58 ☾ SIE

»Ist der nächste Tag angebrochen?«, murmele ich fragend noch vollkommen benommen. Im nächsten Augenblick werden meine Beine unruhig. Die Decke zuckt über mir. Schweiß bricht aus, mein Körper trieft von jetzt auf gleich. Unzählige Bilder schießen mir vor meine geschlossenen Augen ... Es soll stoppen!

»Jeu ...« Diras Stimme. »Tut mir leid«, sagt sie sanft und streichelt mich. Ich konzentriere mich darauf. »Ich wollte nur nach dir sehen, weil du so lange schon hier liegst«, erklärt sie weiter. Ein wenig kann mich ihr Klang entschleunigen. Sie spricht weiter, was mich beruhigt und wieder eindösen lässt.

Klappernde Geräusche wecken mich. Sie zwingen meinen Körper dazu, aus dem Ruhemodus zu erwachen. Es ist nicht derart grauenvoll wie beim letzten Mal, aber ich fühle mich nicht bereit. Für die Außenwelt. Wie sollte ich auch? Wie könnte ich? Aus den Räumen der Hütte dringen Stimmen zu mir. Eine männliche darunter. Aufregung macht sich breit. Nervös stehe ich auf. Meine Beine sind wacklig, aber meine Neugierde will es wissen. Nicht nur die. In meinem Bauch flattert es. Hoffnung keimt auf. Mit schwitzigen Fingern öffne ich Diras Tür und schleiche zum Gemeinschaftsraum vor.

An der Schwelle vom Flur zu dem Raum bleibe ich stehen; beobachte das Treiben. Lesuna unterhält sich mit Wilma im Küchenbereich und zeigt ihr dabei Kräuter. Fritzi liegt geradeaus nahe der Tür. Da sie ihr eines Ohr spitzt, ist mir bewusst, dass sie alles sehr genau wahrnimmt, auch wenn sie ihre Augen zu hat. Am Küchentisch sitzt Dira und trinkt vermutlich ein zubereitetes Getränk ihrer Ma. Oder von Wilma? Die männliche Stimme erklingt erneut. Und ich kann sie klar einordnen. Er kommt von rechts aus der Stube und bewegt sich auf die drei Frauen zu. Cil. Mein Herz macht einen Hüpfer. Er ist wieder da; hat es geschafft. Hinter ihm antwortet jemand. Ich habe Cil nicht zugehört, daher verstehe ich den Zusammenhang nicht. Es klingt zwar nach einem Mann. Aber ich weiß, wer es nicht ist. Meine Freude wird gedämpft. Nilo erscheint in meinem Sichtfeld.

Ich freue mich für sie alle und über alle, doch ... ich wünschte mir so sehr, dass auch Frederik hier ist.

»Schätzchen«, höre ich Lesunas warme Stimme.

Ich gehe auf Cil zu, schließe ihn in meine Arme, denn ich bin überglücklich, dass er wohlbehalten zurück ist. Er bedeutet mir unendlich viel. »Ist er auch wieder da?«, frage ich hoffnungsvoll nach.

»Es tut mir leid, Jeu ... Er ...«

»Er was?«, hake ich nach. Tränen kämpfen sich bereits an die Oberfläche. Das Schlimmste habe ich bisher nicht gefürchtet. »Ist Frederik ... Ist er ...« Ich schaffe es nicht, es auszusprechen.

»Nein, oh nein«, spricht er schnell. »Lass uns gleich in Ruhe reden. Setz dich erst einmal hin und komm zu Kräften. Du hast scheinbar mehr als drei Tage in dem Bett gelegen.«

Nickend setze ich mich. »Hier. Wilma lernt schnell. Dira schmeckt es sichtlich sehr«, sagt Lesuna und stellt mir die Schale mit dem grünen Getränk hin.

»Danke.« Ich puste in die Schale und beobachte, wie leichte Wellen nach außen gedrängt werden. Als ich meinen Blick davon losreißen kann, probiere von dem mild riechenden Gebräu. »Es schmeckt wirklich gut, Wilma.«

»Danke dir, Jeu«, sagt sie erfreut.

Nilo verabschiedet sich, um die Stellung beim Portal einzunehmen. Es gibt also noch Hoffnung. Dira, die neben mir sitzt, hält meine Hand, was mir guttut. Doch ich kann gerade an nichts anderes denken als an Frederik und die anderen, die noch dort sind. Als die Atmosphäre von einer annehmbaren Ruhe zu einer angespannten Stille wechselt, beschließen Wilma und Lesuna eine Runde durch das Dorf zu machen, um zu schauen, ob irgendwo ihre Hilfe benötigt wird. Dira schließt sich ihnen an.

»Wann kommen sie endlich? Ist etwas schief gegangen?«, frage ich direkt, als alle aus der Hütte hinaus sind.

»Möchtest du nicht wenigstens etwas essen?«

»Weich bitte nicht aus«, erwidere ich.

»Ich möchte nur nicht, dass es dir schlecht geht.«

Provokant schnappe ich mir das kleinste Frucht-Stück und schiebe es mir in den Mund. »Und?«

Cil lässt seine Schultern sinken. Ich weiß, er meint es nur gut. Als seine Augen trüb werden, wird mir bewusst, dass er es bis vor Kurzem ebenso in dieser furchtbaren Situation steckte. Ich lege meine Hand auf seinen Arm. Daraufhin beginnt er mir zu erzählen, was er weiß, und dass wir nur abwarten und hoffen können. Dass er erst seit heute zurück ist. Er war etwa dreieinhalb Tage für uns fort.

Hoffnung. Ich muss mich an diese Hoffnung klammern! Bevor mich alles erdrückt, laufe ich raus. Cil ruft mir noch etwas hinterher, aber das ist mir egal. Die leichte Brise der frischen freien Luft tut mir gut. Zu gut. Doch gleichsam spüre ich durch sie, welchen Schmerz ich in mir trage. Die Spuren auf meinen Wangen macht sie deutlich. Mein Körper ist noch nicht wieder klar, dafür habe ich womöglich zu lange gelegen. Aber ich ringe mit mir. Ich schaffe es. Wenigstens bis zum Ufer. Dort lasse ich mich nieder. Fritzi an meiner Seite. Stumm und traurig verweilen wir dort.

In der Nacht kehre ich zurück, schlüpfe zu Dira ins Bett und kuschele mich an sie heran. Mit meinen Fingern streiche ich durch ihre Haare, die ihr Rot besonders im Mondlicht preisgeben. Dira bedrängt mich nicht, dafür bin ich ihr dankbar. Irgendwann schlafe ich ein.

Am nächsten Morgen husche ich bewusst früh aus dem Bett, wasche mich und schlüpfe lautlos durch die Tür hinaus. Mit Fritzi. Auf dem Weg sammle ich ein paar Blumen ein, die bereits abgefallen sind. Ich bin auf der Flucht vor allem und jeden. Zumindest bis ich Gewissheit habe. Ich flechte ein paar Halme und verknote diese um die gesammelten Blumen herum. »Ich danke dir, Waldtraud. Für alles. Ich wünsche dir viel Ruhe und Harmonie auf deinem weiteren Weg«, spreche ich zum Fluss und lege die Blumen hinein. Ich weiß, ich kann mich nicht ewig verstecken. Bald muss ich bereit sein. Aber nicht heute. Wieder verbringen wir den Tag bis zum Einbruch der Nacht am Flussufer und der nächste Tag wird genauso wie dieser.

Wie in einer Schleife gefangen, erkenne ich den Ausgang nicht mehr. Immer wenn es Cil gelingt, mich zu erwischen, spricht er von der Zeremonie, doch ich bin nicht so weit. Warum versteht er das nicht? Die anfängliche Hoffnung schwindet allmählich. Mit jedem Tag sinkt die Chance. Ich kann es in der Luft spüren, dass es nicht nur mir so geht. Dazu wird die Gemeinschaft unsicher. Was wird aus der kleinen Jeu? Klein? Ich verstehe es und doch ... Es ist nun bald eine Woche her ... Viel und wenig zugleich. Es fühlt sich verdammt lange an und gleichzeitig wissen wir, dass es auf der Erde so verdammt wenig ist.

Vielleicht kommen sie noch. Vielleicht endlich heute. Vielleicht sollte ich mich doch auch mal dort blicken lassen. Stockend bewege ich mich vorwärts.

»Jeu!« Mist. Cil schon wieder und ich kann mir genau denken, was er möchte. »Die Zeremonie muss geplant werden, Jeu.«

»Wie oft soll ich es dir denn noch sagen, Cil?« Ich drehe mich zu ihm um.

»Du weißt, dass wir nicht ewig warten können.« Cil vermeidet den Augenkontakt. Er fühlt sich nicht wohl dabei.

»Ich kann nicht. Nicht so.« Ich will mich schon abwenden, doch er hält mich an der Hand fest. Nur leicht.

»Ich kann dich verstehen, aber du weißt, dass es sein muss.«

»Ich gehe spazieren. Bis später«, weiche ich aus.

»Okay, dann später.«

Ich laufe und laufe, mein Atem geht schnell, viel zu schnell. Meine Lunge brennt. Das alles ist mir egal. Ich habe es in Cils Augen gesehen. Er sieht keine Hoffnung mehr. Als ich durch das Tor renne und über den Pfad sprinte, bloß in den Wald hinein, schreie ich los. Lass es raus. Es tut weh. Mehr. Einfach mehr. Ich versuche alles hinaus zu schreien, was in mir ist. Fritzi erschreckt sich so sehr, dass sie hochspringt und nach vorne jagt. Dort wartet sie nun auf mich. Etwas befreiter setze ich mich wieder in Bewegung. Über den Hauptpfad laufe ich durch – Fritzi an meiner Seite –, bis ich auf der anderen Seite durch einen Bogen aus Baumkronen herauskomme. Immer noch renne ich weiter. Geradewegs darauf zu. Auf das Meer. Auf dem Sand angekommen, schüttle ich die Schuhe ab. Ich will es unter meinen Füßen spüren. Über den groben spürbaren Untergrund laufe ich bis zu meinem Platz weiter, der mein Inneres etwas erwärmen kann. Dabei schaue ich mich um. Diese kostbaren wunderschönen Pflanzen mit ihren breit gefächerten Blättern. Ich liebe es. Viel zu lange musste ich hier drauf verzichten.

Ich halte kurz inne, stütze mich auf meinen Beinen ab, schaue noch einmal zu dem Plateau, sehe vor meinem geistigen Auge Frederik und mich – erst vor Kurzem – und nehme dann noch einmal Anlauf. Erst als ich mich hüfthoch im Wasser befinde, komme ich zur Ruhe.

Laute Planschgeräusche lassen mich herumwirbeln. »Fritzi!«, lache ich. »Wir stehen treu zueinander, oder?« Sie schleckt mir irgendwie durchs Gesicht. »Ich nehme das mal als ein Ja.«

Nach kurzer Zeit schwimmt Fritzi zurück zum Strand, schaut sich jedoch immer wieder um nach mir. Obwohl ich um weitere Hintergründe zu Mamas Tod erfahren habe, nimmt das keinen Einfluss auf die Bindung zum Meer. Hier fühle ich mich ihr am nächsten und auch Papi von nun an.

»Ich vermisse euch. Achtet auf Frederik und all die anderen. Bitte. Ich komme bald wieder.«

Eine kleine Welle von hinten stupst mich an. Ist das ein Zeichen? Ich drehe mich um und sehe keinen ersichtlichen Auslöser für diese Welle.

Was hat das zu bedeuten?

Schnell mache ich mich auf den Weg durch das Wasser zurück zum Strand. »Fritzi!«, rufe ich sie und winke sie heran. Dann laufe ich erneut – ohne meine Schuhe einzusammeln –, dieses Mal zurück und direkt zum Trainingslager. Von weiter weg höre ich mehrere lose Stimmen und ein Durcheinander. Je näher ich komme, desto lauter wird es. Und desto mehr Menschen sehe ich. Neue und bekannte Gesichter.

»Jeu! Jeu!«, höre ich freudig von links rufen. Doch ich sehe Dira nicht. Es ist zu viel los.

Ich bin völlig außer Atem, lasse meine Augen über alle hinweg huschen. Ich bin so glücklich, dass es so viele geschafft haben. Dank an den Mond. Bin ich froh!

»Wo ist ... Ist er ...« Sorge macht sich in mir breit. Jemand tippt mir auf die Schulter. Ich wirbel herum. »Dich kenne ich doch«, stoße ich aus.

»Ja, wir kennen uns. Ich bin Kara. Hallo Mondmädchen.«  

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