ℙ𝕒𝕣𝕥 𝟙
Der Wind strich sanft durch das blonde Haar des Jünglings, der inmitten der Menschenmenge stand, die sich dort auf dem Marktplatz versammelt hatte. Er leuchtete im Gegensatz zu seiner Audienz, die nur stumm, vom Gesang dieses menschgewordenen Engels verzaubert dort stand und das Licht des Sängers abschirmte. Diese Menschen waren die Schatten, die den Jungen davon abhielten, seine Stimme in die ganze Welt hinausschallen zu lassen, womit sich seine Kunst nur auf diesen kleinen Flecken Erde beschränkte, der für einen Moment vielleicht stillstehen und ihm lauschen, doch den Jungen mit der Engelsstimme bald schon wieder vergessen haben würde, so schnell wie Töne im Wind verwehten.
Wenn die Menge doch nur wüsste, wovon dieses schöne Bürschlein sang. Doch die Sprache, die Hand in Hand mit der Melodie ging und all diese Emotionen versprühte, die das Publikum fast schon gezwungen war zu fühlen, kannte niemand der Anwesenden. Das minderte jedoch nicht den engelsgleichen Klang, den man sofort vermisste, sobald der Junge sein Lied beendete und betretende Stille eintrat, in der die letzten Tränen in der Menge vergossen wurden und dieser wundersame Gesang des Blonden langsam seine Wirkung verlor.
Dann brandete der Applaus auf und die Menschen jubelten dem Jungen mit der Engelsstimme zu, der sich bescheiden vor ihnen verneigte und sich aus dem Rampenlicht zurückzog, um dem Anführer des kleinen Wanderzirkus die Gelegenheit zu bieten, das Wort zu ergreifen. Dieser hatte nach der Einlage des himmlischen Sängers jedoch keinen Platz mehr in den Herzen der Menschen, die zuvor ihr Leben normal gelebt und sich zufällig zum rechten Zeitpunkt auf dem staubigen und sonst so lauten Marktplatz eingefunden hatten.
Das Licht des Sängers überstrahlte alles, so sehr berührte sein Gesang die Seelen der einfachen Leute und ließ sie glauben, sie würden in diesem Augenblick in das Antlitz eines wahrhaftigen Gottes blicken. Deshalb lauschte auch niemand mehr den Abschiedsworten des Direktors und niemand erinnerte sich mehr an die vorangegangenen Künstler, die die Menge durch ihre außergewöhnlichen Talente oder ihre merkwürdige Erscheinung in Staunen versetzt hatten.
Stattdessen hielten all diese Menschen nur nach dem scheuen Jungen Ausschau, der sich direkt nach seinen Auftritten schnell in die Dunkelheit der Kutsche zurückzog und sich so vor ihren Blicken verbarg. Und das Publikum spendete auch nur für den Blonden ihren letzten Groschen, als der Hut umging, das war allen Anwesenden hier klar. Der Rest war vergessen, nur seine Stimme hallte in ihren Herzen wider, bis die Artisten weiterzogen und das nächste Dorf unsicher machten mit ihrem Schabernack und der Hauptattraktion, die heller strahlte als die Sonne im Zenit.
Genau das war, was Kenan von Mal zu Mal wütender machte. Dieser blonde Sänger war in den letzten paar Monaten für den Schwarzhaarigen die Verkörperung des Teufels geworden. Nicht nur, dass er ihn und alle anderen Mitglieder des fahrenden Zirkus wie talentlose Schatten dastehen ließ, nein, dieser junge Mann konnte einfach kein irdisches Wesen sein. Vielleicht war er schön und zart wie die Kunst selbst und somit nichts, was man als dämonisches Machwerk hätte werten können, doch irgendwas an ihm kam Kenan nicht normal vor.
Kein menschliches Wesen hatte so eine Stimme, die klang, als würde der Himmel selbst zu einem sprechen und kein Mensch bemächtigte sich einer Sprache, die sich nicht einmal durch Worte ausdrücken ließ, so fremd wie die Laute klangen, aus denen der Gesang des Sängers gemacht war.
Wie die Menschen sich von dieser Außergewöhnlichkeit blenden lassen konnten, verstand Kenan nicht. Und warum gingen sie sogar so weit, ihn und alle anderen Künstler, die ihr Handwerk ebenso beherrschten wie der Himmelssänger, einfach zu vergessen, als wären sie vollkommen unwichtig?
Bevor dieser Teufelsjunge aufgetaucht war, war Kenan der Mittelpunkt jeder Darbietung. Er begeisterte die Massen als menschliche Fackel und die Welt drehte sich nur um ihn, während die Menschen von überall herkamen, um ihn zu sehen. Kenans Ruf eilte ihm voraus, doch auch wenn er die Hauptattraktion war, waren die anderen Artisten immer ein Teil von dem großen Ganzen und wurden nicht vollkommen überstrahlt. Im fahrenden Volk waren alle wie eine Familie, die zusammenarbeitete und füreinander in Krisenzeiten einstand. Das alles sollte jetzt vorbei sein, nur weil irgendein dahergelaufener Knabe ihnen allen die Aufmerksamkeit des Publikums durch sein schiefes Trällern stahl?
Allein diesen Jungen aus der Ferne zu beobachten schürte den Hass in Kenans Herzen. Dafür sollte er so hart an sich und seinen Fähigkeiten gearbeitet haben? Um einfach ersetzt und vergessen zu werden? Was dachte sich ihr Anführer nur dabei, diesen dahergelaufenen Wicht bei sich aufzunehmen? Der sprach ja nicht einmal ein Wort mit den anderen, sondern verkroch sich nur arrogant in der Stille und den Schatten der Einsamkeit, die er so zu lieben schien. Der Sänger war wirklich seltsam. Nur weil er vielleicht durch seine teuflischen Talente etwas mehr Geld einbrachte als die anderen Artisten, war der Blonde doch noch längst nicht mehr wert als sie.
Doch den Anführer darauf anzusprechen, traute sich der Schwarzhaarige dann doch nicht. Niemand in ihrer Familie hatte das Recht, die Entscheidungen Godrics infrage zu stellen. Dieser Mann mochte alt sein und gebrechlich noch dazu, doch irgendetwas an ihm ließ die Menschen in seiner Nähe erstarren und ihm Gehör schenken, als ginge es um ihr Leben. Vermutlich lag es an seinen hellen Augen, die wie Eiskristalle strahlten und einem die nackte Angst in die Glieder kriechen ließ und nichts an Stärke und Ausdruckskraft über die Jahrzehnte eingebüßt hatten. Einige in der Familie behaupteten sogar, dass er der Teufel höchstpersönlich wäre, der alle verlorenen Seelen bei sich aufnahm und ihnen ein Zuhause gab.
Denn genau so war es mit ihnen allen geschehen. Allen wandernden Künstlern dieser Familie hatte Godric einen Sinn gegeben, als hätte er sich die bedauernswertesten Gestalten, die so auf der Welt umhergewandert waren, ausgesucht, um sie in seinem Kuriositätenkabinett zu vereinen und aus ihnen Profit zu schlagen.
Kenan beispielsweise hatte der Alte aus dem Trümmerhaufen gerettet, der einst noch sein Heimatdorf gewesen war, weit weg von hier und in einer Zeit, die nicht von rachsüchtigen Christen und dem donnernden Hufschlag berittener Krieger heimgesucht wurden, die nur Tod und Zerstörung hinterließen, wohin sie auch gingen. Mutterseelenallein war der damals noch so kleine Kenan gewesen, der nur wenige Tage später am Hunger und seinem gebrochenen Herzen gestorben wäre, hätte Godric sich nicht seiner angenommen. Als Waise hätte der Junge nie in dieser grausamen Welt überlebt. Also hatte er keine andere Wahl als all seinen Verlusten den Rücken zu zukehren und sich dem alten Mann anzuschließen, der wie ein Vater für ihn wurde, obwohl er kaum mehr als dessen Namen über ihn wusste.
In etwa dasselbe war es auch mit dem blonden Sänger gewesen, den Godric eines schönen Tages anschleppte. Nackt war dieser gewesen und doch so rein, dass er nicht wirkte, als hätte er sein Leben als Wilder in den Wäldern verbracht. Und der Sänger war überaus irritiert gewesen – er kannte kaum etwas, was für andere vollkommen alltäglich war.
Kutschen waren dem Jungen zunächst ein Graus, essen wollte er ebenso wenig und vor allem wenn man ihn ansprach, schien es, als verstände er kein einziges Wort von dem, was man an ihn richtete. Er schien ein hoffnungsloser Fall zu sein. Ein armer Irrer, mit dem es das Leben alles andere als gut gemeint hatte, womit es ihm nicht nur die Identität, sondern auch den Verstand genommen hatte. Nicht mal seinen Namen konnte der Junge nennen, denn er schien keiner Sprache mächtig zu sein, die man hätte verstehen können.
Es brauchte viel Geduld von Godric und Thelma, der alten Köchin, die ein reineres Herz zu haben schien als Gott selbst, den Neuzugang zu zivilisieren. Zwar sprach er noch immer nicht, doch immerhin fügte er sich nun in die Gruppe ein, so sehr ihn auch die anderen abstoßen wollten. Er war anders als sie und gerade sein Licht war es, was ihn so hassenswert machte. Lenox wurde der Junge getauft, dessen Talent eines Nachts offenbart wurde, als er unter Ängsten zu leiden schien, die er selbst mit leisen Gesang beseitigen wollte. Dieses Murmeln machte den Blonden zur Hauptattraktion und verstieß Kenan von seinem Thron. Wäre er nicht so zornig darüber, hätte der Feuerspucker sicher Mitleid mit dem Bengel, der nicht viel jünger als er selbst war und doch so klein und schwach wirkte, als wäre er in dieser Welt vollkommen fehl am Platz.
Gerade als die Schausteller alles zusammenpacken und weiterziehen wollten, da die Vorstellung hier vorbei war und sie keinen Grund mehr hatten, an diesem Ort zu verweilen, tippte jemand Kenan auf die Schulter. Der junge Mann zuckte zusammen und fuhr ruckartig herum, nur um in das stupsnasige Gesicht Neves zu sehen, die ihn vollkommen ernst ansah, was sonst überhaupt nicht ihre Art war.
»Können wir reden?«, fragte die kleine Frau, die kaum an Kenans Brust heranreichte und doch energiegeladener als die Familie zusammen war.
Der Schwarzhaarige nickte und schaute sich prüfend um. Die Menschenmenge stob wieder auseinander, als hätte sie längst vergessen, wie gebannt und gleichzeitig erschüttert sie von der Darbietung Lenox' zuvor gewesen war und die Schausteller verzogen sich in die Schatten ihrer eigenen Welt, wo normale Menschen keinen Platz fanden.
»Kann das warten, bis wir ungestört sind?«, erwiderte der junge Mann nur, woraufhin Neve bedächtig nickte. Beide wussten sie, dass es der Rothaarigen sehr ernst mit dem war, was sie loswerden wollte. Allein ihre Mimik verriet dies schon.
Dann huschte ein kleines Lächeln über ihr Gesicht, das jedoch ihre sonst so freundlichen grünen Augen nicht erreichen konnte. »Komm zu mir, wenn die anderen schlafen. Du weißt, wo du mich findest. Und versichere dich, dass du allein bist. Was ich dir sagen will, ist auch nur für dich bestimmt.«
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top