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"Besser diese als keine Entschuldigung, oder etwa nicht?", entgegnete er und Lucinda hätte ihm zu gerne ihre Meinung gesagt, aber da standen sie schon vor dem für sie vorgesehenen Stuhl, den Lord White ihr zurechtrückte, damit sie sich setzen konnte.

Offenbar hatte man ihn auch noch als ihren Tischherrn auserkoren, denn er setzte sich neben sie, als alle Damen am Tisch Platz genommen hatten.

Das Essen wurde aufgetragen und Lucinda war die distinguierte Stille ein wenig unangenehm. Zuhause herrschte am Essenstisch nie eine derartige Ruhe, in der man nur das leise Klappern des Bestecks hörte.

"Das Essen ist überaus vorzüglich, Lady McLocklyn", eröffnete Lucindas Mutter das Tischgespräch und Lucinda musste sich ein Lächeln verkneifen. Ihre Mutter konnte noch nie lange ruhig sein.

"Ich danke Ihnen, Mrs Thornton." Lady McLocklyn lächelte und nickte ihrer Mutter sanft zu, obwohl nicht sie, sondern ihre Angestellten in der Küche das Mahl zubereitet hatten.

"Lord White", sprach daraufhin Lucindas Vater Bailian an und sie war sich sicher, dass er einen Fußtritt von ihrer Mutter erhalten hatte, damit er den Anfang des Gesprächs machte. "Was verschlägt sie aufs Land? Genießen Sie die Jagdsaison?"

Sämtliche Anwesende am Tisch drehten ihre Köpfe in seine Richtung, auch Lucinda. Ihm schien dies jedoch nichts auszumachen und charmant lächelte er in die Runde. "Sich in der Jagdsaison hier auf dem Anwesen meines Onkels aufzuhalten, ist wahrlich eine große Freude", fing er an und warf Lucinda einen kurzen, vergnügten Blick zu, den sie nicht wirklich zu deuten wusste. "Ich habe eine Auszeit vom hektischen Leben in London gebraucht und mein Onkel war mit seinem Angebot, ihn besuchen zu können, mehr als großzügig."

Lucinda beherrschte sich, um keinen sarkastischen Kommentar fallen zu lassen, und sah zu ihrer Familie, um mit einem Blick darauf aufmerksam zu machen, dass sie ihn durchschaut hatte, bemerkte aber zu ihrem Erstaunen, dass die anderen nicht den gleichen Argwohn Bailian White gegenüber zu pflegen schienen, wie noch gestern Morgen. Ihre Schwestern himmelten ihn förmlich an und auch ihre Eltern sahen mehr als zufrieden ob seiner Antwort aus.

"Die Großzügigkeit Ihres Onkels, Lord McLocklyn, ist in der Gemeinde weit und breit bekannt", antwortete Mr Thornton ehrerbietig und lächelte den Lord an.

"Ich kann mich glücklich schätzen, eine so loyale Verwandtschaft zu haben", lächelte Bailian und wollte sich wieder seinem Essen zuwenden.

"Sagen Sie mir, Lord White", ergriff Lucinda jedoch das Wort und lächelte ihn gekünstelt an, "wie kam es, dass das Londoner Leben für Sie zu viel wurde?" Seine Augen blitzten auf, bevor er jedoch etwas erwidern konnte, fuhr sie fort: "Ich hatte leider noch nie die Möglichkeit, London zu besuchen und kann mir deswegen nur schwer vorstellen, wie der Alltag in so einer großen Stadt ist."

Ihr war durchaus bewusst, dass ihre Frage falsch verstanden und als unhöflich angesehen werden könnte. Sich in das Leben eines Gentlemans zu mischen, stand ihr nicht zu. Aber wenn sie die naive Neugierde richtig vermittelt hatte, würde man ihr ihre Frage sicherlich nicht übelnehmen.

"Oh", lachte Lord McLocklyn. "Es ist eine Schande, noch nie in der Stadt gewesen zu sein. Bailian, du musst der jungen Dame unbedingt ein Bild davon zeichnen."

Lucinda beruhigte sich. Ihn hatte sie also täuschen können, obwohl das bedeutete, dass er sie als leicht ungelehrt betrachtete. Aber das war es ihr wert. Sie richtete wieder ihren Blick auf Bailian, der sie, wie sie augenblicklich verstand, völlig durchschaut hatte. Er drehte sich ein wenig mehr in ihre Richtung und schenkte ihr seine volle Aufmerksamkeit.

"Wissen Sie, Ms Thornton, London ist groß, schmutzig und atemberaubend zugleich. Sie haben sicherlich schon einmal den Markt im Dorf besucht und den dortigen Trubel am eigenen Leibe erlebt?"

Lucinda reckte das Kinn. Natürlich hatte sie den Markt schon des Öfteren besucht und er wusste das, ließ sich die Gelegenheit aber natürlich nicht nehmen, um sie an ihren niederen Stand zu erinnern. Deswegen nickte sie knapp.

"Dann stellen Sie sich einen Markt vor, der zehnmal größer ist. Zwanzigmal sogar. Es sind so viele Menschen um Sie herum, dass Sie nicht einmal mehr versuchen, sie zu zählen. Überall ist Lärm, überall sind Menschen, überall sind Gerede und Rufe zu hören. Ein Spaziergang durch den Hyde Park oder eine Fahrt mit der Kutsche zu einem Geschäftstreffen wird zu einem größeren logistischen Unternehmen. Egal wann oder wieso Sie sich aus dem Haus begeben, begegnen Ihnen Menschen, Gerüche und Eindrücke. Die Stadt ist voller Leben, voller Zerstreuungen und voller Möglichkeiten. Man erlebt die neueste Mode, neuesten Entwicklungen und immer wieder trifft man faszinierende Persönlichkeiten." Lord White machte eine Pause, um das Bild, das er so lebhaft von London schilderte, einsinken zu lassen. "Aber alle diese Eindrücke und die fehlende Ruhe können einem hart arbeitenden Geschäftsmann wie mir auch zu viel werden. Wenn man das Gefühl hat, dass man kaum seine eigenen Gedanken hört, wird es Zeit, aufs Land zu fahren und Frieden für die Seele zu suchen", schloss er und die anderen nickten begeistert und bekräftigend, als wüssten sie genau, wovon er sprach.

Und gerade seine ziemlich poetische Ausdrucksweise schien gut anzukommen. Lucinda starrte ihn weiterhin an und er hielt ihren Blick fest. Wusste, dass er diesen Punkt gewonnen hatte.

"Trotzdem ist London natürlich einen Besuch wert", meldete sich Tobias zu Wort. "Londons positive Seiten übertreffen alle anderen, gewiss, und allein um eine Theatervorstellung zu besuchen oder durch die Kaufhäuser zu schlendern, sollte man einen Aufenthalt in der Stadt planen."

"Mr Thornton, das sollten Sie Ihrer Familie zuliebe unbedingt einrichten", sagte Lady McLocklyn und das Gespräch verschob sich auf die andere Seite des Tisches.

"Wie es scheint, sind Sie die Einzige hier, die an meinen ehrlichen Absichten zu zweifeln scheint, Ms Thornton", raunte Bailian Lucinda zu und unwillkürlich richteten sich die Härchen auf ihren Armen auf.

"Ehrliche Absichten?", fragte sie und nahm einen Schluck Wein. "Mir scheint es eher, als wären Sie aufs Land geflüchtet, um irgendwelchen Unannehmlichkeiten zu entgehen, anstatt sich eine wohlverdiente Pause zu genehmigen." Ihre Vermutung laut auszusprechen, war gewagt, denn im Grunde wusste sie nicht, ob die Gerüchte einen wahren Kern enthielten. Nur Tobias' leicht kryptischer Bemerkung beim Ball konnte sie entnehmen, dass Lord White auch bereits anderen Menschen auf die Füße getreten war. Und so gelassen, wie Bailian reagierte, war sie sich wirklich nicht sicher, ob ihre Intuition richtig lag.

"Schließt das Eine denn das Andere aus?", grinste er schief und wieder einmal musste sie feststellen, dass sein Charme selbst auf sie keine geringe Wirkung hatte.

Prüfend sah sie ihn an, bevor sie sich wieder ihrem Essen widmete, das wirklich ausgesprochen vorzüglich schmeckte. Wieso war er so undurchschaubar? Was wollte er? Machte es ihm einfach nur Spaß, seine Mitmenschen zu manipulieren und mit ihnen zu spielen, als würde er Figuren auf einem Schachbrett verschieben?

"Pflegen Sie eigentlich alle Patienten Ihres Vaters?", richtete da Bailian aber schon wieder das Wort an sie und riss sie damit aus ihren Gedankengängen.

"Ich helfe meinem Vater, wo ich kann. Schon seit ich klein bin, interessiere ich mich sehr für das Gebiet der Medizin und den menschlichen Körper."

"Lucinda würde selbst gerne Ärztin werden", warf Caroline da auch schon von der gegenüberliegenden Seite des Tisches kichernd ein und sagte dies so laut, dass sich nun auch alle anderen am Tisch wieder ihrem Wortwechsel zuwandten.

"Habe ich das richtig verstanden, Ms Thornton?", fragte Lord McLocklyn leicht tadelnd und mit ungläubigem Gesichtsausdruck, und auch wenn Lucinda sich keineswegs für Ihre Träume schämte, so war sie sich doch nur allzu deutlich bewusst, dass ihre Träume und Wünsche in der Gesellschaft, in der sie lebte, nichts weiter als Luftschlösser eines närrischen, dummen, kleinen Mädchens waren. Trotzdem bemühte sie sich um Haltung und Selbstsicherheit in der Stimme, als sie Lord McLocklyn antwortete.

"Ja, Mylord, das ist richtig. Würde in irgendeiner Form die Möglichkeit bestehen, so würde ich meine Kenntnisse im Fach der Medizin gerne ausweiten. Und ja, wäre es möglich, würde ich nur zu gerne studieren und selbst Ärztin werden, um Frauen zu behandeln."

"Nun ja, es ist gut, dass sie selbst einsehen, dass dies ein Wunschdenken ist. Als Dame sollten Sie sich nicht einmal eingehend mit derlei Gedanken beschäftigen, sondern sich lieber der Führung eines Haushaltes oder den schönen Künsten widmen", tadelte sie Lord McLocklyn. Aus dem Augenwinkel bemerkte Lucinda, wie ihre Mutter einen hochroten Kopf bekam und nur auf ihren Teller starrte. Welch Demütigung für Ihre Eltern! Dabei hatte sie doch nichts falsch gemacht.

"Ich denke, wir sollten langsam umdenken. Was ist denn schon dabei, wenn sich eine Dame mit den Gebieten beschäftigt, die sie interessieren, solange sie dies diskret tut und ihrem Ehemann keine Schande bereitet?" Bailians Tonfall war locker und erstaunt sah Lucinda ihn an. Von dieser Seite hatte sie ganz sicher nicht mit Unterstützung gerechnet.

Aber meinte er das Ernst oder wollte er nur seinen Onkel provozieren, aus welchen Gründen auch immer?

"Sie meinen also, Sie würden Ihrer Frau erlauben, sich mit allen Themengebieten zu beschäftigen, egal ob diese in der Gesellschaft einer Dame für angemessen und schicklich erachtet werden oder nicht?", hakte Lucinda nach und Bailian zuckte nur gleichgültig mit den Schultern.

"Wieso denn nicht? Solange sie mich nicht damit belästigt und sich Ihrer Stellung und Ihrer Grenzen in der Gesellschaft als Lady weiterhin bewusst bleibt, sehe ich keine Veranlassung, diesbezüglich Verbote aufzustellen." Mit einem amüsierten Funkeln in den Augen, sah er Lucinda an.

Am ganzen Tisch herrschte für einen Augenblick Stille.

"Nun ja, dann heirate doch erst einmal und dann werden wir ja sehen, ob du danach noch immer den selben Standpunkt vertrittst", beendete Bailians Onkel das Gespräch und bedeutete den Bediensteten, die Teller abzuräumen, um Platz für den nächsten Gang zu machen.

Während die anderen jedoch fröhlich weiter über belanglose Themen plauderten, herrschte in Lucinda ein Aufruhr. Sie hatte nicht gedacht, dass es in dieser Gesellschaft und schon gar nicht in diesem elitären Kreis einen Mann geben würde, der die Wünsche seiner Ehefrau respektierte.

Bailian hatte zwar mehr oder weniger offen zugegeben, dass dieses Respektieren mehr einem Desinteresse entsprach, aber das wäre mehr als man von den meisten anderen Ehemännern behaupten konnte.

Lucindas Herz pochte so laut, dass sie meinte, jeder Anwesende müsse es hören können.

Sie warf Bailian noch einmal einen kurzen Seitenblick zu, studierte sein markantes Profil, seine klaren Gesichtszüge und sah plötzlich in seine stechenden Augen, als er ihr unerwartet den Kopf zuwandte und ihren Blick festhielt.

Wo war sie hier nur hineingeraten? 

Oh oh, hat Bailian Lucinda da ein wenig aus dem Konzept gebracht?

Wie schätzt ihr die Situation ein? ;)

Wir hoffen, ihr genießt die freien Tage und/oder Ferien!

Eure
Eliza Hart <3

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