ℙ𝕒𝕣𝕥 𝟚
Der Mond starrte mit unnachgiebigem Blick vom hellgesprenkelten Nachthimmel auf die Welt hinab, die wie immer zu dieser finsteren Stunde in tiefen Schlummer gefallen war. Wie immer in solch klaren Nächten saß Neve draußen und blickte in den Himmel, als sähe sie in ihm etwas, was kein anderer sah. Ihre Augen reflektierten dabei das Mondlicht und ein ganzes Universum spiegelte sich in ihren Augen wider, während die Stille sie wie einen Mantel einhüllte.
Genau so fand Kenan die Schlaflose vor. Für einen Moment erstarrte er mitten in der Bewegung und beobachtete die kleine Nachtelfe, die verträumt den Himmel bestaunte, wo es nichts gab außer tote Sterne und Enttäuschung über die Leere, wo kein Gott wohnte, der herumirrende Seelen leiten und sie zu sich in sein friedvolles Reich holen konnte. Doch was schaute sich Neve an, wenn sie keinen Trost suchte? Suchte sie etwa nur eine Ausrede, um nicht nach Kenan Ausschau halten zu müssen? Wollte sie etwa wirken, als wäre es ihr gleichgültig ob er nun zu ihr stieß oder nicht? Dieser Gedanke traf den jungen Mann mitten ins Herz. Schmerz flutete seine Sinne und ließ ihn zusammenzucken, obwohl da nichts war, was ihn hätte wirklich verletzen können.
Wenn er Neve egal war, warum wollte sie dann mit ihm reden? Sie waren vor Ewigkeiten als Freunde auseinandergegangen, nach einigen Abenteuern im Dunkeln, weil sich beide in dieser lieblosen Welt, die sie nicht wollte, einsam fühlten. Ein echtes Paar waren sie nie, auch wenn es sich für Kenan zumindest für einige Herzschläge so angefühlt hatte. Was hätte ihnen die Liebe auch schon gebracht? Das Leben des fahrenden Volkes war ein unstetes und hartes Leben, in dem etwas so Zartes und Zerbrechliches wie die Liebe einfach keinen Platz finden konnte.
Kenan und Neve wären niemals allein gewesen in ihrer riesigen Familie und es hätte auch keine Möglichkeit für sie gegeben, durchzubrennen und irgendwo neu anzufangen. Denn dann hätten sie alle im Stich lassen und sich der echten Welt stellen müssen, die sie erst recht wie Aussätzige behandeln und schlimmstenfalls sogar jagen würde, bis sie unter dem Druck zusammenbrächen.
Und wie hätte ihre gemeinsame Geschichte schon enden sollen? Neve, so sehr Kenan sie auch liebte, war nicht die Richtige für ihn. Nein, andersherum. Er war nicht genug für die kleine Elfe mit einem Temperament, das zu ihren feuerroten Haaren passte. Wie hätten sie auch zusammenpassen sollen? Ein so ungleiches Paar wie sie hätte niemals Kinder bekommen können, ohne dass Neve sich dabei in Gefahr brachte, so zart und klein, wie sie war. Und Kenan hätte sie niemals vor den Blicken der Menschen beschützen können, die in ihr nicht mehr sahen, als einen Zwerg, eine Kuriosität, die sie begaffen konnten und über die sie sich lustig machten, ohne zu verstehen, dass da immer noch ein Mensch mit Gefühlen vor ihnen stand, die man durch solche Gehässigkeiten verletzen konnte.
»Danke, dass du gekommen bist«, unterbrach Neves Flüstern die Gedanken des Feuerspuckers. Wie lange hatte sie schon gewusst, dass er hier im Schatten stand und sie beobachtete? Die Schamesröte trieb es dem Schwarzhaarigen ins Gesicht, dass die kleine Tänzerin ihn so leichtfertig bei dieser seltsamen Tätigkeit ertappte und nicht einmal eine Regung zeigte. Verärgerte es sie etwa gar nicht, dass Kenan nicht von ihr lassen konnte?
Doch bevor er sie genau das fragen konnte, klopfte Neve neben sich auf den Felsen, auf dem sie Platz genommen hatte. Dabei drehte sie sich nicht einmal zu ihm um, sondern blickte weiterhin hinauf zu den Sternen. »Komm schon, setz dich zu mir. Wir wollen doch nicht die anderen wecken, wenn ich so laut sprechen muss, weil du dich nicht an mich rantraust. Außerdem ist diese Nacht zu schön, um sie allein verbringen zu müssen.«
Sofort leistete Kenan ihrer Aufforderung Folge und setzt sich zu ihr, darauf bedacht, ihr nicht zu nahe zu kommen. Gerade jetzt wirkte Neve fast transparent und so zerbrechlich wie Glas, weshalb der Schwarzhaarige es mit der Angst zu tun bekam, dass er sie auch nur bei der kleinsten Berührung kaputtmachen könnte. Vielleicht fürchtete er aber auch nur, dass seine alten Gefühle wieder hervorbrechen könnten, sobald er sich ihr wie damals näherte. Wie damals, als er noch keinen Gedanken daran verschwenden musste, wie wenig er die Rothaarige verdient hatte und wie sehr er sich wünschte, dass sie beide in einem anderen Leben und in einer besseren Welt zueinanderfinden konnten, wenn es so etwas wie eine Wiedergeburt gab.
»Warum hast du mich hergebeten, Neve?«, fragte Kenan sehr leise und mied ihren Blick, den er nun auf sich brennen spürte, als wäre der junge Mann plötzlich so viel wichtiger als der Sternenhimmel über ihnen.
So sah er auch nicht das kleine Lächeln, das sich auf dem schmalen Gesicht des Elfenmädchens ausbreitete. »Es hat nichts mit damals zu tun, Kenan. Du denkst noch oft daran zurück, oder? Doch das ist nun mal vorbei. Aber ich weiß ja, wie wenig du von der Vergangenheit ablassen willst und wie sehr du dich manchmal an sie klammerst, weil du Angst vor der Zukunft hast. Nein, deshalb wollte ich nicht mit dir sprechen. Es geht um den Neuen. Wir müssen etwas unternehmen. So geht es nicht weiter.«
Nun war der Feuerspucker ganz Ohr und vergessen waren die trüben Gedanken, die sich nun lichteten wie sterbende Nebelschwaden. Endlich fand er auch den Mut, seine Gesprächspartnerin direkt anzuschauen, um ihr stumm zu verstehen zu geben, dass sie weiterreden sollte.
Wie immer verstand Neve sofort und wieder schaute sie dem jungen Mann ungewohnt ernst in die beinahe schwarzen Augen, die einst noch dunkelblau waren, doch von der Sorge und dem Schmerz nach und nach getrübt wurden, bis kein Leben mehr in ihnen herrschte.
»Ich habe mit den anderen gesprochen und wir sind uns alle einig: Er gehört nicht hierher. Lenox zerstört unsere Familie und Godric bemerkt es nicht einmal, weil er nur das Geld winken sieht, das dieser seltsame Kerl einbringt. Doch was bringt uns das Geld, wenn immer wieder Familienmitglieder verschwinden? Seit dieser Kerl bei uns ist, haben wir schon so viele verloren. Das kann doch kein Zufall sein.« Neve ballte ihre kleine Faust und schaute so hasserfüllt drein, dass es Kenan erschreckte. Ihr sonst so schönes Gesicht war zur wilden Fratze verzerrt, die den Zorn, der auch in Kenans Brust tobte, perfekt widerspiegelte.
Reflexartig nahm der Schwarzhaarige ihre Hand in seine und öffnete die Faust wieder, während er seinen Vorsatz, Neve nicht zu nahe zu kommen, einfach hinter sich ließ, als hätte er niemals existiert. Kurz zuckte das Elfenmädchen zusammen, ehe sie einfach gegen seine Brust sackte und ihren ehemaligen Geliebten in eine feste Umarmung zog, die er sofort erwiderte. Dass sie dem Weinen nahe war, spürte Kenan deutlich an dem leichten Zittern, das ihren Körper immer wieder erbeben ließ. So strich der Schwarzhaarige Neve sanft übers Haar, sich unsicher, was er sagen konnte, um sie zu beruhigen.
»Denkst du, dass er für Waynes Tod verantwortlich ist?«, fragte der Feuerspucker leise und bereute seine Worte schon im nächsten Moment, da er nun spürte, wie die Tränen seine Kleidung tränkten. »Er muss es sein«, wimmerte Neve undeutlich. »Mein Bruder war jung und gesund, wie soll da sein Herz einfach aufhören zu schlagen? Lenox muss der Mörder sein. Wer sollte schon Wayne etwas Böses gewollt haben?«
Und während Neve weinte und Kenan sie sanft festhielt, lebte in ihrer beider Herzen die Erinnerung an den Toten auf, der nie ein schlechtes Wort in seinem Leben verloren hatte und es eigentlich nicht verdient hatte, im fahrenden Volk daheim zu sein, so normal war er gewesen. Nur wegen seiner Schwester war Wayne ein Teil der Familie gewesen und nun war er einfach weg, ohne dass jemand wusste, warum der Tod ihn so früh ins Jenseits geschickt hatte.
»Du musst ihn bestrafen, Kenan«, schluchzte die Rothaarige plötzlich, was den Feuerspucker kurz denken ließ, er hätte sich verhört. Doch als wollte sie genau diese Zweifel schnellstmöglich fortwischen, fuhr die weinende Rachegöttin in seinen Armen fort.
»Du bist der Einzige, der stark genug ist, sich ihm zu stellen. Uns anderen macht dieser komische Junge zu viel Angst. Mach dass es aufhört, Kenan. Bitte. Lenox muss weg, bevor er noch unsere gesamte Familie zerstört. Ich will niemanden mehr verlieren. So soll es nicht enden. Wir haben zu lange gekämpft, um jetzt einfach von einem Fremden vernichtet werden zu können.«
Neves Worte brannten sich ins Gedächtnis des jungen Mannes ein und brachten hervor, was er jedes Mal spürte, wenn er Lenox ansehen musste. Da war er wieder, der Hass, der alles Gute im Herzen des Schwarzhaarigen verenden ließ und dem Dämon in ihm Platz machte, der am selben Tag geboren wurde, als sein altes Leben endete. Für einen kurzen Augenblick kam sich Kenan so egoistisch vor, dass er zuvor nur an sich und seinen Ruhm gedacht und den Jungen mit der Engelsstimme nur aus diesem Grund verteufelt hatte. Wie konnte der Feuerspucker nur dabei vergessen, dass seine Familie in Gefahr war? Diesen Fehler würde er sich niemals verzeihen können. War er am Ende schuld an all den Unschuldigen, die durch diese Reinkarnation des Teufels ihr Leben lassen mussten?
Neve hatte recht – Lenox' finstere Machenschaften mussten gestoppt werden, bevor er noch mehr Schaden als ohnehin schon anrichten konnte. Alle Probleme wären gelöst, wäre der Blonde tot, denn eine einfache Verbannung reichte im Falle einer solchen Monstrosität nicht aus. Zudem würde Godric sicher nicht so einfach von seinem Goldesel ablassen.
Nein, Lenox hatte für diese Morde nichts als den Tod verdient. So konnte sich Kenan vielleicht sogar an den Kreuzrittern rächen, die seine erste Familie einfach dem Erdboden gleich gemacht hatten. Denn sie alle waren vom selben Schlag und genau das, was Kenan sich unter dem vorstellte, was alles Böse dieser Welt verkörperte. Er musste jetzt handeln und seine neue Familie beschützen, ehe er wieder allein dastand und diesmal niemanden hatte, der sein gebrochenes Herz heilen könnte.
So legte Kenan sanft seine Hand an Neves Kinn und brachte sie dazu, ihn anzusehen. Die Tränen glänzten wie flüssige Diamanten auf ihren blassen Wangen, welche er für einen Moment musterte, ehe er sie einfach fortwischte. Dann hauchte er dem Elfenmädchen einen Kuss auf die kalten Lippen, der besiegeln sollte, was er ihr stumm schwor. Er würde seine Liebste nicht enttäuschen. Wenn sie wünschte, dass die Wurzel allen Übels beseitigt wurde, dann würde er dem nachkommen. Denn er hasste es, sie so am Ende ihrer Kräfte zu sehen. Dass Neve vielleicht nur einen Sündenbock für ihren schmerzhaften Verlust suchte, kam dem Schwarzhaarigen dabei nicht eine Sekunde lang in den Sinn.
»Sei unbesorgt«, flüsterte der junge Mann der Rothaarigen zu, die ihn vollkommen überrumpelt anstarrte. »Es wird bald aufhören. Das verspreche ich dir. Ich werde Wayne rächen. Und alle anderen, die dieses Scheusal umgebracht hat.«
Wieder loderte der Hass in seinem Herzen wie eine Flamme, die ihn von innen heraus wärmte und zu dem anstachelte, was noch verschwommen in der hintersten Ecke seines Verstandes existierte. Kenan hatte seinen Entschluss gefasst und nichts auf dieser Welt konnte ihn jetzt noch von seinem Vorhaben abbringen.
So erhob er sich auch schon vom Felsen und zog sich zurück, um Pläne zu schmieden und sich für die verbleibenden Stunden schlafen zu legen, um seine Chance auf Vergeltung nicht durch lästigen Schlafmangel verstreichen lassen zu müssen. Die Ruhe vor dem Sturm verbrachte der Schwarzhaarige damit, von der heilen Welt zu träumen, deren Tore sich durch einen einzelnen Mord für ihn und alle, die ihm etwas bedeuteten, öffnen würden.
Neve hingegen fand keinen Schlaf und saß weiterhin auf ihrem Stein, während sie ihrem Bruder und allen Toten gedachte, was einen weiteren Gefühlsausbruch hinaufbeschworen.
»Komm einfach nur gesund zurück«, flüsterte die Rothaarige leise, in der Hoffnung, dass Kenan wissen würde, wie ungern sie ihn dieser Gefahr aussetzte, nur weil sie selbst zu schwach war, ihren Bruder zu rächen. Doch sie sprach nur tote Worte, die im selben Moment verblassten, wo sie hinaus in die Nacht schallten. Kenan würde sie nie hören. Ob Neve ihm hätte sagen sollen, dass er alles war, was ihr noch auf dieser Welt wichtig war? Nein, das hätte ihn sicher nur abgelenkt und die Vergangenheit wiederbelebt, die begraben bleiben sollte. Sich genau dies einredend, wandte das Elfenmädchen seinen Blick wieder dem Nachthimmel zu, wo es genau den Stern suchte, von dem aus Wayne auf seine Schwester hinunterschauen und sie für ihre Feigheit verurteilen musste.
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