Wolfsrudel 09


Immer wenn der junge W sich im Spiegel betrachtete, merkte er, wie schön er eigentlich war. Nicht nur ein wenig schön, sondern schon eher die gehobene Art von schön. Zufrieden war er zwar nicht mit sich selbst, aber an seiner Schönheit bestand kein Zweifel, so dass nicht einmal er selbst es verleugnen konnte.

Doch zu allem Ärger nutzte ihm seine Schönheit auf dem Weg zu seinem Ziel herzlich wenig. Das Ziel lautete "Zufriedenheit", denn darin, so war er sich sicher, lag das Glück und das Ende einer jeden Reise.

Um seinem Ziel näher zu kommen probierte W verschiedenste Dinge aus. Grundsätzlich verband er Zufriedenheit mit der Farbe Türkis. Sie erinnerte ihn ans Meer und an Ölgemälde, die den Himmel zeigten. So kam es, dass er eines Tages einkaufen ging und sich selbst komplett in Türkis badete. Ein türkises Oberteil, kombiniert mit einer türkisen Leinenhose und einem schicken Paar türkisen Schuhen. Das Outfit entsprach weder einer aktuellen, noch irgendeiner früheren Mode, doch W fühlte sich großartig darin. Wie er durch die Straßen der Stadt schlenderte, starrten ihn die Leute an. Wenn man sie gefragt hätte, warum sie so starrten, hätten sie sicherlich geantwortet, dass es die Folge der Außergewöhnlichkeit des Aufzugs von W war, und dass sie es vielleicht sogar ein bisschen merkwürdig aussehend fanden. Doch W wusste, dass die Blicke eigentlich etwas ganz anderes bedeuteten. Es handelte sich um Neid, puren Neid. Sie wussten, er war näher am Glück und damit an der Zufriedenheit dran, als sie es selbst waren. Die meisten von ihnen trugen die gleichen Kleider, gingen den gleichen Gang. W war ihnen weit voraus, zumindest in der Hinsicht.

Leider gab es jedoch auch eine Disziplin, in der das Gegenteil der Fall war: Das Balancieren auf einem Bein. Jedem halbwegs normalen Menschen war es möglich auf einem Bein zu stehen. So manch einer konnte sogar noch dabei hüpfen. Doch W war eine Niete darin. Schon oft hatte er es versucht, doch noch nie waren seine Versuche mit Erfolg gekrönt worden.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass dies doch eine vollkommen nutzlose Fähigkeit sei. Was brachte es einem, auf einem Bein balancieren zu können?

Die Antwort war ganz einfach. Es war etwas, das einfach dazu gehörte, weil es schon immer dazu gehört hatte. Ein alter Brauch, der fortgeführt wurde. Niemand wusste mehr so wirklich warum man es tat und woher es kam, aber das war nicht weiter wichtig, solange man ab und zu das eine Bein in die Höhe hielt und ihm eine Pause gönnte.

Von so manch einem Zeitgenossen wurde W für sein Unvermögen verachtet. Er fühlte sich schrecklich und so sehr er es sich auch wünschte, dass er genau wie bei den Blicken auf sein außergewöhnliches Outfit, darüber hinweg sehen konnte und sich keine Gedanken über die Gedanken der Anderen machen musste, schaffte er es nicht.

Das Ticket in Richtung Zufriedenheit musste er erstmal wieder stornieren, denn so würde er nicht am Ziel ankommen.

W wurde erst traurig und schließlich immer wütender. Ein für alle mal hatte er genug von den Menschen. W wollte nur noch weg. Wohin wusste W noch nicht, doch seine Füße trugen ihn in eine ganz bestimmte Richtung. Als er zum Wald rannte, hüpften zwei Mädchen, beide auf einem Bein, an ihm vorbei und lachten über seine langweilige Zweibeinigkeit. W weinte auf dem Weg zum Wald und kurz bevor er ganz in der Natur verschwand, riss er sich die teuren türkisen Kleider vom Leib. Nun fühlte er sich wieder etwas natürlicher, im wahrsten Sinne des Wortes. Doch ohne Kleider war es kalt im Wald und weil W nicht wusste wohin, wurde er zum Wolf und schloss sich einem Rudel an. Gemeinsam streiften sie umher, auf der Suche nach etwas Essbaren. Sie spielten viel miteinander und hielten gute Konversationen. Endlich konnte W wieder lächeln. Er wusste er hatte eine Familie gefunden, Individuen, mit denen er noch sehr viel Zeit verbringen wollte und würde. Mit das Schönste daran, war jedoch, dass im Rudel keiner auf die Idee kam, auf einem Bein zu stehen wollen. Das wäre auch reichlich komisch gewesen; ein Vierbeiner auf einem Bein. W war sich fast sicher, dass das gar nicht möglich war.

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