Kapitel 2: Das Treffen

Am nächsten Morgen wachte ich gleichzeitig mit der Sonne auf. Die ersten Sonnenstrahlen kitzelten mich sanft an der Nasenspitze. Ein paarmal blinzelte ich, um mich an die zunehmende Helligkeit zu gewöhnen. Nachdem ich mir den Schlaf aus den Augen gerieben hatte, ging ich meiner täglichen Morgenroutine nach. Eine kurze Dusche genommen, Zähne geputzt, Haare gekämmt und dann konnte ich auch schon mit meinem morgendlichen Yoga-Stretching beginnen.

Nach meiner Yogasession schlich ich auf leisen Sohlen in die Küche, um Frühstück zu machen. Ich wusste, meine Schwester und ihr Freund aßen am Morgen für ihr Leben gerne Spiegelei mit gebratenem Speck. Anstatt des Specks machte ich für mich selbst noch einen Cremespinat. Als ich damit fertig war den Tisch zu decken und gerade unsere Teller befüllte, kam Ida in die Küche. „Oh, das duftet aber gut. Danke, aber das wäre überhaupt nicht nötig gewesen. Du bist bei uns zu Gast, Luisa. Warum bist du schon auf, um Frühstück zu machen? Das ist doch eigentlich unsere Aufgabe!", entrüstete sich meine jüngere Schwester nach einem kurzen Morgengruß.

Mehr als ein „Jaja" als Antwort bekam sie von mir auf diese Ansprache nicht zu hören. Stattdessen richtete ich all meine Energie auf eine überschwängliche Begrüßung: „Guten Morgen, herzallerliebstes Schwesterchen! Ich hoffe du hast gut geschlafen und lässt dir das extra für euch zubereitete Frühstück gut schmecken. Sieh es als Dankeschön für eure nette Gastfreundschaft an."

Nach dem gemeinsamen Frühstück zog ich mich in mein Zimmer zurück, um mich in Ruhe auf mein Treffen mit Luke vorbereiten zu können. Beim Betreten des Raumes fiel mein Blick auf den Schreibtisch. Viel mehr auf die Glassplitter darauf. Gestern vor dem Schlafen gehen hatte ich beim Auspacken meiner Taschen ein Foto von Arian und mir gefunden. Alleine durch den Anblick von uns beiden, glücklich und verliebt in den Armen haltend, war in mir die Galle hochgestiegen. Eine unfassbare Wut hatte sich in mir aufgestaut. Schluchzend hatte ich das Bild auf den Schreibtisch gepfeffert, wobei der Bilderrahmen zersprungen war.

Kaum fiel mein Blick auf die Scherben, kamen mir erneut die Tränen. Stumm liefen sie meine Wangen hinab. Ich weiß nicht wie lange ich so dastand, stocksteif und heulend wie ein Schlosshund. Sekunden, Minuten oder vielleicht doch Stunden? Mein Zeitgefühl versagte für diesen Moment. Irgendwann erwachte ich aus meiner Trance und bewegte mich quälend langsam auf den Schreibtisch zu. Vorsichtig begann ich die größten Teile der Scherben aufzusammeln und in den Mistkübel darunter zu katapultieren.

Für die kleinen Glassplitter fischte ich ein Taschentuch aus der Packung, welche ich gestern ebenfalls auf der Schreibtischplatte abgelegt hatte. Dieses warf ich danach ebenfalls in den Müll. Als Nächstes nahm ich das Foto, mein einstiges Lieblingsbild von uns, in die Hand. Nach kurzem Zögern ließ ich auch dieses in den Eimer fallen. Diese Entscheidung währte jedoch nicht lange. Denn kurz darauf griff ich hinein, um das unversehrte Stück Papier herauszufischen.

Es klopfte an der Zimmertüre. Schnell stopfte ich das Foto in meine Hosentasche, bevor auch schon Harem seinen Kopf in den Raum streckte. „Deine Schwester kümmert sich gerade um die Katzenbabys. Sie lässt fragen, ob sie danach einmal nach dir sehen soll. Möchtest du, dass ich sie später zu dir schicke?" Ich bejahte seine Frage. Kurz darauf hörte ich auch schon, wie die Türe wieder zu ging.

Erleichtert ausatmend begab ich mich an das andere Ende des Raums. Dort öffnete ich den Kleiderschrank, um mich durch mein mitgebrachtes Gewand zu wühlen. Ein Teil nach dem anderen wurde aussortiert und achtlos auf den Boden geworfen. Irgendwann stand ich Mitten in einem riesigen Berg Wäsche. Immer noch konnte ich mich für keines der Kleidungsstücke entscheiden. Deshalb zog ich einen weiteren Rock aus dem Kasten und betrachtete ihn mit kritischem Blick.

Genau in diesem Moment wurde die Zimmertüre aufgerissen und Ida platzte herein. Natürlich! Meine jüngere Schwester kannte so etwas wie anklopfen oder Privatsphäre nicht. Skeptisch betrachtete sie mich von oben bis unten und brach dann in schallendes Gelächter aus. Ursprünglich wollte ich ihr meinen giftigsten Todesblick schenken. Allerdings wurde daraus eine lustige Grimasse, da ich ebenfalls kichern musste.

Hastig grub sich meine Schwester einen Weg zu mir in die Mitte des Kleiderhaufens, um mir mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Ida war in Sachen Mode besser informiert als ich. Mit ein paar geübten Handgriffen wühlte sie in dem Wäscheberg herum. Schon nach kurzer Zeit beendete sie ihre Suche. Zufrieden mit sich und der Welt hielt sie mir das perfekte Outfit für den heutigen Tag unter die Nase. Eine zerrissene Hotpants und ein sommerliches Regenbogentop. Dazu würde ich eine Jeansjacke tragen, falls es kühler werden sollte.

Vor lauter Freude und Dankbarkeit drückte ich meiner Schwerster einen Kuss auf die Wange. „Igitt!", lachte sie und gab mir einen spielerischen Klaps auf den Unterarm. „Glaube ja nicht, ich wüsste nicht, warum du dich schick machen möchtest. Momentan hast du noch Schonfrist. Aber sei dir dessen bewusst, dass diese nicht mehr lange anhalten wird. Dann möchte ich alles genauestens wissen. Aber bis ins kleinste Detail!", flötete Ida noch und zwinkerte mir verschwörerisch zu. So schnell wie meine Schwester gekommen war, verschwand sie auch wieder aus dem Zimmer. Verwirrt blickte ich ihr nach.

Noch lange nachdem die Tür schon ins Schloss gefallen war, starrte ich ihr noch stumm entgegen. Was hatte dieses verrückte Huhn damit jetzt schon wieder gemeint? Egal wie lange ich darüber nachdachte, ich wurde nicht schlau aus ihren Worten. Jedoch war mir das momentan auch komplett egal. Ich verdrängte Ida aus meinen Gedanken und konzentrierte mich auf wichtigere Dinge, wie beispielsweise mein heutiges Treffen mit Luke.

Schnell bekleidete ich mich, schnappte mir sowohl meine Jeansjacke als auch meine Sneakers und verließ das Zimmer. Zielstrebig steuerte ich die Eingangstüre an. Als ich am Wohnzimmer vorüber ging, verabschiedete ich mich von Ida und ihrem Freund. Beim Schließen der Türe hörte ich Harem meine Schwester noch fragen, wo ich denn alleine hinwollte, da ich hier doch nichts und niemanden kannte. Ida verfiel erneut in einen Lachflash. Amüsiert über das Verhalten meiner jüngeren Schwester konnte ich nur den Kopf schütteln. Ihre Antwort wollte ich erst gar nicht abwarten. Deshalb machte ich mich schleunigst auf den Weg zum Bahnhof.

Dort angekommen, wartete Luke überraschenderweise schon auf mich. „Hey, was machst du denn schon hier? Es ist doch erst 09:30 Uhr?", begrüßte ich ihn. „Weißt du, ich konnte in der Früh ohnehin nicht mehr schlafen und da die Züge nach Beelitz-Heilstätten nur stündlich gehen, bin ich schon früher weggefahren, um meinen Zug ja nicht zu verpassen." „Amüsant!", schmunzelte ich.

Abwartend sah ich Luke an, dieser strahlte bis über beide Ohren. Langsam wurde ich unruhig. Nervös trat ich von einem Bein auf das andere. „Was machen wir jetzt heute?", fragte ich schließlich. Falls überhaupt möglich wurde sein Lächeln nun noch breiter. „Heute nehme ich dich auf einen Baumkronenpfad mit!", lautete die mysteriöse Antwort. Unsicher sah ich auf meine Schuhe. Schon seit meiner Kindheit hatte ich regelmäßig Probleme mit schwindelerregenden Höhen. „Das konnte ja noch heiter werden", dachte ich bei mir.

Zu Fuß begaben wir uns zum Baumkronenpfad Beelitz-Heilstätten „Baum & Zeit". Vom Bahnhof aus brauchten wir zu jenem besagten, historischen Ort ungefähr siebzehn Minuten. Dort angekommen bezahlte Luke unsere Eintrittskarten und schon ging es los. Obwohl ich anfangs Bedenken hatte, konnte ich mich ziemlich schnell entspannen. Denn die Aussicht hier auf diesem Pfad war wirklich fantastisch. Auf gleicher Höhe mit den Baumkronen spazierten wir den Weg entlang. Von hier oben konnte man gefühlt die gesamte Parkanlage überblicken.

Bei jedem sich auf unserem Weg befindenden Gebäude legten wir einen kurzen Stopp ein und Luke erzählte mir jeweils eine kurze Geschichte dazu. Interessiert lauschte ich seinen Erzählungen. Mit jedem seiner Worte wurde ich innerlich ruhiger und ruhiger. Ich war schwer beeindruckt von seinem ganzen Wissen. Woher wusste er das alles nur? Meine stumme Frage sollte nicht lange unbeantwortet bleiben. „Ich habe mich vor unserem Ausflug während der Zugfahrt ein bisschen darüber informiert", grinste Luke allwissend.

Dieser junge Mann war mir wirklich ein Rätsel. Wie konnte er ständig wissen was ich denke und in jedem Moment das Richtige sagen? Irgendwie gruselig. Jedoch auf der anderen Seite begann mir diese Tatsache auch zu gefallen. Er war sicher jemand, der dir deine Wünsche von den Augen ablesen konnte. „Halt, Luisa! Was denkst du da schon wieder?" Gott sei Dank konnte niemand meine lächerlichen Gedanken lesen. Das wäre nämlich mehr als peinlich. All meine Konzentration auf mein Innenleben gerichtet schüttelte ich fassungslos über mich selbst meinen Kopf.

„Luisa, ist alles okay mit dir?", vernahm ich Lukes Stimme erneut. Schlagartig riss ich mich aus meinen Tagträumereien und zwang mich dazu, mich auf meine Begleitung zu konzentrieren. „Es tut mir leid. Ich war etwas in Gedanken." Luke antwortete mit einem tiefen Lachen. Wieder machte sich diese wohlige Wärme in mir breit. Ein Kribbeln durchströmte meinen gesamten Körper.

„Möchtest du noch mehr darüber wissen?", wiederholte Luke seine Frage, „Oder können wir weitergehen?" Dümmlich nickte ich vor mich hin. Abermals ertönte dieses wundervolle Lachen, das mir angenehme Schauer über den Rücken jagte. Was war denn nur los mit mir? Erneut musste ich aus meinen Gedanken geholt werden. Diesmal durch einen leichten Druck an meinem Oberarm. Sachte wurde ich ein Stückchen mitgezogen, bis sich Luke wieder etwas von mir entfernte.

Nebeneinander hergehend folgten wir dem weiteren Pfad. Solange, bis wir am Ende des Weges ankamen. Teils traurig, teils erleichtert verließ ich gemeinsam mit Luke die Parkanlage. Draußen wollte dieser von mir wissen, wie mir der Ausflug dorthin gefallen hatte. Dankbar lächelte ich ihn an. „Er war fantastisch!", schwärmte ich, „Vielen Dank für den schönen Tag!" „Es war mir eine Ehre. Schade irgendwie, dass er schon vorbei sein soll." Ein scheinbar trauriges Lächeln umspielte seine Lippen. Sein Anblick versetzte mir beinahe einen Stich in meinem Herzen.

Deshalb antwortete ich: „Wir können gerne morgen wieder etwas unternehmen, falls du Zeit und Lust dazu hast." „Natürlich habe ich das!", kam es prompt von ihm. Nun zierte ein breites Lächeln mein Gesicht. Meine Mundwinkel hatten sich ganz automatisch gehoben, ohne dass ich etwas dagegen hätte tun können.

Ich brachte Luke noch zurück zum Bahnhof. Auf seinen Wunsch hin gab ich ihm meine Nummer, um auf diesem Wege zukünftige Treffen vereinbaren zu können. Dies sollte sowohl das Arrangieren, als auch die Planung vereinfachen. Ich wartete noch, bis Lukes Zug abfuhr und machte mich dann auf den Weg zu meiner Schwester nach Hause. Was für ein Tag! Mit Luke würde es bestimmt nie langweilig werden.


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