56 ☾ SIE

»In Ordnung«, sage ich zu Wilma. Ich ziehe das Tuch wieder über mein Gesicht und stülpe mir einen Handschuh von Wilma über die Hand, sodass mein Mond-Armband nicht mehr sichtbar leuchtet.

Sie öffnet daraufhin die Tür und wir schlüpfen leise hinaus in die Nacht. In der Ferne ist dicker Rauch zu sehen, das ist kein gutes Zeichen. Ich blicke zu ihr. Scheinbar denkt sie das Gleiche.

»Vermutlich wissen sie von euch«, spricht sie meine Sorgen aus. »Ich weiß es nicht. Ich war die ganze Zeit hier.«

»Lass und so schnell wie möglich auf dem besten Weg zum Gipfel gehen«, sage ich.

»Zum Gipfel? Dahin gehen wir also.« Zunächst blickt sie nachdenklich, dann grinst sie. »Okay, dann überlass mir die Führung. Es gibt einen Weg, den nicht viele kennen.«

Zu meinem Erschrecken führt sie mich den Weg entlang zum Wald. »Das ist doch aber die entgegengesetzte Richtung«, stelle ich ebenso laut fest.

»Pscht«, erwidert sie. »Vertrau mir.«

Wir laufen an der Stelle vorbei, an der Frederiks Hütte einst stand. Gemischte Gefühle steigen in mir hoch. Sie alle haben das nicht verdient. Und das nur wegen mir. Gegen die erneut aufkommenden Tränen kämpfe ich an. Ich brauche meine Kraft und Aufmerksamkeit jetzt. Noch vor dem Wald zieht Wilma mich an der Hand nach links. Ich bin glücklich darüber, nicht wieder in dieses lichte Etwas hineingehen zu müssen.

Wir steigen über einen kleinen Abhang, der bestimmt einmal zu einem Bachlauf führte, doch nun ist dort nur noch trockene, rissige Erde. Auf der anderen Seite ist das Feld, auf dem ich vor Kurzem ebenso verweilte, nur etwas weiter oben. Hier jedoch ist es ähnlich wie auf der Wiese, die ich kenne. Halme wachsen noch teilweise hoch, sodass sie uns verschlucken und wir für die Umwelt nicht mehr zu sehen sind. Dazwischen gibt es bereits einen niedergetrampelten Pfad. Eine schmale Linie. Auf der wir uns nun fortbewegen. Weit weg von dem eigentlichen parallelverlaufenden Weg. Durch die hohen Halme dringen kaum Geräusche an uns heran. Rechts und links sowie vor und hinter ist zudem nichts anderes. Schweigsam gehen wir einen Schritt nach dem anderen. Zwischendurch gelangt der pfeifende Wind zu uns.

»Jetzt sind wir auf der Höhe des Berges. Siehst du?«

Ich blicke nach links. Nickend stimme ich ihr zu. Aber wie kommen wir dorthin, ohne Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen? Wilma geht bereits vor und ich folge ihr. Weiterhin auf einem bereits vorgetrampelten Weg. Jedoch wird ab hier deutlich, dass dieser hier noch weniger genutzt wird. Manchmal müssen wir zweimal hinschauen, ob wir noch auf dem richtigen Pfad sind. Wilma meint, dass dieser uns direkt beim Berg ausspuckt.

Nach ein paar Irrungen haben wir es geschafft. Erleichtert und mit den Nerven am Ende bin ich froh, wenn wir diesen Abhang hinaufklettern können. Damit wir zu dem Backteam gelangen und wir nach Lun-Vale können. Nur noch dieses kleine Stück trennt uns davon. Ich möchte auch die anderen warnen ... Obwohl ich mittlerweile glaube, dass sie es bereits wissen; eher spüren. Die riesige Rauchwolke ist ein Zeichen dafür gewesen, auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte, und je näher wir dem Gipfel kamen, desto mehr Geräusche drangen zu uns vor. Wir konnten sie zwar nicht ganz eindeutig einordnen, aber wir können es uns denken.

Wilma will vorgehen, doch ich lasse sie nicht.

»Mich kennen sie, dich nicht«, halte ich dagegen. Ich gehe also etwas vor, kralle mich beim Abhang an etwas fest und luge hinüber. Es sieht noch sicher aus. Ich winke Wilma herüber und krabbele selbst das letzte Stück hoch. Oben blicken sie mich direkt an, halten jedoch inne, als ich den Handschuh ausziehe und sie mein angeborenes Mond-Armband sehen. Ich warte auf Wilma und nehme ihre Hand. Zusammen gehen wir zu dem Zelt des Backteams.

»Ich möchte sie nach Lun-Vale bringen«, spreche ich bestimmt aus.

»Jeu? Bist du das?« Oh nein. Maia. Natürlich erkennt sie meine Stimme. So lange, wie wir uns schon kennen.

»Natürlich ist das Jeu«, antwortet Wilma. Ich lasse meinen Kopf sinken. »Tut mir leid. Ich wusste nicht ... Tut mir leid«, stammelt sie leicht unbeholfen.

»So natürlich ist das nicht. Sie ist immerhin unsere neue Staatsoberhäuptin.« Verwunderung und Staunen liegt in ihrer Stimme.

»Wirklich? Ist das wahr?«, fragt Wilma überrascht.

»Ja, das ist wahr«, antworte ich gequält. »Ich möchte Wilma dann bitte nach Hause bringen.«

»Selbstverständlich.«

Ich übergebe Wilma das Armband, was sie sich direkt umlegt. Maia bereitet alles weitere vor. Ich drehe mich um und halte Ausschau. »Maia? Kamen schon andere für die Evakuierung?«

»Ja. Cil und eine Frau von hier haben einige bereits evakuieren können. Es ist noch nicht lange her, dass wir die letzten rüberreisen lassen konnten.«

»Und wo ist Cil nun?«

»Er und die Frau sind wieder hier und sind zu den anderen zurück. Es ist wohl ein heftiger ... Konflikt ausgebrochen«, gibt sie mir Auskunft. Traurigkeit schwingt mit.

»Es ist ernst oder?« Meine Stimme klingt genauso.

»Ja, Jeu. Sieht so aus.«

»Wilma, bitte erzähle alles an eher geheimen Informationen wie diesen Weg, den wir gegangen sind.«

Maia notiert sich alles in dem mobilen Gerät, welches auch die Koordinaten gespeichert hat.

»Danke Wilma. Das könnte wirklich nützlich sein. Jetzt müsst ihr aber wirklich los. Der Tag bricht bald an«, erinnert sie mich vor allem.

»Haltet durch, Maia. Und denk daran, es ist nicht das Wichtigste, lange auszuharren und viele Leben zu riskieren. Wir können wiederkommen.«

Dann nehme ich Wilma an die Hand und führe sie durch die Reise. Sie ist viel ruhiger, als es Frederik war. Als könne sie es kaum erwarten, als hätte sie viele Jahre nur auf so etwas gewartet und sich darauf vorbereitet. Mit verschlossenen Augen steht sie vor mir. Ihre Hände liegen ruhig in meinen. Meinen Worten lauscht sie scheinbar nur halb. Das ist in Ordnung. Es soll nur richtungsweisend sein.

Als ich mir sicher bin, dass sie ihren Weg findet, konzentriere ich mich auf meine Reise. Das Rauschen der Wellen kommt aus dem Hintergrund nach vorne. Die Wellen bäumen sich auf. Kommen angesaust an den Strand. Und geben die Sicht frei auf das, was dahinter liegt. Diras Gesicht. Und wie wir unsere Gesichter aneinander lehnen. Das Rauschen führt mich fort ...

Ich rieche die angenehme Luft, viel reiner und durchzogen von fruchtigen und naturbehafteten Aromen. Wir sind wieder da. Es ruckt durch meinen Körper. Wir – Wilma und ich – sind da, ja. Aber Frederik ... und Cil ... und viele andere sind noch dort.

Etwas Feuchtes stupst gegen meine Hand. Ich öffne die Augen, sehe in Wilmas lächelndes Gesicht, in deren Augen sich jedoch genauso Kummer spiegelt. Dann schaue ich zur Seite und sehe Fritzi. Die mich mit ihrer Nase nochmals anstupst. Ich bücke mich zu ihr hinunter und umarme sie. »Er wird bestimmt wiederkommen«, flüstere ich ihr zu. Er muss.

»Jeu! Jeu!«

Ich drehe mich nach links und sehe, wie Dira auf mich zu rennt.

»Jeu.« Dira ist bei mir angekommen und drückt mich fest an sich. »Du bist wieder da.«

»Ja. Das habe ich dir doch versprochen.«

An ihr vorbeischauend erblicke ich Lesuna. Und viele andere. Einige Gesichter, die ich nicht kenne, zu denen Wilma nun geht. Einige Gesichter, die mir vertraut sind. Die Atmosphäre ist bedrückend. Viele Emotionen schwingen umher. Trauer, Glück, Unsicherheit, Schuld ... Sie alle schauen gebannt auf mich.

Ich drücke mich näher an Dira heran und vergrabe mein Gesicht in ihrer Schulter. Ihre rot-braunen Haare schmiegen sich sanft an mich.

Kraftlos beginne ich zu schluchzen. Ich kann nicht mehr.

Sie tuscheln hinter mir, neben mir, vor mir ... Überall. Ich weiß nicht, wie lange ich dem standhalten kann. Stark müsste ich sein. Aber ich kann nicht. Kraftlos bin ich.

»Mondmädchen? Bist du nicht das Mondmädchen?«, traut sich eine zaghafte Stimme entgegen der anderen lauter zu sagen.

Die Menge raunt.

Ich kann mich ihnen jetzt nicht stellen. Was soll ich denn sagen? Dass ich nicht weiß, was mit den anderen ist? Dass ich keine Ahnung habe, wann sie kommen? Dass ich genauso unsicher und sorgenvoll bin?

Eine Enttäuschung bin ich. Für meine Familie. Familie ... Cil ... Dira und Lesuna! Lieber Mond, tu doch etwas!

»Sollen wir gehen?«, fragt Dira vorsichtig nach.

»Muss ich nicht irgendetwas sagen?«, entgegne ich, nicke jedoch gleichzeitig auf ihre Frage hin.

Ohne mir eine Antwort zu geben, drückt Dira mich ein Stück von sich, doch nur, um meine Hand in ihre zu nehmen. Sie zieht mich in die Richtung von Lesuna, die schon auf uns zu kommt. »Schätzchen. Ich bin so froh. Komm her.« Auch sie schlingt ihre Arme um mich. Dira flüstert ihrer Ma etwas zu, wovon ich nur Bruchstücke erhaschen kann. Zu überfordert bin ich von allem.

»Sollen wir die Frau mit zu uns nehmen?«, wendet sich Lesuna an mich.

»Hm?«

»Die Frau, mit der du hier angekommen bist. Sollen wir ihr bei uns ein Bett herrichten?«

»Ich ... Ich ...«, stammele ich. Denn ich weiß nicht, was Wilma möchte. Ich schaue mich um, doch das Bild vor mir ist unklar, es verschwimmt nur mehr. Ein Haufen Farbkleckse, die sich zufällig an diesem und jenem Ort tummeln und auf eine Verbindung warten.

»Schon gut, ich werde sie fragen. Geh du mit Dira vor.«

Mehr als zu einem Nicken bin ich nicht mehr fähig. Meine Hand wird gezogen. Von Dira nehme ich an. In meiner Nähe höre ich Tapsgeräusche. Sicherlich von Fritzi. Das Einzige, worauf ich mich konzentriere, sind meine Beine und Füße. Einfach gehen. Schritt für Schritt. Mit jedem einzelnen zieht sich mehr in mir zusammen. Am liebsten würde ich mich umdrehen. Wie kann ich mich abwenden? Müsste ich nicht an Ort und Stelle bleiben?

Zwischendurch nehme ich Worte von Dira auf. Sie haben Cil und eine Frau der Erde gesehen, die wieder zurückgereist sind. Als sie über ihren Vater spricht, stockt sie. Verständlich. Ich versuche, ihre Hand zu drücken. Ob es mir glückt? Keine Ahnung. Nicht mal vierundzwanzig Stunden, nachdem ich aufgebrochen bin, kamen Wilma und ich zurück. Ich dachte, wir wären länger auf der Erde und ich von hier fort gewesen. So kann sich das eigene Gefühl täuschen. Frederik spielt den Helden, hatte Cil gemeint. Innerlich muss ich zugleich grinsen und weinen. Es passt zu ihm. Bitte bring ihn und die anderen zurück. Lesuna holt die neuesten Informationen von Wilma ein, spricht für mich zum Volk und versorgt sie. Sie ist viel zu gut und hat selbst die besten Gründe, um sich abzuschotten. Es tut mir leid.

Ich nehme meinen Körper immer weniger wahr. Glücklicherweise kommen wir endlich in der Hütte an. Von Adrenalinrauschs unterschiedlichster Arten zu Schockstarren und der Reise zurück, bis zu diesen Erwartungshaltungen und meinen eigenen Emotionen ... Es ist zu viel. Ich spüre, wie mein ›bleib dran‹ Modus sich mit jeder Sekunde umstellen will, auf ›zu viel‹ und ›bald vorbei‹. Während Dira sicherstellt, dass ich heile ins Bett komme, verabschiedet sich mein Geist immer mehr. Als würde er hinaussteigen aus meinem Inneren wie Dampf aus einer Schale. Für meinen Körper gibt es nur eine logische Konsequenz. Er folgt ihm. Nicht wie auf einer der Reisen. Nichts Schönes erwartet mich, als ich die Augen schließe. Auch nichts Schlimmes der vergangenen Zeit. Es ist lediglich nichts. Dunkel und leer.  

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