10. Kapitel - Ausflug

Ausflug:

Gelangweilt gucke ich die Tafel an, ohne diese hochmathematischen Formeln auch nur ansatzweise zu registrieren. Meine Aufmerksamkeit beschränkt sich heute auf das Wesentlichste, da mir schlichtweg meine Mutter ununterbrochen in den Gedanken herumgeistert. Mit anderen Worten: Ich bin jetzt schon seit einer geschlagenen Stunde dabei, mir immer und immer wieder Sorgen zu machen.

Mich quält die Frage nach dem „Danach…?“. Danach bin ich allein und hab wahrscheinlich auch keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll. Einzelkind ohne jegliche Verwandte. Ja, ganz recht. Keine Omas, keine Opas oder Tanten bzw. Onkel. Seltsamerweise ist es so, dass die Eltern meiner Eltern spät Kinder bekommen haben und die wiederum haben es allem Anschein nach ihren Eltern nachgemacht und mich ebenfalls etwas später bekommen als üblich. Folglicherweise sind meine Großeltern früh verstorben. Und genau wie ich waren auch meine Eltern Einzelkinder, was dann keine Tanten und Onkel ergibt.

Ich überlege. Klingt irgendwie ganz danach, dass meine Familie knapp am – wie sagt man so schön? – aussterben ist. Es sei denn, ich schaffe es, jemanden zu finden, der gefühlte 20 Kinder mit mir haben will. Ich stell mir gerade unter diesen Bedingungen ein Familienfoto vor. Ein Ehepaar umringt von etlichen Kindern. Sieht aus wie Kelly-Family für Arme.

Ich unterdrücke ein Lachen.

Langeweile bekommt mir anscheinend nicht sehr gut.

Ich schüttele grinsend den Kopf. Nein, es ist wirklich dringend Zeit für die Pause. Und wie aufs Stichwort ertönt die Schulklingel und reißt mich damit aus meinen lächerlichen Gedanken. Schnell packe ich meine Sachen und zusammen und flüchte geradezu aus dem Raum in den Pausenhof. Sobald ich draußen bin, schaue ich mich suchend um und entdecke Lucie, Ryan und Eddy in der Nähe einer Bank. Sie winken mir freudig zu. Meine beste Freundin ist die Erste, die mir kreischend um den Hals fällt.

„Alles, alles, alles Gute zum Geburtstag, Süße! Deine Geburtstagsparty wird der Hammer! Ich weiß auch schon genau, wo wir feiern werden!“ Wie ein aufgedrehter Flummi springt sie vor mir hin und her und klatscht dabei aufgeregt in die Hände, während mir Ryan und Eddy ebenfalls gratulieren. Ich hab ihre Begeisterung für die Planung von Geburtstagen nie ganz verstanden. Oft wirkt es sogar so, als wäre jedes mal sie diejenige, die Geburtstag hätte, weil sie so viel Freude und Aufregung ausstrahlt. Man kann sagen, dass sie ein ausgeprägtes Temperament hat.

„Wenn du das schon so sagst, dann macht mir das ziemlich Angst.“

Empört blickt sie mich an und hebt tadelnd den Zeigefinger. „So etwas will ich nicht hören!“

Ich seufze. „Na schön. Wo feiern wir?“, frage ich mit wenig Elan. Lucie überhört es einfach und geht nicht darauf ein, während sie mich, begeistert darüber, dass ich frage, an den Schultern packt und sagt: „Im Rendezvous!“

Stille.

Ich blinzele. Einmal. Zweimal. Und als ich beim dritten Mal immer noch ihre erwartungsvolles Gesicht sehe, tue ich einfach so, als hätte ich sie nicht verstanden.

„Was?“

„Im Rendezvous! Ist das nicht klasse? Ich weiß, ich hab voll deinen Geschmack getroffen, aber dafür brauchst du mir nicht zu danken. Immerhin bin ich ja deine beste Freundin.“

Ryan unterbricht mit einem Räuspern ihren Redeschwall. „Schatz, ich glaube Sam ist nicht ganz so angetan von der Idee.“ Verwundert über diese Aussage schaut sie zu ihm über die Schulter.

„Wie kommst du denn auf das Rendezvous?“ Langsam aber sicher sickert die Botschaft zu mir durch. Von allen 330 Orten dieser Stadt (einschließlich der Gartenanlage von Ryan und Eddy) hat sie sich ausgerechnet den ausgesucht, wo ich mich ohne Perücke und Brille nicht mehr blicken lassen kann.

„Na, du arbeitest dort und du hast gestern doch gesagt, dass es dir dort gefällt.“

„Ja, aber das ist eine Bar!“

Sie runzelt die Stirn. „Und?“

Ich beginne zu stammeln. „Da gibt es fast nur Getränke und kein Essen. Und dort wird auch geraucht und ich kann es mir auch nicht wirklich leisten.“

Sie lacht. „Süße! Dann nehmen wir eben Essen mit oder lassen uns das dorthin liefern. Dass dort geraucht wird, stört dich bei der Arbeit doch auch nicht und du musst ja nicht die ganze Bar mieten. Wir wollen ja einfach nur einen schönen Abend haben.“

Ich nehme ihre Hände von meinen Schultern und gehe einige Schritte zurück. „Aber wir können dort nicht feiern!“

Lucie verschränkt die Arme und sieht mich aus zusammengekniffenen Augen an. Ihr passt es absolut nicht, dass ich ihre Entscheidung infrage stelle, aber dafür habe ich momentan wenig Interesse. „Und wieso nicht?“, fragt sie gefährlich leise. Ich reibe mir die Stirn und suche panisch nach einer Ausrede, nur um dann festzustellen, dass es keine glaubhaft gute gibt.

Ergeben seufze ich. „Ich wurde gefeuert.“

„Was?!“, rufen Ryan, Eddy und Lucie wie aus einem Mund. Na toll. Jetzt wollen sie eine Erklärung.

Beschwichtigend hebe ich die Hände, als Lucie schon zu einem neuen Redeschwall ansetzen will. Also erzähle ich ihnen einfach die Wahrheit. Als ich schließlich fertig bin, gucken mich alle drei mit einer in Falten gelegten Stirn an. „Noch mal zum Verständnis“, beginnt Eddy und ich sehe an seinem Gesicht, dass er Mühe hat ,alles zu begreifen. „Du hast ein Mädchen quer durch den Raum geschleudert, obwohl es dir helfen wollte?“

Ich reibe mir seufzend die Nasenwurzel. Wieso hatte ich überhaupt das Thema angefangen? „Nein… Ja… Ich weiß auch nicht. Ich hab sie nicht einmal berührt, das ist ja das merkwürdige.“ Mein Blick richtet sich auf Lucie. „Jedenfalls können wir dort nicht feiern.“

Schweigen legt sich über die Runde. Nachdenklich stützt Lucie ihr Kinn auf ihre rechte Hand und tippt angespannt mit ihrer Fußspitze auf den Boden. „Das ist ein Problem. Ich hatte eigentlich fest damit gerechnet, dass das klappt.“ Frustration macht sich in ihr breit, während ich nervös auf meiner Unterlippe kaue. „Warum feiern wir nicht einfach bei Eddy und Ryan im Garten?“, schlage ich vor und ernte daraufhin einen Blick von meiner besten Freundin, der eindeutig besagt, dass das nicht infrage kam.

„Süße, das ist eine Party und kein Grillfest.“

Ich rolle mit den Augen.

„Außerdem wollen wir tanzen und feiern. Ich glaube kaum, dass wir die Anlage im Haus nach draußen in den Dreck stellen dürfen.“

Bei dem Wort „Dreck“ ziehe ich die Augenbrauen hoch. War sie eigentlich blind? Der Garten von Ryans und Eddys zu Hause ist tiptop! Da gibt es nirgendwo Unkraut oder Dreck! Die Eltern von den beiden sind extrem wohlhabend und beschäftigen um die acht Leute, die sich um das Haus und die Außenanlage kümmern. Es wäre geradezu ein Verbrechen, wenn ein Grashalm nicht im perfekten rechten Winkel zur Erde abstand. Das störende Objekt wird dann wahrscheinlich sogar mit einer Pinzette herausgezupft und verbrannt. Okay, nein, jetzt übertreibe ich. Aber glaubt mir: An diesem Garten kann man gar nichts aussetzen. Keine Ahnung, wo Lucie dort den Dreck gesehen hat. Ich tippe einfach auf Halluzination.

Ich stöhne genervt auf. Ich liebe meine beste Freundin, aber ihr so genannter Geburtstage-planen-Zwang ist wirklich anstrengend. „Gut, dann essen wir nur kurz dort etwas und fahren anschließend in eine Disco.“ Eigentlich habe ich nicht sonderlich Lust darauf, aber da ich weiß, dass sie anders nicht zu besänftigen ist, muss ich wohl oder übel mich dorthin schleppen lassen.

Sofort hellt sich ihre Miene auf. Wenn es um Discotheken geht, dann ist sie immer dabei. „Einverstanden!“, sagt sie und klatscht begeistert in die Hände. Himmel, worauf habe ich mich da bloß wieder eingelassen?

Wir sitzen jetzt ungefähr seit zehn Minuten in Lucies VW Golf und ich bin schon jetzt extrem genervt, extrem beschämt und extrem unmotiviert und das an meinem Geburtstag!

Nach der Schule sind wir vier gleich sofort zu Eddys und Ryans zu Hause gegangen, um die Garage ein bisschen herzurichten und das Essen vorzubereiten. Jeder, der die beiden nicht kennt und sie zum ersten Mal sieht, würde nicht einmal im Traum darauf kommen, dass sie Brüder sind.

Ryan ist eher athletisch und wirkt auf andere recht galant. Seine pechschwarzen, perfekt gestylten Haare sowie die ebenmäßigen Gesichtszüge mit den Schokoladenaugen erwecken den Eindruck, dass er zu den Bad Boys gehört, die jedes Mädchen eiskalt abblitzen lassen und sich nicht einmal im Ansatz über ihre gebrochenen Herzen Gedanken machen. Nun ja, ich weiß zwar nichts Genaues, aber soweit ich gehört habe, soll er wirklich so ähnlich gewesen sein. Zumindest bis er Lucie kennengelernt hat. Sie war auf einem Konzert von der Band, in der er spielt, und ist ihm auf der Suche nach einer Toilette begegnet, weil sie irrtümlicherweise in den Backstage-Bereich gekommen ist. Als Ryan sie daraufhin ausgelacht und sie ein Dummchen genannt hat, weil sie seines Erachtens zu blöd war, eine einfache Toilette zu finden, hat sie ihm kurzerhand mit einer Schelle gedankt, ihn in Grund und Boden mit zahlreichen Beleidigungen gebrüllt und ist ohne eines weiteren Wortes abgedampft. Irgendwie soll es dann gefunkt haben und der restliche Verlauf ist mir unbekannt.

Ich erinnere mich nur noch daran, dass sie ihn mir eines Tages in der Pause als ihren Freund vorgestellt hat.

Anfangs hatten wir Schwierigkeiten miteinander klarzukommen. Ryan hielt mich für eine einfältige, strohdumme Blondine und ich hatte immer die Befürchtung, dass er nur mit meiner besten Freundin spielen würde, sie ausnutzt und später niedergeschlagen alleine dastehen lassen würde. Nachdem wir es aber geschafft haben ,unsere gegenseitigen Vorurteile zu widerlegen, haben wir begonnen eine ernsthafte Freundschaft aufzubauen.

Bei Eddy war die ganze Sache schon etwas anders.

Ryan lud uns zu einer Party am Wochenende ein und dort begegneten wir nicht nur einer sagenhaft wunderschönen Villa, sondern auch einen sagenhaft angsteinflößenden Eddy. Er ist der reinste Bär. Absolut riesig mit gewaltigen (fast schon überdimensionalen) Muskeln. Seine Oberarme haben denselben Umfang wie meine Oberschenkel. Wenn das mal reicht! Egal was er auch trägt, man bekommt jedes Mal die Befürchtung, dass seine Klamotten bei der kleinsten Bewegung zerreißen, weil sie sich so stark spannen. Zudem sieht Ryans Bruder aus wie ein klischeehafter Ex-Knacki. Von oben bis unten tätowiert und gepierct. Ein kahlrasierter Kopf vollendet dann das Bild.

Als ich ihm das erste Mal auf der Party in die Arme gelaufen bin, wäre ich fast an die Decke gesprungen, weil ich mich so sehr erschrocken und gefürchtet hatte. Mittlerweile muss ich schmunzeln, wenn ich an die Angst und Panik zurückdenke, die ich in der Anfangsphase empfunden hatte.

Was kaum jemand ahnt: Eddy ist der totale Softie. Wenn man mit ihm dramatische und traurige Filme wie Titanic guckt, dann sollte man einen reichlichen Vorrat an Taschentüchern bei sich zu Hause haben, ansonsten besteht die Gefahr in seinen Tränen zu ertrinken.

Praktisch gesehen ist er wie ein Teddybär. Einfach zum Knuddeln!

Und weil er so ein toller Typ ist, ging er Lucie und mir gerne bei der Vorbereitung des Essens zur Hand. Es gab jede Menge Salate, Bratwürste, Steaks, Grillfleisch und na ja, eben noch alles andere, was man für ein Barbecue so braucht.

Wir haben ausgelassen erzählt und gefeiert und gegessen. Anschließend haben sie mir ihre Geschenke überreicht, während mir alle nochmals gratuliert haben. Der Abend war total entspannt und schön, BIS wir zur Disco aufgebrochen sind.

Unglücklicherweise läuft gerade im Radio von Peter Wackel das Lied „Joana, du geile Sau!“ und irgendeiner von den dreien kam dann auf die glorreiche Idee, den Songtext etwas umzuändern. Nun sitze ich hier und würde mich am liebsten irgendwo verkriechen, wenn meine Mitfahrer jedes Mal „Oh, Samantha, du geile Sau! Geboren, um Liebe zu geben (Du Luder!).  Verbotene Träume erleben (du Drecksau!). Ohne Fragen an Morgen danach“ grölen.

Wieso bin ich blöde Kuh jetzt nicht zu Hause? Habe ich etwa ernsthaft geglaubt, dass wir den ganzen Abend irgendetwas Langweiliges machen? Mittlerweile müsste ich sie doch gut genug kennen, um zu wissen, dass das nicht gut enden wird.

„Wenn ihr das in der Disco auch abzieht, dann seid ihr für mich gestorben!“, drohe ich möglichst ernsthaft, aber alles was ich damit bezwecke, ist, dass sie lachen und sogar noch lauter singen.

Wie lange ging dieses dumme Lied denn noch? Ich will nicht unbedingt mit knallrotem Kopf an die Türsteher vorbeigehen, also wäre es mal langsam angebracht, dass das hier ein Ende findet. Und fast wie aufs Stichwort verklingen die letzten Töne und ich atme erleichtert auf. Endlich!

Lucie, die hinter Ryan sitzt und links von mir, beugt sich zu Eddy vor, der wiederum vor mir sitzt. „Gibst du mir mal die CD’s im Seitenfach?“, fragt sie ihn, der ihr kurz darauf eine handvoll CD’s hinhält, die sie grinsend mit einem „Danke“ entgegennimmt. Ich habe irgendwie eine schlimme Vorahnung. Gezielt sucht sie sich zwei CD’s aus dem Stapel aus und überfliegt deren Songlisten. Nachdem sie allem Anschein nach einen Song gefunden hat, der ihr gefällt, übergibt sie Eddy die CD, der sie dann in den CD-Spieler legt.

Ich erhasche einen Blick auf das Cover der CD-Hülle und hätte mir am liebsten die Hände vor’s Gesicht gehalten.

Deutscher Partyschlager. Hat dieser Albtraum denn nie ein Ende?

Der erste Song ertönt in den Autolautsprechern und – Oh, Wunder! – es ist natürlich wieder Peter Wackel mit „Joana“.

„Ich hasse euch!“, rief ich gegen das Gebrülle des Trios an und versuche mir die Ohren zuzuhalten.

Lucie, die blöde Kuh, hakt sich aber daraufhin bei mir ein und beginnt mit mir auf den Hintersitzen zu schunkeln.

Aller Widerstand ist zwecklos, also lasse ich es unkommentiert geschehen.

Eins steht auf jeden Fall fest: Das werde ich ihnen heimzahlen!

Meine beste Freundin zwickt mich in die Seite und ruft mir zu, endlich mitzusingen, woraufhin ich mit einem klaren „Auf gar keinen Fall!“ antworte. Sie zieht eine Schmollschnute und zwickt mich immer weiter. „Nun los! Ich weiß doch, dass du keine Spaßbremse bist!“ Sie lacht und ich muss grinsen. „Na schön. Aber nicht mit meinem Namen!“

Sie zuckt mit den Schultern. „Kein Problem“, erwidert sie und hakt sich wieder bei mir ein, um weiterzuschunkeln. Geschlagen setze ich schließlich beim Refrain ein und bin erleichtert, dass sie sich an die Abmachung halten und wir nun zusammen die Originalfassung singen.

Und auch wenn es mir nicht leicht fällt, eine Tatsache einzugestehen, so muss ich doch sagen: Schlagerlieder machen irgendwie gute Laune, ob man nun will oder nicht.

Die Luft ist stickig und geschwängert von Zigarettenrauch und Alkohol, aber das interessiert so gut wie niemandem, weil die Stimmung dafür einfach zu gut ist.

Ich gebe zu, anfangs war ich skeptisch, was den Ausflug hierher betraf, aber mittlerweile bin ich doch ganz froh, hier zu sein und mich ablenken zu können.

Die Tanzfläche ist völlig überfüllt und dementsprechend heiß ist mir langsam auch. Zusätzlich kommt noch das Tanzen hinzu, sodass ich irgendwann das Gefühl habe, nicht in einer Disco sondern Sauna zu sein.

Als es mir dann eindeutig zu viel wird, gebe ich den anderen ein Zeichen, dass ich mich kurz hinsetzen und verschnaufen werde. Lucie geht mit mir zu einer der vielen Bars und bestellt uns beiden dann eine Cola. Sobald ich mich hingesetzt habe, beginne ich kräftig durchzuatmen. Mir ist gar nicht bewusst gewesen, dass ich totalen Sauerstoffmangel hatte.

Hastig wedele ich mir mit der Hand Luft zu, um mein erhitztes Gesicht wenigstens etwas zu kühlen. Es klappt nicht wirklich.

Der Barkeeper stellt zwei riesige Gläser mit Cola auf den Tisch und noch bevor es eine Sekunde darauf verweilt, halte ich es schon in den Händen und sauge gierig an meinem Strohhalm. Gott, tut das gut!

Ich stöhne genüsslich auf, als sich endlich mein Körper wieder durch das kühle Getränk akklimatisiert. Amüsiert schaut Lucie zu mir rüber, während sie langsam und ladylike trinkt.

Ihr Blick ist irgendwie merkwürdig und als ich meinen Durst gestillt habe, komme ich nicht umhin, sie verwirrt anzugucken.

„Was ist? Hab ich irgendetwas im Gesicht?“, frage ich resigniert und fasse mir an die Wange.

Ihr Grinsen wird breiter und sie schüttelt den Kopf, als sie langsam ihr Glas auf die Theke stellt. „Du bist echt ein Blindfisch!“, wirft sie mir lachend an den Kopf, woraufhin ich nur die Stirn in Falten legen kann. Was habe ich denn bitte so Offensichtliches nicht bemerkt?

Mein Schweigen ist ihr Antwort genug, denn nach einem weiteren Lachanfall klärt sie mich dann auf. „Also ehrlich! Interessierst du dich überhaupt nicht für andere Jungs? Der Barkeeper eben wollte mit dir flirten, aber du hast ihn gar nicht beachtet. Stattdessen reißt du ihm schnell das Glas aus der Hand und würdigst ihn keines Blickes. Er war ziemlich enttäuscht, dass du deinem Colaglas mehr Beachtung geschenkt hast als ihm.“

Ich lasse meinen Blick über der die Theke schweifen, bis er an einem overdressed-aussehenden Transvestiten hängen bleibt.

Geschockt blicke ich meine beste Freundin an, die kurz darauf einen erneuten Lachanfall bekommt und sich sogar schon die Tränen aus dem Gesicht wischt. Ich finde das alles andere als komisch.

„Du hättest mir echt die Erkenntnis ersparen können, dass ich anziehend auf Transsexuelle wirke.“, murre ich vor mich hin und sauge erneut an meinem Strohhalm, während ich mich mit meinen Ellenbogen auf der Theke abstütze. Nicht, dass ich etwas gegen solche Leute habe. Meiner Meinung nach soll jeder das ausleben, was er gerne sein möchte, aber die Vorstellung mit so jemanden zusammen zu sein, ist einfach nur absurd für mich.

Nachdem Lucie sich noch immer ihren Bauch vor Lachen hält, gucke ich grimmig zu ihr rüber. Was ist denn so witzig daran?

„Ich meinte doch nicht den!“, bringt sie irgendwann keuchend hervor. „Sondern ihn da hinten“ Ihr Finger zeigt in die andere Richtung der Bar, wo ein hochgewachsener Junge die zahlreichen Bestellungen entgegennimmt und ein Glas nach dem nächsten mixt.

Skeptisch ziehe ich die Augenbrauen hoch.

Klar, er ist niedlich, aber nicht wirklich mein Typ.

Ich drehe mich wieder zu Lucie um, die sich wieder gefangen hat, aber noch immer sichtlich amüsiert ist. „Ich weiß nicht“, sage ich dann und trinke meine Cola aus.

„Was weißt du nicht?“, fragt meine beste Freundin mich verwirrt und leert ebenfalls ihr Glas.

„Er wirkt ein bisschen jung.“, gebe ich zu bedenken und mustere ihn noch einmal.

„Sam, also wirklich! Ich glaube kaum, dass hier Minderjährige arbeiten dürfen, wenn die hier auch unbeaufsichtigt alkoholische Getränke mixen.“ Da ist was dran.

Mein Blick fällt auf Ryan und Eddy, die jetzt ebenfalls von der Tanzfläche zu uns herüber schlendern und sich jeweils rechts und links von uns platzieren. Ich bin recht überrascht wie fit die beiden noch aussehen, als ich deren verschwitzte Gesichter sehe.

Der Junge von vorhin kommt jetzt wieder zu uns, nimmt die leeren Gläser von der Theke und fragt, ob wir noch etwas möchten.

Noch bevor Lucie auch nur ansatzweise auf die Idee kommen kann, ihm meine Handynummer oder sonstiges zu geben (und ich sehe eindeutig Potential dafür in ihrem Gesicht, dass sie darauf kommen könnte), verneine ich, bezahle die Getränke und ergreife Lucies Arm, um sie mit auf die Toilette zu schleifen. Verdattert läuft sie mir hinterher und als wir vor den Kabinen stehen, lasse ich sie los. Unschlüssig, ob ich in einer dieser Kabinen auf Toilette gehen soll, stehe ich einfach nur davor. Eigentlich müsste ich wirklich, aber wenn ich mir das ganze so angucke, klingeln meine gesamten Alarmglocken bei der Vorstellung, mich auf eines dieser ekelhaften Dinger zu setzen. Wurde der Raum hier eigentlich auch mal geputzt?

„Ist es wirklich das, wofür ich es halte?“

Ich brauche nicht Lucie anzusehen, um zu wissen, dass sie das gleiche denkt wie ich. Der Hygienezustand war einfach grauenvoll!

Ich zucke mit den Schultern. „Damit hat sich dann wohl der Toilettengang erledigt. Bei dem Anblick verkneife ich es mir lieber.“, sage ich schließlich und greife schon nach der Türklinke, als mein Handy klingelt.

Lucie und ich tauschen kurz einen Blick, der unsere gemeinsame Verwunderung über den späten Anruf ausdrückt.

Schnell krame ich mein klingelndes Handy aus meiner Handtasche und runzele die Stirn, als meine Hausnummer auf dem Display erscheint. Ich drücke auf den grünen Hörer.

„Ja?“

„Sam! Oh, Gott sei Dank gehst du ran!“, ertönt am anderen Ende der Leitung und ich kenne diese Stimme nur zu gut. Sie gehört Susan, der ärztlichen Betreuerin meiner Mutter, und augenblicklich krampft sich mein Herz zusammen. Wenn sie von zu Hause aus anrief, dann konnte das nichts Gutes bedeuten.

Ich schlucke und versuche mich zu beruhigen, als ich schließlich die unausweichliche Frage ausspreche: „Ist etwas mit meiner Mutter?“ Ich habe Angst vor der Antwort, aber ich zwinge mich hinzuhören, als Susan antwortet. „Sam“, beginnt sie und ihr Tonfall sowie die Pause gefallen mir gar nicht. „Ich glaube es wäre besser, wenn du auf dem schnellsten Wege nach Hause kommst…“ Den Rest verstand ich nicht mehr, denn ich ließ vor Schock mein Handy zu Boden fallen.

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