48 ☾ SIE

Es ist genauso wie als Kleinkind an eine Kokosnuss zu gelangen, die noch an einer Palme hängt.

Es ist einer von Papis Lieblingsspruch ... gewesen. Wie sehr ich mir wünsche, seine Stimme noch einmal in echt zu hören, ihm zu sagen, dass ich es auch dank ihm durch die Hürden auf der Erde geschafft habe. Ich würde ihm gerne noch so viel sagen und auch fragen. Wie soll ich das alles schaffen.

Diese Kokosnuss. So fern mir dieses Bildnis auch manchmal lag, so nah fühl ich mich dem gerade verbunden. Als würde nichts anderes einen Sinn ergeben. Ich stehe wie ein Kind vor einer Palme, das sich zu klein dafür empfindet, an sein Ziel zu gelangen. Und nicht weiß, wie es das schaffen soll.

Du bist aber auch stark, mutig und eine Kämpferin, vermischen sich Papis mit Frederiks Worten in meinem Kopf. Du findest eine Lösung und deinen Weg, glaub an dich. Glaube immer an dich, sowie ich es tue. Ein Tropfen fällt auf meine Hand, der sich aus meinem Augenwinkel gelöst hat. Meine Hand strecke ich zum Fluss hinunter. Hier verweile ich seit den frühen Morgenstunden. Den anderen habe ich eine Notiz hinterlassen, dass ich direkt zum Trainingslager kommen werde. Ich möchte den Morgen für mich in Ruhe haben. Heute habe ich mich für die gewaschene Kleidung von Frida entschieden. Dadurch möchte ich ein Zeichen setzen, wie viel mir geholfen wurde. Unter anderem von der einen Person, die viele von ihnen zumindest schon gesehen haben oder dann heute sehen werden. Ich ziehe die Hose um die Füße und den unteren Bereich meiner Beine hoch. Umgeben von einer leichten Brise, die die herabgefallenen Blätter und Zweige aufschüttelt, bewege ich mich noch näher an den sanft fließenden Strom heran. Den Duft der fruchtigen Gewächse nehme ich dabei am stärksten wahr. Als ich den ersten Schritt ins Wasser gehe, weht mir der Wind von der anderen Seite die erfrischenden und wohltuenden Aromen der Kräuter um die Nase, die Lesuna gerne nutzt. Ich lasse mich innerlich in die Düfte fallen und genieße dabei ebenso das seichte Wasser um meine Füße sowie das Streicheln des Windes in meinem Haar. Es ist wie eine vollumfängliche Umarmung.

Hier und generell am Wasser fühle ich mich ihr nahe, meiner Mama. Und gleichzeitig hoffe ich mich auch in Zukunft auf diesen Wegen ebenso Papi verbunden fühlen zu können. Ob hier oder an anderen Orten.

Die Energie durch alles um mich herum aufnehmend, spüre ich, wie sich mein Inneres aufladen und ich mit neuer Kraft meinen Weg antreten kann.

Eins nach dem anderen. Du schaffst das! Du bist mutig, stark, eine Kämpferin und die Tochter von Lea und Kasu!

Als ich ankomme, steuere ich direkt das Kommandozelt an. Die Hoheitsgarde salutiert vor mir. Das ist etwas, was ich nicht mag. Daran werde ich mich gewöhnen müssen. Am liebsten würde ich es abschaffen, aber ich habe bereits gehört, dass sie es – aus mir unerfindlichen Gründen – machen wollen. Vielleicht kann ich die Pflicht abschaffen, und sie können es freiwillig machen? Es gibt jetzt Wichtigeres!, ermahne ich mich selbst, um wieder den Fokus zu erlangen. »Guten Morgen und danke«, antworte ich ihnen allen und nicke ihnen zu. Dann hält mir einer von ihnen den Vorhang auf, sodass ich ungehindert hineingehen kann. Cil lässt durch Ryu Getränke bringen, der sich dann ebenso dazu setzt. Hier warten wir so lange, bis uns die Garde Bescheid gibt, dass sich die Menschen draußen eingefunden haben. Neben uns sitzen noch Frederik, Lesuna, Dira, Nilo und Feran. Außerdem der andere von der Erde, den ich nicht mehr den Irren nennen mag. Das ist abwertend, habe ich für mich herausgefunden.

»Wie ist dein Name?«, frage ich ihn. Vielleicht habe ich seinen Namen bereits gehört, aber ich kann mich nicht entsinnen.

»Hier wurde ich Tian genannt«, antwortet er mit einem Grinsen, das ich nicht einordnen kann, weshalb ich zu Frederik schaue.

»Seb, du kannst ihn Seb nennen«, entscheidet Frederik, dann wendet er sich ihm zu. »Versuch bitte nicht ganz so verrückt rüberzukommen. Du machst manchen angst, gerade weil du lange neben dem Gegner standest mit der gleichen Ausstrahlung, verstehst du das?«

»Aye, aye, Chef.«

Während ich die beiden beobachte, fällt mir auf, je mehr Frederik auf ihn einspricht, dass Seb eine traurige Aura umgibt. Mein Blick, der das ausgelöst hat, tut mir nun leid. Er soll sich nicht verstellen müssen, obwohl Frederik tatsächlich recht hat damit. Sehr schwierig.

Von rechts werde ich angetippt. Cil. »Du weißt, dass du erst einmal als neue Staatsoberhäuptin vereidigt werden müsstest. Mit einer Zeremonie und allem drum und dran«, hält mir Cil vor.

»Nein, das kann alles warten. Wir kennen die Regularien. Wir alle hier, also auf Lun-Vale«, entgegne ich ihm bestimmt. Seine Mimik verrät mir, dass ich zu schroff geworden bin. »Tut mir leid, Cil. Ich schätze deine Meinung – nicht nur als Anführer der Truppen, sondern auch immer noch privat. So wie vorher auch. Da hat sich für mich nichts geändert. Ich will dich an meiner Seite wissen. Also bitte, lass uns der Priorität nach handeln.«

»Ich mache mir Sorgen, Jeu«, gibt er zu und senkt seinen Kopf. »Deswegen ... habe ich geblockt.«

»Cil ...« Ich muss schlucken. Es bedeutet mir sehr viel. Gerade weil ... Cil, mein Onkel-Vater. Und nun ... »Danke dir für diese Worte.«

Mit einem kleinen Lächeln nimmt er meine Hand in seine und drückt sie leicht. Im Augenwinkel sehe ich sowohl Dira als auch Lesuna grinsen. Er anscheinend auch, denn er zwinkert ihnen und dann mir zu.

Die Stimmung im Zelt ist nicht negativ, doch sie wird mit jeder verstrichenen Minute aufgeladener. Spannung und Unsicherheit machen sich breit. Niemand weiß, was wirklich auf uns zukommt. Woher auch? Und ich weiß immer noch nicht, wie viele dort draußen sind, ob ich sie beim letzten Mal wirklich nachhaltig erreicht habe?! Und seitdem sind viele hinzugekommen, die lange gefangen gehalten wurden. Wir müssen die medizinische Versorgung hier aufrechterhalten können. Es ist sehr viel.

Einer von Cils Leuten kommt hinein und teilt uns mit, dass es so weit ist. Dira kommt zu mir und nimmt mich fest in den Arm. »Denk daran. Du hast die Macht und wir hier sind alle auf deiner Seite. Du schaffst das da draußen. Ich bin so stolz auf dich«, flüstert sie mir dabei zu. Dann geht sie mit den anderen hinaus. Sie werden – so weit ihr Plan – in der vordersten Reihe stehen, um mir Zuversicht zu geben. Zurück mit mir bleiben Cil und Frederik.

Ich habe keine Rede vorbereitet, ich werde mich spontan von dem leiten lassen, was kommt. In diesem Moment macht es mich nervös. Doch ich muss, nein, ich will zuversichtlich bleiben. Für Waldtraud, Wilma und die anderen, für die es sich lohnt! Vor allem für Frederik.

Der gleiche von der Sicherheitsgarde kommt erneut hinein und gibt uns das Zeichen, dass wir hinausschreiten können. Cil und Frederik gehen je an einer Seite von mir und bleiben mit etwas Abstand am hinteren Rand der provisorischen Bühne stehen. Von dort aus schreite ich die paar Schritte nach vorne, um den versammelten Menschen näher zu sein.

»Ich danke euch«, setze ich an. Einige sind noch am Plaudern oder suchen sich noch einen geeigneten Platz, weswegen ich eine Pause mache. »Ich danke euch, dass ihr heute gekommen seid. Das bedeutet mir sehr viel. Ich glaube, dass meine Eltern – unser Staatsoberhaupt Kasu und seine Frau Lea – sehr erfreut gewesen wären«, fahre ich fort, als es etwas ruhiger wird. In ihren Gesichtern erkenne ich teilweise Unsicherheit und Skepsis, aber auch Traurigkeit.

»Die Zeit des Wandels – viel zu früh – ist nun da, in der ich in die großen Fußstapfen meines Vaters, unseres geliebten Staatsoberhauptes Kasu, treten werde. Ich werde immer mein Bestes geben, immer den Blick auf den Mond, das Volk – euch –, die Natur, auf Lun-Vale haben. Bald wird eine Zeremonie dazu abgehalten, so wie wir es kennen. Doch wir sind in einer außergewöhnlichen Situation, die wir so nicht kennen. Und außergewöhnliche Situationen verlangen offenbar nach mehr als einem typischen Ablauf.« Ich schaue in die Runde und atme dabei tief ein und aus. Noch kann ich ihre Mimiken nicht einschätzen. Doch sie hören mir zu, das ist gut.

»Wir hatten Hilfe in der letzten Zeit. Ich habe diesen gütigen Menschen auf der Erde kennengelernt. Nur dank ihm gelang es mir, überhaupt zurückzukommen. Dank ihm und einem weiteren Helfer von der Erde und auch treuen und mutigen Helfenden von Lun-Vale konnten wir die Machenschaften hier aufhalten.« Verwunderung und Neugier legt sich nun über ihre Gesichtszüge. Erneut mache ich eine kurze Atempause, wobei ich den Blick von Dira suche. Sie nickt mir aufmunternd zu.

»Ich empfinde tiefes Mitgefühl für alle, die jemanden verloren haben oder für die schrecklichen Taten, die ihr erleben musstet. Ich werde sicherstellen, dass die medizinische und alle wichtigen Grundversorgungen aufrechterhalten bleiben können. Wenn euch eine Lücke auffällt, dann meldet es. Wir sind momentan auf jegliche Hilfe angewiesen, bis unser Netz wieder einwandfrei aufgebaut ist. Neb–« Durch das Applaudieren der Menschen werde ich unterbrochen. Vereinzelt fingen bereits vorher welche an, doch nun ist es beinahe ein Beifall wie bei meiner ersten Rede, die ich erst vor Kurzem hielt. Stolz durchflutet mich, aber gleichsam werde ich nervös. Die Ärmel des Pullovers von Frida ziehe ich etwas hoch. Für dieses Kleidungsstück ist es eigentlich zu warm hier.

»Neben der Sicherstellung hier auf Lun-Vale möchte ich diese Unterstützung auch denen zukommen, die mir geholfen haben. Und auch grundsätzlich den Menschen auf der Erde. Der Planet ist trocken, trist und leer. Und das nur wegen ein paar Menschen, die alles für sich haben wollen, ein paar Menschen, die machtgierig sind. Doch das allgemeine Volk ist arm und wird ausgebeutet. Die Menschen, die kaum etwas haben, die teilen. Diese Kleidung habe ich von ihnen bekommen, weil ich nichts hatte. Es ist nicht wie hier. Sie brauchen Hilfe. Unsere Hilfe.«

Ich drehe mich um und zeige auf Frederik. »Frederik, einige von euch kennen ihn, war und ist mir eine große Stütze. Durch ihn wurde ich an unsere Lebensphilosophie erinnert. Wir auf Lun-Vale leben im Einklang mit dem Mond, aber noch viel mehr als das. Wir erinnern uns durch diesen auch daran, worauf es wirklich ankommt und was wahrlich zählt.« Mit einem Lächeln drehe ich mich wieder den Menschen zu.

»Er hat mir und uns geholfen, also finde ich, sollten wir auch ihm und ihnen helfen. Ich finde es wichtig, ihnen das zurückzugeben, was sie uns gegeben haben. Und die Menschen auf der Erde brauchen Hilfe. Wir können ihnen helfen.«  

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