20 ☾ SIE

»Hu-hu«, bekomme ich zu hören, während eine Hand vor meinem Gesicht wedelt. »Es ist ziemlich unhöflich, einfach so daher zu starren und dann noch nicht mal zu grüßen«, tadelt mich Dira und geht voraus. An dem Klang ihrer Stimme kann ich jedoch erkennen, dass sie nicht wirklich böse ist.

»Verzeihung, ich bitte um Verzeihung ...«, wende ich mich der Frau zu.

»Kelia ist mein Name. Und schon gut. Mein Anblick ist nicht der Schönste.«

»Nein, nein. Das ist es nicht.« Das ist mir bisher nicht mal aufgefallen. Doch das würde sie mir vermutlich nicht glauben, fällt mir auf, jetzt, wo ich sie betrachte. Dira ist nicht die einzige mit sichtbaren Wunden. Was ist bloß während meiner Abwesenheit geschehen?

»Ich verstehe, du möchtest nett sein. Das gelingt dir jedoch nicht, wenn du die Wahrheit verschleierst.«

»Da gebe ich Ihnen recht, Kelia. Aber das war wirklich nicht der Grund.« Mittlerweile schon ein bisschen, wofür ich direkt ein schlechtes Gewissen bekomme. Durch ihr Gesicht zieht sich eine lange Narbe. Tief, schräg und es sieht schmerzhaft aus. Es ist nicht die einzige Wunde, dennoch spricht sie mit viel Güte in der Stimme.

»Was war es dann?«, hakt sie neugierig nach und deutet gleichzeitig zu den Griffen an ihrem Rollstuhl.

»Soll ich Sie ... ähm ... Soll ich –«

»Gerne, schieb mich ein wenig. Meine Hände und Arme sind etwas müde und bis zu mir sind es noch einige Meter. Und während des Weges bin ich gespannt auf deine Antwort.«

Unbeholfen – zumindest fühle ich mich so – lege ich meine Finger um die Handgriffe und beginne sie zu schieben. Hoffentlich kann ich dabei nichts falsch machen. Die ersten Schritte bleiben wir still. Um uns herum, habe ich das Gefühl, ändert sich die Stimmung. Wird sie jetzt angestarrt? Ich hoffe nicht.

»Sie haben mich angeschaut«, sage ich aus dem Nichts heraus.

»Ja, aber natürlich. Dira hilft mir mehrmals die Woche. Es hat sich eingespielt, dass wir uns an der Ecke treffen, da es auf ihrem Weg liegt und ich somit vorher schon einmal ein wenig draußen an der frischen Luft war. Na, und als ihr beiden angekommen seid, da habe ich euch selbstverständlich–«

»Nein, das meinte ich nicht«, unterbreche ich sie. »Verzeihen Sie Kelia, erneut.« Ich liebe unsere Natur, doch ich bekomme gerade mit, wie hinderlich sie manchmal sein kann. Es ist äußerst schwierig, mit dem Rollstuhl über bestimmte Abschnitte zu kommen. Bewundernswert, wenn sie das alleine bewältigt.

»Versuch es noch mal«, fordert sie mich auch, als wir die schwierige Stelle überquert haben und ich beinahe rasend vor Wut auf die Person geworden wäre, die ihr das alles angetan hat, obwohl ich gar nicht wissen kann, ob sie nicht vorher schon an dieses Gefährt gebunden war.

»Was?«

»Mir zu erklären, was du mir eben zu sagen versucht hast.«

»Sie haben mich ganz normal angeschaut, das meinte ich. Und Sie haben auch nicht direkt wieder weggeguckt.«

»Das ist alles?«

»Mmmh. Ja?«

»Schätzchen.« Ich kollidiere mit dem Rollstuhl, da sie diesen selbst abrupt bremst und sich zu mir wendet. »Aber das ist doch auch normal, das zu tun«, sagt sie, als wäre es das Normalste der Welt und kichert dabei etwas.

»Ja, natürlich, eigentlich schon, aber irgendwie–«

»Oh, wir sind da. Siehst du? Das ist meine Hütte. Den Rest schaffe ich, danke dir für deine Hilfe. Geh doch schon mal rein zu Dira. Wir sehen uns dann gleich drinnen«, beendet sie das vorherige Gespräch auf liebe Weise und dennoch ohne einen Widerspruch zuzulassen. Dabei deutet sie zudem auf die Hütte vor uns.

»Okay. Danke Ihnen.«

In Kelias Hütte treffe ich zuallererst auf einen kleinen Jungen, der sich mir als Galiu vorstellt. Er wirkt tapfer und ich frage mich unwillkürlich, wo sein Vater wohl sein mag. Und eine Vermutung, die sich in mir ausbreitet und haften bleibt wie klebriger Baumsaft, macht mir noch mehr zu schaffen. Was hat Galiu mit sich angefangen, wenn sein Vater wirklich fort ist und während seine Mutter verschleppt worden war? In mir zieht es sich bei dem Gedanken immer weiter zu. Ist Dira so etwas zugestoßen? Galiu führt mich in die Küche, in der Dira summend rumhantiert. Als sie mich erblickt, lächelt sie mir entgegen. Den Kloß und klebrigen Brei, die sich weiter empor gekrochen haben, versuchend herunter zu schlucken, lege ich ebenso ein Lächeln auf, ich probiere es jedenfalls.

Dira – ob sie meine Stimmung wahrnimmt oder nicht, das lässt sie sich nicht anmerken – leitet mich an und sagt, was hier zu tun ist. Wir unterstützen die beiden beim Haushalt und der Essenszubereitung, vor allem damit Kelia sich in der Zeit etwas ausruhen kann, aber auch, weil sie nicht mehr alles davon selbstständig erledigen kann. Lebensmittel hatte Kelia vorhin bereits bestellt, die Dira an einem der nächsten Tage abholen geht.

Die Arbeit ist sowohl anstrengend als auch befriedigend. Es tut gut, in dieser Zeit etwas Nützliches und gleichzeitig Sinnvolles tun und anderen eine Hilfe sein zu können. Doch gleichsam zeigt es so viel, mitunter zu viel, Ungerechtigkeit auf, die ich entweder vorher nicht gesehen habe oder die es vorher schlichtweg nicht gab. 

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