11. Kapitel - Tod
Tod:
150…
160…
170…
„Sam…“, versucht mich eine Stimme zu erreichen, aber ich blende sie aus.
180…
190…
200…
Wenn mich jemand mit 200 Kilometer die Stunde durch diese Ortschaft rasen sieht, dann bin ich mit ziemlicher Sicherheit meinen Führerschein los, zumal ich eigentlich nicht der Typ bin, der wie eine Irre durch die Nacht rast. Aber in diesem Fall mache ich eine Ausnahme.
210…
220…
„Sam!“, ruft diese Stimme nun lauter, ängstlicher. „Du fährst zu schnell! Bitte geh vom Gas!“
Ich bin wie in Trance. Es fühlt sich an, als wäre ich gar nicht mehr Herr meiner selbst, sondern bin Zuschauer. Was mache ich eigentlich hier?
230…
240…
Ich kneife die Augen zusammen.
„Sam! Hör auf damit!“
Und plötzlich macht es Klick!
Lucie, die auf dem Beifahrersitz ist, rüttelt inzwischen sogar an mir, weil sie Angst hat, dass ich die Kontrolle verliere. Sie hat mir erlaubt ,mit ihrem Wagen fzu ahren und was mache ich? Ich drücke wie eine Wahnsinnige noch immer mit meinem Fuß das Gaspedal durch. Mir ist klar, dass das bescheuert ist, aber ich kann den Fuß einfach nicht wegnehmen… Ich habe Angst. Furchtbare Angst um Mum, die mich immer weiter dazu antreibt, schneller zu fahren, damit ich schneller bei ihr bin.
Plötzlich kreischt Lucie neben mir wie wild und erst verzögert realisiere ich, dass direkt vor uns auf der Straße ein Reh steht.
Innerhalb einer Sekunde trete ich die Kupplung und drücke mit voller Wucht auf die Bremse, sodass das ABS-System anspringt. Statt wegzurennen, bleibt das Tier noch immer wie angewurzelt stehen.
Ich blende ab und knalle meine Hand auf die Hupe. Ein Ruck geht durch das Tier und springt in allerletzter Sekunde davon. Einige Meter weiter kommen wir zum Stehen.
Mein Herz rast, und langsam aber sicher sickert in meinem Verstand die Tatsache durch, dass ich fast Mist gebaut hätte. Ich zittere am ganzen Körper. Meine Versuche, die Hände vom Lenkrad zu nehmen, scheitern dabei, dass ich keinerlei Kontrolle mehr über meinen Körper habe. Ich stehe unter Schock. Mein Blick hängt noch immer gebannt auf der Straße vor uns und dann sehe ich es. Die Rechtskurve. Ich hatte sie ganz vergessen. Noch nicht einmal im vierten Gang kam man so ohne weiteres gefahrlos herum und mir wird schmerzhaft bewusst, dass, wenn dieses beschissene Reh nicht gewesen wäre, ich ohne Zweifel mit dem Auto aus der Kurve geflogen wäre.
Ich weiß nicht, was mich mehr schockt: Die Tatsache, dass ich beinahe ein Reh umgekarrt hätte oder aus der Kurve geflogen wäre, wenn es nicht hier gestanden hätte. Wahrscheinlich sollte ich einfach froh, dass wir noch leben.
Oh Gott! Lucie!
Ich wende meinen Blick nach rechts und kann nicht fassen, wie unglaublich verstört sie aussieht. Mich überläuft eine Gänsehaut. Was habe ich nur getan?
Ich will sie gerade danach fragen, ob alles bei ihr in Ordnung ist, als sie mich anguckt und ich auf der Stelle erstarre. Noch nie in meinem Leben habe ich sie so wütend gesehen.
„BIST DU EIGENTLICH BESCHEUERT?!“, schreit sie und ihre Stimme ist so hoch, dass es in meinen Ohren schmerzt. Ich bin viel zu eingeschüchtert von ihren Wutausbruch, als dass ich ihr antworten könnte. Mein Schweigen scheint sie allerdings nur noch wütender zu machen. „VERDAMMTE SCHEISSE, WIR HÄTTEN DRAUFGEHEN KÖNNEN!“
Ich schlucke.
Wie wild fuchtelt sie mit ihren Armen nach vorne. „Siehst du DAS da?! Wolltest du allen Ernstes mit 250 Sachen um diese Ecke!?“
Stille.
Sie schnauft wie ein Tier und als sie merkt, dass sie von mir keine Antwort hören wird, legt sie ihr Gesicht in beide Hände, schüttelt den Kopf und atmet zwei Mal kräftig durch. Danach öffnet sie ihre Tür, kommt um den Wagen herum und reißt meine Seitentür auf. „Steig aus!“, blafft sie streng und langsam mache ich mich daran meinen Gurt zu öffnen. Zumindest versuche ich es immer wieder erfolglos.
Ich kneife die Augen zusammen und versuche mich darauf zu konzentrieren, das Zittern meiner Hände zu unterdrücken. Und endlich rastet der Gurt aus.
Mit wackeligen Beinen steige ich etwas umständlich aus dem Auto.
Mit einem Kopfnicken gibt mir Lucie zu verstehen, dass ich mich hinter sie setzen soll. Sie übernimmt jetzt das Fahren an meiner Stelle, was wahrscheinlich auch ziemlich sinnvoll ist.
Schweigend öffne ich die Tür und setze mich hinter den Fahrersitz. Etwas unbeholfen schließe ich wieder meinen Gurt und die Fahrt geht weiter. Dieses Mal jedoch weitaus langsamer und vorsichtiger. Ich kann es ihr nicht verübeln. Wären unsere Rollen vertauscht, dann hätte ich wohl genauso reagiert. Lucies Wut auf mich ist völlig berechtigt.
Die weitere Fahrt verläuft schweigend. Ich habe oft überlegt, ob ich etwas sagen sollte, aber mir ist dann immer bewusst geworden, dass ich keinen Schimmer hatte, was genau ich hätte sagen sollen.
Lucie schaut während der Fahrt fast nur auf die Straße. Ihre zusammengezogenen Augenbrauen verraten mir ihre Konzentration. Sie ist sehr darauf bedacht, nicht den gleichen Fehler wie ich zu begehen. Vereinzelt begegnen sich unsere Blicke im Rückspiegel und weil es mir irgendwie unangenehm ist, schaue ich dann schnellstens woanders hin.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hält Lucie vor unserem Haus und stellt den Motor ab. Eine merkwürdige Stille macht sich im Innenraum breit und ich fühle mich unwohl. Mein Gefühl sagt mir, dass ich das Schweigen brechen sollte, aber noch immer habe ich keine Idee, wie ich anfangen soll.
Irgendwann fasse ich all meinen Mut zusammen. „Ich-…“
„Du brauchst mir nichts zu erklären. Ich weiß, dass es nicht deine Absicht war.“
Sie dreht sich zu mir um und ein trauriges Lächeln huscht über ihre Gesichtszüge. Ich nicke und versuche ebenfalls zu lächeln.
„Trotzdem tut es mir leid.“, sage ich und öffne meine Tür, um auszusteigen.
Lucie fährt die Scheibe hinunter, als ich die Tür wieder schließe. „Soll ich mitkommen?“, fragt sie ein wenig ängstlich und ihr Blick geht zum Haus.
Ich schüttele den Kopf. Da muss ich alleine durch.
Sie nickt verständnisvoll, lässt den Motor wieder an, während die Scheibe wieder hochfährt, und fährt dann los.
Ich schließe die Haustür auf und augenblicklich kommt mir stickige, muffige Luft entgegen. Ich hätte öfter lüften müssen.
Schnellen Schrittes laufe ich die Treppe nach oben und trete ins Schlafzimmer ein. Gedämmtes Licht erhellt den Raum etwas und als ich eintrete, schaut Susan zu mir auf, die zuvor auf einem Stuhl in der Nähe des Bettes über meine Mutter gewacht hat. Sie ist eine recht dickliche Frau mit einer burschikosen, schwarzen Frisur. Ich schätze ihr Alter auf etwa Mitte dreißig, aber ich bin mir nicht ganz sicher.
Mit besorgter Miene tritt sie zu mir heran. Ihre Blicke sprechen Bände und ohne, dass wir auch nur ein Wort miteinander gewechselt haben, gehe ich an ihr vorbei zu meiner Mutter.
Als ich mich auf die Bettkante setze, höre ich, wie Susan leise die Tür hinter sich schließt. Ich bin ihr sehr dankbar, dass sie uns diesen Moment der Zweisamkeit schenkt.
„Mum…“, hauche ich leise, damit sie weiß, dass ich endlich da bin, und ergreife vorsichtig ihre Hand.
Ich erschrecke, als ich merke, wie leblos sie einfach nur da liegt und langsam und flach atmet. Ihre Augen sind geschlossen, aber anhand dessen, dass ihre Augenlider manchmal unruhig zucken, weiß ich, dass sie bei Bewusstsein ist.
Behutsam küsse ich ihre regungslose Hand und streiche mit meinen Daumen über ihren blassen, trockenen Handrücken. Ich merke, wie mir Tränen die Sicht verschleiern und kneife die Augen zu. Niemand hat so einen Tod verdient. Ich komme nicht umhin mich in Gedanken mal wieder darüber aufzuregen, wie unfair das Ganze doch ist.
Irgendwann prasselt es alles aus mir heraus und ich beginne ihr unter Tränen von meinen Gefühlen, Ängsten und Gedanken zu erzählen.
Dass es mir schwerfallen wird, ein Leben demnächst ohne sie meistern zu müssen.
Dass ich Angst vor dem Alleinsein habe, auch wenn ich weiß, dass meine Freunde immer hinter mir stehen werden, aber das nichts an meiner Trauer ändern wird.
Dass ich Krankenkassen für den Rest meines Lebens hassen werde.
Dass ich mir wahrscheinlich eine Wohnung suchen werde, weil ich das Haus alleine nicht halten kann.
Dass ich Angst davor habe, innerlich tot zu sein und ohne jegliche Empfindungen das Leben über mich ergehen lassen werde.
Dass Dad wahrscheinlich genauso traurig wäre wie ich, wenn er es noch miterleben würde.
Dass ich immer noch Schwierigkeiten habe, die Tatsache ihres Todes zu realisieren.
Dass sie mir einfach unwahrscheinlich fehlen wird und diese Lücke in meinem Herzen mit Bestimmtheit für den Rest meines Lebens bleiben und mich quälen wird.
Bei den letzten Worten, dass ich sie über alles liebe und sie für mich die beste Mutter der Welt ist, höre ich, wie aus ihrem leicht geöffneten Mund ein leises Wimmern erklingt. Zeitgleich löst sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel, während ihre Finger in meiner Hand kaum merklich zucken. Es bricht mir das Herz zu sehen, wie hilflos sie ist.
Schluchzend umklammere ich fest ihre Hand und rutsche vom Bettrand auf den Boden, wo ich auf die Knie sacke und haltlos weine.
Nachdem ich eine lange Zeit geweint habe und wie in Trance nun vor- und zurückwippe, fühle ich nichts. In mir ist eine gähnende Leere, die mich einfach nur stur geradeaus schauen und die Hand meiner Mutter festhalten lässt. Das geht eine ganze Weile so, bis mir irgendwann die Stille in den Ohren dröhnt.
Ich halte inne.
Etwas steif, drehe ich mich zu meiner Mutter um, die ohne jede Regung im Bett liegt. Angestrengt lausche ich auf irgendwelche Geräusche.
Nichts.
Ungläubig richte ich mich auf und lege meine Finger an den Puls an ihrer Hand.
Nichts.
Ich versuche es am Hals.
Auch nichts.
Vorsichtig halte ich meine Hand über ihren geöffneten Mund, aber ich kann keinen Atem spüren. Mein Blick geht zu ihrer Brust, die starr wie ein Brett ist.
Ich schlucke.
Ganz langsam und mit klopfendem Herzen lege ich mein Ohr an ihre Brust und konzentriere mich. Es vergehen einige Sekunden, die sich ausdehnen zu Minuten, weil ich noch immer auf einen Herzschlag warte.
Nach einer halben Stunde stelle ich mich aufrecht hin, nur, um dann anschließend in mir zusammenzusacken und bewegungslos am Boden zu liegen und vor mich hin zu starren ohne etwas zu sehen.
Meine Atemzüge werden hastiger. Ich habe das Gefühl, als würde jemand auf meine Brust drücken und mir die Luft abschnüren. Ein Kloß breitet sich in meinem Hals aus, sodass ich noch schneller atme, aber trotzdem das Gefühl habe, Luftmangel zu besitzen.
Ich brauche mehr Sauerstoff. Reflexartig schnellt meine Hand zu meinem Hals und will diese Schlinge, die verhindert, dass ich atmen kann, zerreißen, aber da ist nichts. Ich krümme mich zusammen und habe das Gefühl jeden Moment zu ersticken, als ich plötzlich begreife, dass sie tot ist. Meine Mutter ist gestorben, ohne, dass ich es mitbekommen habe. Einfach so.
Ich kralle meine Hände in meine Klamotten und beginne zu schreien. Und ich schreie. Und schreie. Und schreie, bis ich nicht mehr kann, weil ich wieder einatmen muss und beginne wieder zu schreien.
Jemand rüttelt an meiner Schulter, aber ich bemerke es nicht. Ich bin vollauf damit beschäftigt, meine ganze Wut, Frustration, Trauer und Enttäuschung hinauszuschreien, um den Ganzen Luft zu machen.
Ich beuge mich vornüber und kralle meine Hände in meine Haare, sodass es schmerzt. Der Schmerz tut gut, denn er lenkt mich etwas ab. Also ziehe ich noch stärker und der Schmerz wird intensiver. Ich ziehe noch stärker und stärker und reiße mir damit einige Haare heraus, aber es ist mir egal. Es ist immer noch besser den körperlichen Schmerz zu fühlen, als all die anderen Emotionen, die mich verzweifeln lassen.
Plötzlich werde ich grob an den Schultern gepackt und heftig geschüttelt. Ich bin so perplex darüber, dass ich aufhöre zu schreien und mir selbst weh zu tun. Da ist eine Stimme, die ununterbrochen auf mich einredet. Besorgt, aber auch traurig und verzweifelt. Eine männliche Stimme. Sie kommt mir bekannt vor, aber mein Gehirn kann sie nirgendwo einordnen. Obwohl ich die Augen aufhabe, beginne ich erst einige Sekunden später meine Umgebung wahrzunehmen und erkenne, dass es Craike ist, der versucht zu mir durchzudringen. Ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. Als er merkt, dass ich ruhig bin, streicht er mir die wirren Haarsträhnen aus dem Gesicht und befreit meine Finger von den ausgerissenen Haaren.
Ich lasse es zu und blicke zu Boden. Meine Gedanken driften ab und vor mir erscheint ein Bild meiner Mutter, wie sie tot in ihrem Bett liegt und sich nicht regt.
Ich beginne zu wimmern und, hätte ich nicht alle Tränen geweint, dann würde ich wieder anfangen zu schluchzen.
Mein Gesicht wird angehoben, aber mittlerweile ist mir alles egal. Die Hände kehren zu meinen Schultern zurück, schütteln mich erneut und zwingen mich wieder dazu wach zu werden.
„Sam, hör auf damit!“, ruft Craike mir zu, aber ich kann ihn nicht verstehen.
Warum lässt er mich nicht einfach in Ruhe? Er soll verschwinden! Sieht er denn nicht, dass es mir schlecht geht? Dass ich alleine sein will?
Allein. Das Wort hallt durch meinen Kopf. Ich habe niemanden mehr. Ich bin vollkommen alleine, auf mich gestellt. Keiner wird sich um mich kümmern. Ich bin völlig allein! Allein! Allein! Allein!
Ich halte mir die Ohren zu, aber das Wort ist wie ein nie enden wollendes Echo in meinen Gedanken und lässt sich nicht vertreiben. Heiße Tränen rollen meine Wangen entlang und tropfen auf meine Oberschenkel. Anscheinend habe ich doch noch Tränen.
Ich bin allein!, wispert es in meinem Kopf.
Ich schreie auf, krümme mich und schüttele den Kopf.
Es soll aufhören! Es soll verdammt noch mal damit aufhören!
Meine Hände werden weggerissen und von meinem Körper ferngehalten. Ich strampele wild um mich. Ich kratze und beiße und trete wie ein verrücktes Tier. Warum lässt man mich nicht los?
Irgendjemand ruft nach mir, aber ich ignoriere es. Warum hält man mich fest? Ich beginne wieder zu schreien.
Eine Hand legt sich auf meine Stirn und kurz darauf sacke ich kraftlos zusammen. Eine unbeschreibliche Wärme breitet sich in meinem Körper und beruhigt mich.
Tiefe Schwärze empfängt mich und verschlingt daraufhin mein Bewusstsein.
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