28 ☾ SIE
Einen Spalt öffnet Dira ihren Mund, sie möchte etwas sagen, doch ich lasse sie nicht dazu kommen. So hart es für mich ist – mir ist bewusst, dass sie mich direkt verstehen wird –, senke ich meinen Kopf. Hörbar schnappt sie nach Luft. Damit wird mir meine genommen und sogleich werden mir kleine Stiche zugefügt. Als würde sich dieses kleine fiese Metallstückchen, was ich bei Hilde aufgelesen habe und weiterhin bei mir trage, in jedmögliche Hautstelle bohren. Ich kann das jetzt jedoch nicht. Wenn dann bei ihr, aber in diesem Moment ... Nein. Es tut mir weh, dass ich sie ebenso verletze; uns beiden Leid zufüge. Aber ich bin nicht so weit; weiß nicht einmal, wie ich die Worte für das alles finden soll ...
Als ich sie wieder anblicke, nimmt sie ihre Hände hoch und beginnt zu formen. »Schön, dass du wieder da bist.« Doch dabei bleibt ihre Mimik versteinert. »Leg dich hin. Ich gehe los«, teilt sie mir auf die gleiche Weise mit.
Kraftlos – so wirkt Dira – rappelt sie sich auf und geht an mir Richtung Pfad vorbei, während sie mich traurig anblickt. Obgleich ich dachte, dass meine Tränen versiegt sein müssten, kommen neue nach. Von mir abstoßen wollte ich sie nicht. Indes ich ihr nachschaue, wie sie auf dem Weg nach links abbiegt inmitten unserer wundervollen Natur – mit unseren fließenden Wasserläufen, den Gewächsen in den verschiedensten Farben und so vielem mehr –, die ich sehr verehre, komme ich nicht umhin, mich zu fragen, was hier von überhaupt jemals echt war. Es sieht alles so friedlich aus.
Vielleicht ist es nur ein Trugbild. Auf der Erde habe ich Lun-Vale schrecklich vermisst, wünschte mir nichts sehnlicher, als endlich nach Hause zu kommen und nun? Es hat sich alles verändert. Auch ich mich. Ich bin nicht mehr die Jeu, die ich vorher war; nicht mehr die Kämpferin – so fühle ich mich nicht.
Schwere Zeiten bedeuten nicht, dass du deine Stärke verloren hast. Schwere Zeiten sind schwer. Sie gehen vorüber und du wirst merken, dass du noch genauso viel Stärke in dir hast.
Meine Sicht verschwimmt wieder. Papi ... Ich weiß, dass du recht hast, aber es ist so schwer. Ich wünschte, du wärst hier bei mir. Wie egoistisch von mir, das zu denken. Er ist in Gefahr!, schale ich mich.
»In Ordnung«, hauche ich in die Luft. Ich versuche daran zu glauben. Für dich.
Ganz behutsam begebe ich mich in die Hütte und hoffe, dort auf niemand weiteren zu treffen. Auf dem Küchentisch befindet sich nur noch ein Glas sowie der Krug mit Wasser. Vielleicht haben sie es für mich dort stehenlassen. Lesuna ist entweder ebenfalls unterwegs oder zeigt sich nicht. Cil ist vermutlich bei der Arbeit. Bei dem Gedanken wird mein Bauch erneut zusammengezogen. Um es loszuwerden, gieße ich mir etwas Wasser ein und trinke hastig. Helfen tut es mir allerdings nicht. Fritzi wartet auf mich vor dem Raum. Ja. Dira hat recht, ich brauche Ruhe und sollte mich hinlegen.
»Jeeuuu?«
Irgendetwas ruckelt. Nicht wild und dennoch unangenehm. Als wäre ich ungeplant auf einem Floß im Gewässer unterwegs. Wasser. Gedanken und Erinnerungen an das Gespräch zwischen Nilo und Frederik drängen sich in mein Bewusstsein und mir wird schlecht vor Übelkeit. Schlagartig wird mir bewusst, wo ich mich befinde und setze mich auf. Dabei merke ich, wie feucht mein Rücken ist.
An der Kante des Bettes sitzt Dira. Nicht dazu imstande, etwas Beschwichtigendes zu sagen, weil mein Atem nur stoßweise in meine Lunge gepresst wird, wende ich den Blick ab. Ihren sorgenvollen – beinahe panischen – spüre ich jedoch wie ein Brennen auf mir. Es treibt den Schweiß nur noch mehr an. Meine Atmung bekomme ich ebenso wenig unter Kontrolle.
»Hast du wieder schlecht geträumt?«, fragt sie vorsichtig nach, wobei sie ein kleines Stück auf dem Bett näher rückt. »Kann ich dir irgendwie helfen?« Ihre Stimme wird hektischer, sie klingt überfordert. »Soll ich Ma holen?« Ihre Finger landen bedacht auf meinem Arm, was eine Art Kurzschluss auslöst. Ruckartig bewege ich mich. »Tut mir leid, Jeu.« Ich schüttle mit dem Kopf, denn so war das nicht gemeint. Es war überhaupt keine bewusste Reaktion. Ich zwinge mein Gesicht in ihre Richtung. »Darf ich?«, fragt sie, während sie ihre Hand angedeutet auf meinen Rücken legt. Tatsächlich bekomme ich ein Nicken zustande. Es tut gut; es hilft mir.
Nach einer Weile, in der sie mir meine Zeit gibt, lässt sie ihre Hand ruhen. »Hast du schlecht geträumt?«
Ich stocke, vielmehr aufgrund der stoppenden Bewegung, die mich beruhigt hat. Ich versuche eine Verneinung herauszubringen, scheitere jedoch.
»Was dann?« Dira versteht mich – sowohl die Verneinung als auch mit dem Streicheln. Oder es hilft ihr ebenso, weil sie etwas mit ihrer Hand zu tun hat. »Bitte Jeu. Rede mit mir.«
Ich atme mehrmals ein und aus. Auch Dira wird merken, dass es noch holprig ist. Vielleicht wartet sie deswegen geduldig ab. Mit der Zeit wird es leichter. Aus der Tasche meines Wickelgewands hole ich das Metallstückchen und lasse es zwischen meinen Fingern hin und her fallen. »Es hat nichts mit Hilde zu tun«, beginne ich und fahre mir dann mit der einen Hand durchs Gesicht, um meine Haare von der kaltfeuchten Stirn zu befreien. »Sondern ... Es geht ... Ich habe etwas erfahren ... Letzte Nacht.« Ich blicke ihr in die Augen. Dass sie noch ängstlicher ausschauen kann, war mir bis jetzt nicht bewusst gewesen. Ihre kreisende Bewegung auf meinem Rücken hört ebenso abrupt auf.
»Was hast du erfahren?«, flüstert sie.
»Die Wahrheit.«
»Aber ... Ich ... Wir ... w-w-wissen es nicht. Es könnte auch ein Gerücht sein«, versucht Dira sich an einer Erklärung, nachdem ich ihr endlich von letzter Nacht – zumindest dem Gespräch – erzählt habe. Sie ist geschockt.
»Ja. Schon«, antworte ich verwundert über meinen beinahe monotonen Klang. »Aber es könnte auch die Wahrheit sein ... Nilo weiß ganz schön viel von ... dem Tag.«
»Stimmt. Aber dennoch wissen wir es nicht. Es kann beides wahr sein.« Sie will es nicht glauben, wie auch ich. Aber ich will auch keine Lügen mehr hinnehmen.
»Weißt du denn, was hier wirklich alles die Wahrheit ist?«, frage ich sie daher.
»Nein.«
»Siehst du.«
Schweigen legt sich über uns. Nicht unangenehm. Doch wir beide wissen, dass das Gespräch erst einmal ruhen sollte. Ihr ›Nein‹ allein hat mich schon verwundert. Vielleicht hat sie sich das auch bereits gefragt. Doch Cil, ihren Vater, kann sie kaum fragen. So sehr ich Cil auch vertraue, er wird eine andere Sicht auf diese Dinge haben. Genauso wahrscheinlich auch mein Vater. Ein Druck in meinem Magen macht sich breit. Wusste er Bescheid über die Wahrheit von Mamas Tod? Was wird hier noch verheimlicht?
»Ich möchte dir auch etwas erzählen.« Dira rutscht wieder ein Stück näher zu mir und nimmt eine Hand von mir in ihre. »Eher endlich anvertrauen. Es ist schwer für mich, darüber zu reden. Aber du hast so viel mit mir geteilt, dass ich es auch versuchen möchte.«
»Aber du musst nicht, wenn du nicht kannst«, versichere ich ihr.
»Ich weiß, aber ich möchte.« Dira setzt sich noch einmal um, schaut nach vorne, nicht mich an. »Das, was mir passiert ist. Also woher ich die Narben habe und so ...« Dira unterbricht sich, muss schlucken und kämpft sichtlich mit ihr. Ich lege ihr ebenso meine Hand auf den Rücken, wodurch ein kleines Lächeln auf ihren Lippen erscheint. Ich beginne mit kleinen Bewegungen, so wie sie es bei mir gemacht hat. Es hilft auch mir. Mich auf etwas zu konzentrieren. Denn ich habe Angst davor, was ich erfahren werde.
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