45 ☾ ER
So schnell kann sich Freude verwandeln. In ... ja was eigentlich? Ich habe keine Ahnung, was das für ein Gefühl ist. Ohnmacht ist definitiv ein Teil davon.
Jemand muss etwas tun! Allmählich vereinen sich Körper und Geist wieder und ich kann wenigstens versuchen, mich davor zu werfen, auch wenn die Chance gering ist.
Ein Schuss ertönt. Ich hasse diesen Klang. »Nein!«, schreie ich. »Nein. Nein. Nein.« Ich laufe weiter zu Jeu, achte auf nichts anderes und bemerke erst dann, dass sie nach wie vor dort steht.
»Ist alles gut? Blutest du? Bist du getroffen worden? Jeu, rede bitte!«, quatsche ich auf sie ein.
»Ja.«
»Sicher? Und was ist das?« Es beunruhigt mich, dass sie weiterhin geschockt dort steht und mich nicht einmal ansieht.
»Was?« Sie schüttelt leicht ihren Kopf und schaut mich wenigstens an. Tränen schimmern in ihren Augen.
Eine Hand legt sich auf meine Schulter. »Dani hat den Angreifer außer Gefecht gesetzt. Ihr geht es gut«, flüstert mir Seb zu.
»Okay.« Was? Die Worte hallen nochmals durch mein Hirn ... Was?! Okay. »Danke, Seb«, füge ich an, weil ich es ernst meine, aber sonst auch nicht weiß, was ich sagen soll.
Kurz darauf lehnt sich Jeu an mich heran. Ihr Körper bebt. Verständlich nach dem, was sie gerade durchmachen musste.
»Willst du dich hinsetzen?«, frage ich sie und führe sie gleichsam zu einer erhöhten Wurzel, auf die sie sich niederlässt. Ich bleibe bei ihr stehen und verschaffe mir erst mal einen Überblick. Dani und Seb stehen nur mit geringem Abstand bei uns in der Nähe. Cilai, Nilo und Ryu sind auch unten auf dem Boden angekommen. Sie gehen, nach dem sie sich vergewissert haben, dass die Situation unter Kontrolle ist, auf direktem Weg zu dem Körper des Angreifers. Die ehemals Gefangenen haben sich bereits von ihm distanziert, sehen noch geschockter aus als vorher – kein Wunder. Bevor sie den leblosen Körper fortbringen, ruft Ryu, dass einer sich um die Menschen widmen solle. Seb übernimmt die Aufgabe.
Während die drei im Wald den Körper bestatten, sehe ich Bewegungen auf dem Waldweg. Ist das nicht ... die Tochter von Cilai? Und Fritzi!
»Dira?«, haucht Jeu neben mir, sie hat sie auch erkannt.
Diras Miene hellt sich mit jedem Laufschritt auf. Jeu sitzt nun aufrechter und wartet scheinbar auf sie. Fritzi läuft nicht vor, sondern bleibt in Diras Nähe.
Als sie endlich bei uns ankommen, knuddel ich Fritzi, die aufheult und winselt und mir durchs Gesicht schleckt. Ich habe sie genauso vermisst. Dira und Jeu fallen sich um die Arme. Sie scheinen sich ebenso viel zu bedeuten.
Cilai wirkt glücklich, als sie wieder zu uns stoßen und Dira erblickt. Er kommt direkt zu uns. Ryu und Nilo jedoch gehen weiter zu Seb, damit sie sich nun gemeinsam den anderen widmen können.
»Ich habe mich wirklich getäuscht. Ich hätte dir glauben sollen, Dira. Verzeiht ihr zwei. Es tut mir aufrichtig leid.«
Auch wenn Dani offensichtlich nichts damit anzufangen weiß, nimmt er Cilais Entschuldigung an und die Hand von ihm entgegen. Auch Dira wirkt zufrieden darüber.
Plötzlich springt Jeu auf und geht zielstrebig auf die Menschen zu. Der Schock scheint sich gesetzt zu haben.
»Wo ist mein Vater?« Sie dreht sich um ihre eigene Achse. Mein Inneres verzieht sich qualvoll, fühle mich jedoch unfähig, mich zu bewegen.
»Warum antwortet keiner? Wo ist mein Vater?«, fragt sie bestimmter.
Seb geht von einem Verwundeten auf sie zu. Das ist mein Stichwort, mich doch dort hinzubegeben.
»Kleine ...«, beginnt er nicht sehr empathisch, na ja, eben sebtypisch.
»Nenn mich nicht so!«
»Ich glaube, die anderen trauen sich nicht, daher–«
»Nein!«, rufe ich rechtzeitig dazwischen.
»Nein?«, wiederholt Seb.
»Ich mache das.« Ich puste aus, erleichtert und gleichzeitig aus genau dem Gegenteil. »Jeu, ich werde dir gleich alles in Ruhe erzählen, setz dich doch bitte noch einmal kurz auf den Platz von eben.« Ohne nachzufragen kommt sie dem nach.
Ich nehme Seb am Arm und ziehe ihn in die andere Richtung zwei Schritte. »Seb, bitte kläre doch die anderen auf, was alles geschehen ist und was womöglich da drin alles los ist. Eine Einheit sollte vielleicht da rein gehen und mal nach dem Rechten schauen.«
»Alles klar. Aye, aye.«
»Und Seb?«
»Ja, liebster Schwager?«
»Lass das. Bitte versuche so wenig abgedreht wie möglich zu sein. Also ... Nur um die anderen nicht zu verschrecken, okay?«
»Aye, aye.«
»Und danke dir!«
»Na klaro!«
Ich drehe mich von ihm weg, verdrehe dann meine Augen und hoffe einfach, dass er es wenigstens versucht. Jeu ist, wie ich gerade erfahre, mit Fritzi schon ein paar Schritte vorausgegangen. Cilai und Dira sehen mir in die Augen und können sich anscheinend denken, was los ist. In ihren Augen schimmern Tränen.
Als ich Jeu nachlaufe, sehe ich, dass sie ganz langsam geht. Sie möchte sicherlich nicht in den Strom der anderen geraten, die sich ebenso auf den Weg ins Dorf machen.
Soll ich dann einfach gleich alles loswerden? Ach du Schande, das wird jetzt so oder so schwer werden. Scheiße!
Ich ziehe mein Tempo an und hole auf. Bei Jeu angekommen, bleibe ich an ihrer Seite und passe mich ihrem Schritt an. Für uns beide scheint klar zu sein, dass wir so lange schweigen, bis wir die nötige Ruhe und Kraft haben. Obwohl ich bezweifle, dass letzteres irgendwann gegeben ist. Wir bewegen uns mit dem Strom. Wenn auch viel langsamer. Wir lassen sie an uns vorüberziehen.
Da sie ein paarmal zu mir hersieht, bekomme ich das Gefühl, anfangen zu müssen.
»Wir müssen keine Angst mehr haben. Hier auf Lun-Vale.« Vor einer wirklichen Gefahr, wird mir gerade bewusst. Die Fallen sollten noch abmontiert werden.
»Er ist mit einem anderen Armband hergekommen. Das war eins der letzten Puzzlestücke, die mir fehlten. Ich erinnere mich wieder«, kommt es beinahe ohne Punkt und Komma aus ihr heraus. »Ich wusste, da hat etwas nicht gestimmt an dem Kästchen. Ich wusste nur nicht so richtig, was.« Ihre Stimme klingt betrübt, traurig und noch mehr liegt darin. Gibt sie sich die Schuld für irgendetwas?
»Was meinst du damit?«
»Bei dem Berg auf der Erde. Ich habe es gepürt, hatte ein komisches, seltsames Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Aber das Mond-Armband war ja da. Aber dort lag noch ein weiteres.«
»Du meinst, dass einer dieser Kerle mit diesem anderen herkam? Oder dass Siggi sie damit geholt haben könnte«, überlege ich nun. Ob Seb oder dieser Mik ... Sie wussten doch sicherlich nicht, wie und wo sie genau ankommen.
»Ja, irgendwie so ...«
»Jeu, es ist nicht deine Schuld. Dir wurde Schlimmes angetan. Du trägst keine Schuld an all dem. Okay?«
»Wenn du das meinst.« Sie bleibt stehen und schaut auf den Boden, scharrt mit einem Fuß dort herum.
»Jeu? Ich weiß nicht, wie ich beginnen soll ...«
»Er ist tot, richtig?«
Sie hebt langsam den Kopf hoch. Ihre Augen schimmern bereits, die Tränen kullern ihre Wangen hinunter. Ich gehe die paar Schritte auf sie zu und umarme sie.
»Ja, es tut mir leid.«
In meinem Arm spüre ich ihr Nicken, was von einem heftigen Schluchzen ersetzt und von einem Beben begleitet wird.
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