46 ☾ SIE
Die Zeit scheint still zu stehen. Doch in Wirklichkeit tut sie das nicht. Es ist nie so. Das tat sie damals nicht und auch heute ziehen die Planeten weiter ihre Bahnen. Nehmen ihren Lauf. Doch mein Inneres hat keinen Bezug dazu. Sehnt sich nach einem Stopp. Vielmehr nimmt es sich diesen. Rationalität und Emotionen klaffen auseinander.
Ich bin mir nicht im Klaren darüber, wie lange ich an Frederiks Schulter und in seinem Armen verweile, doch als meine Wangen trocken, bringe ich ein wenig Abstand zwischen uns.
»Und wer noch?«, frage ich ihn, ohne ihn anzusehen, mit dünner Stimme. »Wer musste noch alles sein Leben lassen für diesen Irrsinn?«
»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Seb hat mir nicht alles gesagt; eigentlich kaum mehr als das. Ich weiß nicht, was da drinnen alles vor sich gegangen ist.« Frederik klingt ebenso sehr betrübt.
Ein Impuls überkommt mich. Hier kann ich nicht mehr bleiben. An diesem Ort will ich nicht mehr sein. Nicht jetzt. Auch wenn in mir ein Durcheinander herrscht und ich gerade kaum ein Gedanken zu fassen bekomme, weiß ich mit Sicherheit das. Oder eher spüre ich es. Ich zeige mit dem Finger an, dass ich mich wegbewegen möchte. Zu meinem Glück versteht er mich und folgt mir.
Schweigend schreiten wir entlang des Waldweges nebeneinander her. Unbewusst steuere ich eine Richtung an. Es ist mir gleich wohin. Hauptsache weg. Eventuell auch einfach nur, damit der Körper in Bewegung kommt. Ganz klar ist mir das auch wieder nicht. Bis wir an das Flussufer gelangen, bin ich mir über das Ziel ehrlich nicht bewusst gewesen. Genau an dieser Stelle, an der ich vor Kurzem noch Rat und Trost gesucht habe. Vielleicht habe ich es doch unterbewusst anvisiert.
Ich setze mich wieder dorthin, ziehe meine Beine an mich heran und lege meinen Kopf auf meine Knie ab. Ohne hinzuschauen, merke ich, wie Frederik sich neben mich auf das feuchte Gras setzt und sehe dann, wie Fritzi sich vor uns legt. Meine Hand gleitet automatisch auf ihren Kopf und dann über ihren Körper. Das Gefühl, über ihr Fell zu streicheln und dabei ihre Wärme wahrzunehmen, ist beruhigend und erdet mich. Frederik höre ich gleichmäßig atmen.
Keiner von uns beginnt zu reden. Wir schweigen. Es ist nicht unangenehm. Mir bedeutet es viel, dass er einfach hier ist. Ich nicht alleine sein muss; niemanden um Beistand bitten muss.
Meine Gedanken driften immer mal wieder in irgendwelche Richtungen, schweifen hierhin und dorthin, aber nach wie vor kann ich keinen einzigen klaren fassen. Es ist alles sehr lose. Es formt sich noch nichts zu einem Gebilde. Es ist, als wäre ich weit weg von mir und eine dicke Nebelwand dazwischen. Nur Fritzis Fell und Wärme spüre ich klar und deutlich an meinen Fingern.
»Jeu ...«, spricht Frederik mich dann doch vorsichtig an. Ich rucke kurz in der Streichelbewegung. »Ich habe da letztens noch etwas anderes erfahren«, fährt er mit zittriger Stimme fort und ich kann mir denken, was er meint. Unmittelbar stellen sich meine Armhärchen auf. »Ich weiß nicht, ob ich es dir jetzt erzählen soll, aber ich möchte dir zumindest sagen, dass es da etwas gibt.« Er pustet angestrengt aus. Es hat ihn viel Kraft gekostet, mir das zu sagen. Das spüre ich.
»Ich weiß«, erwidere ich nach einer gewissen verstrichenen Zeit.
»Wie?«, fragt er überrascht. »Ich meine ... ähm ...«
»Schon okay«, sage ich, damit er sich nicht schlecht fühlen braucht. »Ich weiß es, weil ...« Jetzt muss ich mich unterbrechen und noch mal tief einatmen. »Ich habe es mitangehört. Ich war da. An deinem Zelt. Ich wollte nicht lauschen, also dann schon. Aber ich war da, weil ich mir um dich Sorgen gemacht habe. Und dann habe ich es mitbekommen.« Um nicht wieder erneut von heftigen Schluchzern überrollt zu werden, konzentriere ich mich auf Fritzi, ihr einerseits raues und gleichermaßen weiches Fell und wie ich darüber streichele.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es tut mir wirklich unheimlich leid.«
Ich nicke, weil ich ihm das glaube, aber auch, da ich es verstehen kann. Es ist schwer, darauf etwas Geeignetes zu erwidern.
»Wir werden niemals die Wahrheit herausfinden«, äußere ich nach einem weiteren Schweigen.
»Vielleicht.«
»Und wie soll es jetzt weitergehen?«, murmle ich vor mich fragend hin.
Wieder tritt eine Pause ein, in der wir bloß da sitzen und unseren Gedanken nachgehen – oder auch nicht. Ich fokussiere mich erneut auf Fritzi und immer mehr auf den Fluss mit seinem gleichmäßigen fließenden Klang sowie seinen prachtvollen Gewächsen an seinen Böschungen, die ich reihum betrachte. Gelb, violett, grün, blau. Gelb, violett, grün, blau. Gelb, violett–
»Bist du jetzt eigentlich die Neue hier?«, reißt mich Frederik aus meiner Aufzählung heraus. Zunächst verstehe ich gar nicht, was er meint.
»Ja, das ist sie«, antwortet Dira, die mich erschreckt, mich jedoch auch Frederiks Frage begreifen lässt. »Und sie könnte wegen der Wahrheit meinen Pa fragen, vielleicht weiß der noch etwas«, ergänzt sie. Offenbar steht sie schon ein Weilchen bei uns.
»Aber ich bin noch so jung. Wie soll ich das schaffen?«
»Du bist stark und eine Kämpferin«, schießt Dira sofort meine Zweifel in den Wind. »Du könntest dir jemand Vertrautes suchen, der mit dir gemeinsam regiert, bis du es dir alleine zutraust. Du kennst doch unsere Reformen.«
»So war das ja auch nicht gemeint. Ich meine, ich weiß nicht, ob ich das schaffe«, halte ich noch immer dagegen. »Außerdem finde ich es viel wichtiger zu klären, was wir jetzt machen«, lenke ich nun ab, meine es aber ernst.
»Hier ist doch alles geklärt. Also du weißt schon«, entgegnet Dira.
»Nein, eigentlich nicht. Frederik weiß nichts Genaueres. Also ist hier jetzt wieder Frieden und alles unter Kontrolle?« Meine Stimme nimmt einen für mich untypischen Frederik-Ton an.
»Scheint so.«
»Das ist mir nicht ausreichend«, stelle ich klar. »Und was ist mit der Erde? Frederiks Heimat?«
»Warum solltet ihr dafür kämpfen?«, schaltet sich Frederik wieder mit ein.
»Weil du für uns gekämpft hättest und uns geholfen hast. Für Seb. Für Frida. Um Waldtraud und Wilma wegen«, entgegne ich mit fester Stimme und mir wird bewusst, wohin mein Inneres mich führen wollte.
»Wenn das Jeus Wille ist, wird es umgesetzt. Sie ist die neue Staatsoberhäuptin«, äußert Dira pragmatisch. Der frische Schmerz wird dadurch jedoch neu entflammt. Ich muss alle Kraft aufwenden, um den nicht ausbrechen zu lassen.
»Lasst uns alle zusammenrufen!«, rufe ich über mein Leid hinweg. »Im Kommandobereich! Dira, bitte sag Cil Bescheid. Und dann gebt ihr drei bitte allen kund. So viele wie möglich. Morgen früh treffen wir uns dort am Kommandozelt, um einen Plan auszuarbeiten.«
»Und schon ist sie in ihrem Element«, schließt Dira die spontane Kurzbesprechung. Auch wenn mir alles andere als danach ist, muss ich leicht grinsen.
Frederik erkundigt sich, ob es wirklich in Ordnung ist, wenn er mich nun alleine lässt. Nachdem ich ihm das wiederholt bestätige, erhebt er sich und begibt sich mit Dira auf den Weg. Ich bleibe mit Fritzi noch am Flussufer und gebe mir noch ein wenig Zeit.
Mich zu verabschieden. Für heute. Von heute. Erst einmal nur von heute.
Gerade als ich dem Fluss den Rücken kehren möchte, spüre ich einen ganz leichten Windzug. Mit ihm weht eine Erinnerung auf. Aber sie lassen sie fallen.
»Nein«, spreche ich laut aus und muss lächelnd an meine Mama denken.
»Aber sie lassen sie fallen.«
»Ja, Bäume lassen sie fallen. Aber es ist mehr als das.«
»Wie meinst du das?«
»Es gehört dazu, zu ihrem Naturschauspiel.«
»Bäumen wachsen und die Blätter werden grün. Und dann werden sie fallen gelassen.«
»Und, wie könntest du es anders sagen?«
»Sie fallen herunter?«
»Genau. Sie fallen vielleicht auch freiwillig herunter, um unsere Welt bunt und prachtvoll erscheinen zu lassen. Für eine gewisse Zeit erleuchten sie unsere Wege in ihren schönen Farben. Ist das nicht wunderbar?«
»Stimmt und dann wachsen neue grüne Blätter.«
»Ja, es ist ein immer wiederkehrender Prozess und etwas, worauf wir uns freuen dürfen. Auf den Wechsel ihrer Pracht.«
Traurig, aber ein wenig leichter – für heute – begebe ich mich auf den Weg nach Hause.
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