37 ☾ ER

Was passiert mit mir? Meine Wahrnehmung entgleitet mir und doch sehe ich diesen Baum noch ganz klar vor mir. Aber das Unterholz und die Wurzelstränge bilden nur noch eine Masse vor meinen Augen. Meine Finger spüre ich nicht mehr, sie sind taub geworden. Ich starre sie an, wie sie weiterhin auf dem Baumstamm verharren. Habe ich mir diese Stimme nur eingebildet? Werde ich verrückt? Das Gefühl in den Fingern lässt nach, sie beginnen allmählich zu prickeln. Dafür zieht die Taubheit weiter durch meine Arme. Als könnte ich es sehen, verfolge ich dieses merkwürdige Kribbeln mit meinen Augen. Es windet sich durch meine Adern und Muskeln, stoppt oberhalb meiner Schultern, was mich aufkeuchen lässt, da es den nächsten Schauer auslöst. Meine Hände nehme ich an mich heran und fühle über die Haut in meinem Nackenbereich. Da ist nichts. Doch es wandert auch schon weiter. Ich kann es nicht aufhalten. Es gleitet hinab an meinem Rücken, in den Bauchraum, schlussendlich in die Beine. Gleich falle ich. Ich sehe mich schon auf den harten Boden aufprallen.

Noch immer bin ich nicht Herr über meinen Körper. Ist das eine erneute Erinnerung? Werde ich in etwas zurückgezogen? Liege ich schon auf dem Boden? Unsicher mit wackligen Beinen versuche ich mich etwas zu bewegen. Ich will mich der Gefahr, wenn sie überhaupt existiert, zuwenden. Eine Vierteldrehung gelingt mir. Dann versagt meine Kraft. Ich keuche und ringe nach Luft. Wo ist die klare frische Brise hin? Wieder knackt etwas. Es kommt nun direkt von vorne.

»Hallo alter Freund«, ertönt erneut die gruselige Stimme, von der ich nie gedacht hätte, sie jemals wieder zu hören. Viel zu lange habe ich darum getrauert. Bis vor Kurzem. Seit längerer Zeit konnte ich keine Garantie darauf geben, was ich tun würde, wenn ich dazu die Gelegenheit bekommen würde. »Willst du mich denn nicht auch begrüßen?«, ergänzt er in der gleichen horrorähnlichen Stimmlage.

Er ist sich über seine Präsenz und dessen Wirkweise bewusst. Zumindest klingt es danach. Es ist eine Falle, du Narr!

Mein Kopf ist noch am Sortieren. Kam die Bitte doch nicht von Seb, sondern von Siggi ...?

Wie versteinert stehe ich da. Ich reihe mich in die Bäume ein, die ringsherum um mich stehen, nur dass ich keinen starken Stamm habe. Ich hoffte, sie geben mir Schutz, doch ich befürchte, dass er diesen genießt, denn ich kann ihn noch nicht sehen.

»Wie ...« Wie konntest nur?, wollte ich fragen. Doch zu viel geht in mir vor, meine Stimme versagt. Wie viel Zeit habe ich noch, bis er vor mir steht und mich wahrscheinlich wie ... wie ... sie beide ... und die vielen anderen hier zugrunde richtet. Ich kann die Tränen genauso wenig aufhalten wie ihn.

»Wie?« Er lacht spöttisch in den Wald hinein. Es hallt mehrmals nach. »Das fragst du wirklich?« Mit jedem Wort und jedem Widerhall fühlt es sich an, als würde es tiefer eindringen. In mich. Es raubt mir Kraft und Energie. Automatisch setze ich einen Schritt zurück, doch das Geflecht unter mir reißt an mir. Alles scheint mich an sich ziehen zu wollen. Ich strauchle und gebe nach, vor allem, weil ich weiß, dass ich dem nicht entkommen kann. Die Orientierung habe ich längst verloren. Ich spüre es. Er ist gleich da.

»Warum?«, frage ich, obwohl ich nicht davon ausgehe, eine Antwort von ihm zu bekommen.

Mit zittrigen Händen taste ich den Boden ab. Auch wenn ich nicht viel ausrichten kann, habe ich eventuell eine kleine Chance, wenigstens auch ihm eine Wunde zuzufügen. Kampflos lasse ich es nicht über mich geschehen. Der Aufstecher!, erinnere ich mich. Mühevoll – in der Hoffnung, nicht noch mich selbst zu verletzen – krame ich ihn hervor.

Siggi hat noch immer nicht geantwortet, was mich beunruhigt. Warum ist er so still? Wieso ist es mittlerweile insgesamt so leise? Erst jetzt fällt mir auf, dass nicht ein einziges Geräusch mehr ertönt. Wo ist er?

Zum Aufraffen fehlt mir die Kraft, doch mit dem Kopf schaue ich mich um. Ich umklammere den Griff des Aufstechers immer fester, will vorbereitet sein, wenn er vor mir erscheint, gleichzeitig habe ich die leise Befürchtung, dass ich es zu spät mitbekommen werde.

»Schau dich nur an«, spricht er plötzlich nahe an mir, als ich natürlich in die entgegengesetzte Richtung Ausschau halte. »Du siehst aus wie ein geprügelter Hund.«

Nur widerwillig drehe ich meinen Kopf zu ihm. Seine Worte allein lassen den Schweiß aus jeder Pore tropfen und mich mehr als nur frösteln. Doch ich habe nicht nur Angst. In mir ist ebenso rasende Wut. Als ich meinen Kopf anhebe und ihn angucke, sehe ich keine reuenvollen Augen. In ihnen schimmern Gehässigkeit und Machtgier. Wie konnte er nur so werden?

»Ich bin sicher, du hast eine Menge Fragen, Frederik.«

»Ja.«

»Doch ...« Er hebt seine Hand, schwenkt sie und tut so, als würde er den Rest in die Luft schicken.

Dieses teuflische Gesicht und dazu nicht zu wissen, was er gleich mit mir macht. Das Schlimmste ist jedoch, dass ich niemanden mehr helfen kann. Ich habe versagt. Er wird was auch immer gleich mit mir machen und dann zurückgehen und dort furchtbare Dinge tun. Und ich kann nichts dagegen machen. Qualvoll langsam schreitet er auf mich zu.

Diese Fratze habe ich schon mal gesehen. Sie erinnert mich an etwas ... Oder doch nicht? Ich habe das Gefühl, dass es so ist.

Andere Bilder schieben sich auf einmal vor mein geistiges Auge. Nein, nicht doch jetzt! Ich will dagegen anzukämpfen, blinzele wie verrückt, spanne meinen Körper an, versuche alles mir erdenklich Mögliche, um nicht abzudriften.

Doch leider spüre ich, wie es auch sonst war, dass es meinem Geist kackegal ist, was ich will – offensichtlich auch in einer solch brisanten Lage.

Ich höre, wie er einen weiteren Fuß in meine Richtung setzt. Er schreitet voran, ganz gleich, was sich in seinem Weg befindet. Mit jedem seiner Schritte verblasst die Welt vor meinen Augen. Es knackt unter ihm bedrohlich ... 

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top