schaukel sitzt. Ihr braunes Haar weht ihr ins Gesicht, wenn sie zurückschaukelt und der Wind von hinten kommt, aber das stört sie nicht. Mit einem breiten Grinsen gewinnt sie immer mehr an Höhe und schwingt freudig mit den Beinen hin und her.

Wie gebannt habe ich auf sie gestarrt. So jung. So unbefleckt. So sorglos. Was würde ich dafür geben, um einmal wieder in dieses Alter zurückversetzt zu werden?

Im Endeffekt habe ich mich dann auf eine nahegelegene Bank gesetzt und das Mädchen beobachtet. Craike hat es vorgezogen zu stehen. Das Ganze ging ungefähr einige Minuten, bis ihre Mutter sich von ihrem Gespräch mit einer anderen Frau loseisen konnte und sie ihre Tochter zu sich gerufen hatte. Danach blieb die Schaukel leer.

Ich schaue zu Craike hinauf.

Seine Frage kommt unerwartet und bringt mich wieder zu dem Punkt, dass sich die Sommerferien dem Ende neigen und ich nicht einmal meine Freunde besucht habe. Das schlechte Gewissen nagt an mir, aber bisher habe ich es immer erfolgreich verdrängen können. Bis jetzt zumindest, denn in genau diesem Moment wird mir klar, dass ich sehr viel Zeit vertrödelt habe, ohne irgendetwas Sinnvolles erreicht zu haben. Normalerweise habe ich immer viel mit Lucie, Ryan und Eddy unternommen oder aber ich habe mir über diese Zeit einen Ferienjob in einer Bibliothek oder einem Café gesucht. Dieses Mal habe ich allerdings nichts gemacht. Zumindest kommt es mir so vor.

Mein Blick schweift gedankenverloren in die Ferne, während sich ein Schweigen zwischen uns ausbreitet.

Eine leichte Brise kommt auf und versetzt die Schaukel langsam wieder in Bewegung. Von neuer Kraft angetrieben, schwingt sie nun kaum merklich vor und zurück.

Ich denke über Craikes Frage nach. Ununterbrochen. Trotzdem muss ich feststellen, dass ich keine Ahnung habe, was man noch in den restlichen Tagen machen könnte. Ich habe absolut keinen Plan und das frustriert mich ziemlich. Verdammt!

Jemand ergreift meine Hand – Craike – und zieht mich von der Bank hoch.

„Komm!“, fordert er und lächelt dezent. Ein ehrliches Lächeln, dass ich momentan sehr oft zu sehen bekomme.

Verwirrt blinzele ich ihn an, lasse mich aber widerstandslos von ihm mitziehen. Wie immer folgt er zielstrebig einer Richtung, die mir nicht bekannt ist. Sofort drängt sich mir die Frage auf, wohin wir denn gehen, aber noch bevor ich einen Ton sagen kann, antwortet er mir: „Lass dich überraschen!“ Dabei weiß ich nicht so recht, ob ich das verschmitzte Glitzern in seinen Augen als gut oder schlecht werten soll.

Meine Augen weiten sich, als ich das Riesenrad entdecke. Mit offenem Mund bleibe ich vor dem Eingang des Jahrmarktes stehen. Den habe ich völlig vergessen! Craike gibt mir gar nicht erst die Möglichkeit, irgendwelche Bedenken zu äußern, sondern schleift mich schon blindlings in die Menschenmasse.

Ich mag kein Gedränge, mochte ich eigentlich noch nie.

Trotz dessen, dass es morgens ist, sind hier bereits unzählige Leute versammelt und quetschen sich in großen Scharen an allen erdenklichen Ständen und Attraktionen des Marktes, während der Rest, der noch auf der Suche ist, sich zwischen den Ständen befindet und wie ein Strom in eine Richtung fließt.

Krampfhaft umklammere ich Craikes Hand. Wenn wir uns hier verlieren, dann haben wir keine Chance mehr, uns auch nur in irgendeiner Weise auf dem Markt wiederzufinden.

„Was hast du vor?“, frage ich ihn, aber er hört mich nicht, da die Geräusche um uns herum meine Frage übertönen.

Irgendwann bleiben wir vor einer Schlange stehen und als ich mich umsehe, entdecke ich, dass diese zum Riesenrad führt.

Ich schlucke.

Es ist nicht der Umstand, dass man in diesem Ding in einer Art hin- und herschaukelnden Schüssel sitzt, sondern, dass diese hin- und herschaukelnde Schüssel ganz oben am Rad eine schwindelerregende Höhe erreicht.

Craike wendet sich mir zu, sagt, dass er kurz weggehe und ich hier warten solle, und lässt dann meine Hand los, um in der Menschenmenge zu verschwinden.

Na toll. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich brav weiterhin anzustellen und darauf zu hoffen, dass er die Schlange wiederfindet.

Mein Blick schweift erneut zum Riesenrad. Na ja, wobei… Dieses gigantische Teil ist ja auch schlecht zu übersehen.

Während ich weiterhin auf ihn warte, drängen sich mir unweigerlich tödliche Szenarien im Kopf auf, wie wir beide in einem dieser wackelnden Dinger sitzen und es kurz vor der höchsten Stelle abbricht, sodass wir, am Boden angekommen, zu Brei verarbeitet wurden.

Ich schüttele den Kopf.

Warum bin ich so pessimistisch?

Ich ziehe meine Unterlippe zwischen die Zähne und beginne unweigerlich nervös darauf herumzukauen. Ich bin unruhig, weil Craike solange braucht.

Als sein blonder Schopf dann endlich zwischen den anderen Leuten hervorlugt und auf mich zukommt, atme ich erleichtert auf. Meine Augenbrauen schießen in die Höhe, als ich die Zuckerwatte in seinen Händen erblicke.

„Du hast mich für diesen Süßkram hier alleine stehen lassen?“, frage ich ungläubig, was ihn sofort zum Lachen bringt. Statt einer Antwort drückt er mir nur einen dünnen Holzstab in die Hand, an dem ein Berg von pinkfarbener Zuckerwatte klebt. Sie sieht aus wie eine rosarote Wolke.

Mein Ärger verraucht augenblicklich, als die süßen, klebrigen, weichen Fäden auf meiner Zunge zergehen. Dieses Zeug hat Suchtpotential!

Die Zeit, die wir anstehen müssen, vergeht sehr schnell und noch bevor ich Panik schieben kann, sitze ich auch schon in eine dieser Schüsseln. Je höher wir kommen, desto ruhiger wird es.

Von dieser Atmosphäre vollkommen eingenommen, genieße ich die Aussicht von hier oben. Wovor hatte ich denn bitte Angst gehabt?

„Kann es sein, dass du zum ersten Mal in einem Riesenrad bist?“, reißt mich Craike aus meiner Bewunderung für die Umgebung.

Ich schaue ihn an, wie er so dasitzt. Völlig entspannt ohne jegliche Furcht. Von ihm geht immer so eine beruhigende Aura aus. Seine Gelassenheit überträgt sich auf andere und plötzlich wird mir klar, warum ich nicht mehr panisch, sondern ruhig bin.

„Woher…?“, beginne ich irgendwann, aber noch während ich ihn fragen möchte, kann ich es mir selbst beantworten. Ihm ist mein Blick nicht entgangen, mit dem ich den Ausblick in mich aufgenommen habe. Die Leute über und unter uns reden die meiste Zeit. Sie wissen bereits, was man von hier aus sehen kann und interessieren sich nicht mehr dafür.

„Wirst du wieder zur Schule gehen?“ Das ist die eigentliche Frage, die er mir stellen wollte.

Ich schaue an ihm vorbei. Betrachte erneut die ganzen Gebäude, die mit einem Mal so viel kleiner wirken als vorher.

Ich nicke. „Ja. Es hat keinen Zweck, vor etwas wegzulaufen, was einem unweigerlich betrifft. Ich kann es auch nicht ständig verdrängen. Mir bleibt nur die Möglichkeit, mich dem zu stellen und zu versuchen weiterzumachen… Irgendwie… Und dazu gehört nun mal der Alltag.“ Ich mache eine kurze Pause. „Und es ist, wie du gesagt hast: Meine Mutter hätte nicht gewollt, dass ich in ewiger Trauer versinke. Außerdem habe ich ihr versprochen, dass ich es ohne sie schaffe.“

Der Anflug eines traurigen Lächelns umspielt meine Lippen.

Craike sagt nichts, sondern hört mir schweigend zu. Ein ernster Ausdruck ist auf seinem Gesicht zu sehen. Es gibt nur wenige Situationen, die er nicht mit Humor nimmt.

Ich bin diesen Blick nicht gewohnt und daher etwas verunsichert.

„Es tut mir leid, dass ich dich angeschrien und weggestoßen habe, als du versucht hast, mir beizustehen. Ich habe daraufhin ja auch gemerkt, dass ich jemanden an meiner Seite brauche, der mir Halt gibt.“

Ich ergreife seine Hand.

„Danke für alles“, hauche ich und drücke seine Hand.

Und dann geschieht etwas, was ich vorher noch nie bei ihm gesehen habe: Er wirkt zutiefst gerührt und wendet seinen Blick von mir ab, weil es ihm unangenehm ist. Ich glaube sogar den Anflug von Tränen in seinen Augen glitzern gesehen zu haben.

Hallo ihr Lieben! :)

Ersteinmal: Tausend Dank für über 300 Reads! *__* Wow, fühle mich zutiefst gerührt! :D Wie Craike bei Sam ^^ Es tut mir wirklich leid, dass es so lange gedauert hat, bis ich einen neuen Teil jetzt wieder hochgeladen habe :( Ich habe einfach keine Zeit dafür gefunden, zumal ich immer zwischendurch auch noch für Bewertungen Zeit finden muss *seufz* Aber ich hab mir jetzt selbst in den Allerwertesten getreten und mich ermahnt, endlich mal wieder weiterzuschreiben :D Ich hoffe der Teil gefällt euch ;) Demnächst, so viel wird schonmal verraten, tauchen Selene und Mona wieder auf :) Also: ihr dürft gespannt sein :D

Nochmals vielen, vielen Dank an alle, die meine Geschichte lesen! Es gilt wie immer: Wem es gefällt, bitte voten und, wer Lust hat, dann auch kommentieren ;)

Liebste Grüße

Princessa_Strigoja <3

P.S.: So, da hast du deine Widmung, du Nudel! :P :'D

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