~40~

Er hatte aber auch gewusst, dass dieser Schritt nicht rückgängig zu machen war. Dass Lucinda noch nicht bereit dafür war. Sie würde es ihm sicherlich mit kalter Schulter heimzahlen. Wie sie es immer tat, wenn er sie verletzt hatte.

Dass er sie überhaupt verletzen konnte, überraschte ihn noch immer. Er hatte sich von ihr Gleichgültigkeit erwartet, hatte gedacht, dass sie ihre relative Freiheit genießen und ihn in Ruhe lassen würde. Ihre Auseinandersetzungen und die darauffolgenden Annäherungsversuche zeugten von etwas ganz anderem. Lucinda tat nichts, bei dem sie nicht ihr ganzes Herzhineinlegte – und dabei machte sie bei ihrer erzwungenen Ehe auch keinen Unterschied, sondern bemühte sich sogar aus dieser Situation nur das Beste zu machen.

Er bewunderte sie. Er bewunderte ihren Willen. Und er fürchtete, was das für ihn bedeuten würde.

Seufzend holte er aus der Brusttasche seiner Weste eine goldene Uhr hervor. Er war spät dran.

Schnell trank er den letzten Schluck seines Getränkes, dann stellte er das Glas auf den kleinen Beistelltisch neben dem Sofa und verließ die Bibliothek, die Wärme seines Hauses und seine Frau, die sich mit Sicherheit schlaflos in ihrem Bett hin und her wälzte.

Lucinda

Um der Versuchung zu widerstehen, über die vornächtliche Zurückweisung ihres Ehemannes zu grübeln, überlegte Lucinda am nächsten Morgen, sich wieder ins Krankenhaus zu Elliott zu begeben. Dort fand sie nicht nur willkommene Ablenkung, sondern konnte gleichzeitig Menschen helfen, die ihre Aufmerksamkeit bitter nötig hatten.

Allerdings ängstigte sie sich nun wesentlich mehr davor, wie diese Ausflüge sich auf ihr Verhältnis zu Bailian auswirken würden, der – und das wusste sie mit Sicherheit – erzürnt sein würde, wüsste er davon. Konnte sie es wagen, jetzt wo sie sich einander wieder angenähert hatten?

Ihr Herz flatterte allein beim Gedanken an ihren Mann, den sie heute noch nicht zu Gesicht bekommen hatte, und sie wusste, dass ihre Aufregung kein Zustand war, in dem sie den Tag verbringen mochte.

Ihr fiel es schwer zu begreifen, was eigentlich zwischen ihnen passiert war. Der leidenschaftliche Kuss ließ sie jetzt noch erröten und obwohl Bailian sie danach einfach hatte stehen lassen, bereute sie ihn nicht. Sie konnten unmöglich leugnen, dass zwischen ihnen eine Verbindung entstanden war, trotzdem hatte sie das Gefühl, ihren Mann in keiner Weise wirklich zu kennen.

Und dieser Gegensatz gab ihr fast den Rest.

Deswegen war sie dankbar, dass Bailian schon vor ihrem Aufstehen das Haus verlassen hatte. Als sie gerade ihr Frühstück beendet hatte, trat Winston an den Tisch, um ihr Kaffee nachzuschenken.

"Winston, sagen Sie mir, wann ist Lord White gestern nach Hause gekommen?" Sie musste den Schlaf der Gerechten geschlafen haben, da sie ihn nicht gehört hatte.

Winston zögerte und trat einen Schritt nach hinten, als hätte er sie nicht gehört. Unbehagen breitete sich in Lucindas Körper aus. Fragend zückte sie eine Augenbraue und ließ den Butler allein mir ihrer Körpersprache wissen, dass sie eine Antwort erwartete.

Sichtlich unbehaglich zumute räusperte er sich schlussendlich. "Lord White hat anderswo genächtigt", sagte er schließlich so neutral wie möglich, trotzdem gefror Lucindas Blut bei seinen Worten zu Eis. Das erklärte natürlich, wieso sie seine Rückkehr nicht bemerkt hatte.

Um Fassung ringend nickte sie einmal. "Danke", sagte sie schlicht. Der Butler konnte nichts für die Situation, nur bemerkte er hoffentlich nicht, wie ihr Gesicht vor lauter Scham glühte.

Wo hatte Bailian die Nacht verbracht?

Er hatte wohl hoffentlich nicht...?

Unmöglich.

Schwer schluckend erhob Lucinda sich, versuchte die sich anbahnenden Tränen zu unterdrücken. Sie wollte gar nicht wissen, wie sie vor den Bediensteten dastand. Die junge, unerfahrene Braut vom Land, die keine nennenswerten Qualitäten besaß, um ihren Mann bei sich zu behalten. Und nicht nur verschwand ihr Mann nachts, auch war sie es anscheinend nicht wert, darüber informiert zu werden. Weder von ihm noch von den Hausangestellten. Stattdessen entblößte sie mit ihrer Frage nur zu deutlich, wie wenig Kontrolle sie über ihren Haushalt hatte.

"Ich werde heute Mittag nicht zugegen sein", teilte sie Winston mit und verließ den Speisesaal. Das schlechte Gewissen konnte sie sich sparen. Wenn Bailian ohne ein Wort der Erklärung anderen Plänen nachgehen konnte, dann sie auch.

In ihrem Schlafzimmer angekommen, spürte sie den Trotz in sich wachsen. So leicht würde sie sich nicht geschlagen geben.

"Mia, wir fahren heute wieder nach Whitechapel", verkündete sie und ihre Zofe schien zu merken, dass Widerreden keine Option war.

***

Mit schmerzenden Gliedern und völlig überfordert ob der ganzen Eindrücke des Tages, stieg Lucinda aus der Kutsche und betrat am frühen Abend ihr Zuhause. Sie hatte schon zeitiger zurückkehren wollen, doch die Anzahl notleidender Patienten und ihr akutes Bedürfnis nach Hilfe schienen einfach kein Ende zu nehmen.

Wenigstens hatte sie eine gute Ausrede parat. Auf dem Weg ins Krankenhaus hatten sie und Mia noch bei einer der angesagtesten Schneiderinnen der Stadt Halt gemacht, um zwei neue Abendkleider in Auftrag zu geben. Dort war sie auf mehrere Ladies getroffen, die sie am Ball der Winterbottoms kennengelernt hatte, jedoch hatte keine einzige sich dazu veranlasst gefühlt, sie anzusprechen. Das Getuschel hinter ihrem Rücken konnte wohl kaum als Konversation gesehen werden, dachte sie bitter.

Als man ihr ihren Mantel abnahm, spürte Lucinda, wie die Einsamkeit sie förmlich übermannte. In London war sie eine Fremde, die Außenseiterin, die keiner dahaben wollte.

Und in ihrem neuen Heim ebenso.

"Mylady, ich lasse Ihnen ein Bad ein", hörte sie Mia sagen und nickte dankbar. Ein heißes Bad war genau das, was sie benötigte, bevor sie sich im Speisesaal einfinden würde.

Als sie die Treppe nach oben stieg, lauschte sie durchs Haus, nach Anzeichen suchend, ob Bailian nach Hause gekommen war. Sie hörte jedoch nichts anderes als das Herumwuseln der Bediensteten. Seufzend stellte sie sich darauf ein, allein das Abendessen zu sich zu nehmen.

Nichtsdestotrotz richtete Mia sie später genau so schön her, als würden sie Gäste empfangen. Ihr Haar war kunstvoll hochgesteckt, strahlender Schmuck glitzerte in ihren Ohrläppchen und auf ihrem Dekolleté und ihr Kleid war ein Traum aus dunkelgrüner Seide.

Wozu der ganze Aufwand, fragte Lucinda sich, als sie wieder nach unten ging. Ein Diener machte ihr die Tür zum Speisesaal auf und als sie eintrat, blieb sie erstaunt stehen. Bailian erhob sich von seinem Platz am Tischende und lächelte sie kaum sichtbar an. Lucinda versuchte, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen und ging zu ihrem Platz, der, wie ihr auffiel, neben ihrem Mann hergerichtet war.

"Guten Abend", sagte sie so ruhig wie möglich und setzte sich.

"Guten Abend." Bailian beobachtete sie aufmerksam, als auch er sich setzte.

Lucinda spürte das harte Pochen ihres Herzens, war sich sicher, dass ihr Mann ihren Herzschlag hören konnte und sofort durchschaute, dass sie etwas vor ihm verbarg. Sie schluckte einmal und versuchte, sich so natürlich wie möglich zu benehmen.

"Ich hoffe, du hast nicht all zu lange auf mich gewartet?", fragte sie nach einigen Sekunden der Stille, während Winston ihnen Wein einschenkte. Wieso hatte ihr niemand gesagt, dass er sich schon im Speisesaal befand?

"Nicht der Rede wert."

Wie schaffte Bailian es immer wieder, nicht auf ihre Fragen zu antworten? Wie lange hatte er gewartet? Wann war nach Hause gekommen? Wusste er, wie lange sie selbst außer Haus gewesen war?

"Wie war dein Tag?", startete sie einen neuen Versuch.

"Danke, ich hatte einiges zu erledigen." Sein Blick war ohne Unterbrechung auf sie gerichtet und Lucinda konnte nicht anders, als kurz zu seinen Lippen zu schielen, anstatt etwas zu erwidern. "Und deiner?"

Sie sah ihm wieder in die Augen, die ihr mehr oder weniger ausdruckslos vorkamen. Sie konnte keine einzige Gefühlsregung darin erkennen und merkte, wie das Unbehagen ihren Hals hinaufkroch.

"Sehr angenehm, danke der Nachfrage."

Der erste Gang wurde aufgetragen und erleichtert widmete Lucinda sich der Suppe. Sie hatte das Gefühl, sich in einem Theaterstück zu befinden. Eine Rolle zu spielen, die ihr nicht natürlich fiel. Selbst die Gespräche wirkten inszeniert und holprig.

War Bailian misstrauisch geworden? Hatte jemand etwas ausgeplaudert? Oder lag es an dem Kuss? Und seinen nächtlichen Aktivitäten, für die er alles andere stehen und liegen ließ? Allein beim Gedanken daran brodelten die Wut und Verzweiflung wieder in Lucinda auf.

"Womit hast du den Tag verbracht?", fragte Bailian nun. Trotzig reckte Lucinda das Kinn.

"Seit wann interessierst du dich dafür?" Ihr Wundern war aufrichtig. Und was dachte er sich eigentlich? Dass sie ihm eine Erläuterung schuldig war, während er sich nachts Gott wusste wo herumschlich?

Bailian atmete hörbar aus und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und kräuselte ganz leicht die Augenbrauen. Womöglich wunderte es ihn, wieso sie so schroff reagierte. Womöglich hatte er ein schlechtes Gewissen?

"Lady Winterbottom kam heute auf Visite." Ihr Ausbruch schien ihn nicht aus der Fassung zu bringen, seine Worte jedoch erreichten genau das bei Lucinda.

"Hier?", fragte sie, kaum dass sie es sich anders überlegen konnte.

"Ja, hier. Nur war niemand da, um sie zu empfangen." Vielsagend betrachtete er sie und sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Dann erinnerte sie sich daran, wie vorausschauend sie gewesen war, genau für den Fall, dass so etwas passieren sollte.

"Ich war bei Madam Bouchard und habe einige Kleider in Auftrag gegeben."

"Den ganzen Tag?" Sie hörte eine merkbare Veränderung in seiner Stimme. Unter der gelassenen Oberfläche lauerte etwas Unheilvolles. War es Neugierde? Wut? Worauf wollte er hinaus?

"Was wollte Lady Winterbottom?", erwiderte sie, statt auf seine Frage einzugehen.

"Ich wiederhole mich nur ungern. Wo warst du heute?"

"Ich wiederhole mich auch nur ungern. Ich war bei Madam Bouchard." Lucinda legte ihren Löffel mit einem hörbaren Klirren ab. "Was wollte Lady Winterbottom?" Sie erwiderte Bailians Blick, der sich in ihren bohrte und sie genau dort traf, wo es am meisten rumorte.

"Wir sind morgen Abend zum Diner eingeladen worden. Erhieltest du heute Unterricht von Elliott?"

Zeitschindend nahm Lucinda einen Schluck des Weines. "Zum Diner? Wird es eine größere Gesellschaft geben?" Die Einladung überraschte Lucinda. Sie hatte gedacht, dass die Neugier der Winterbottoms durch ihr Erscheinen beim Ball gestillt worden war und es demnach keinen weiteren Grund gab, mit ihnen zu verkehren.

"Mir ist schleierhaft, woher ich das wissen sollte. Hast du heute Elliott gesehen?"

Lucinda dachte nach. War er eifersüchtig? Oder traute er ihr eine unpassende Beziehungmit Elliott zu? Würde es ihn ärgern oder lediglich seinem Ruf schaden? Und wie sollte sie die Frage beantworten, ohne ihn direkt anzulügen?

"Ich hatte heute keinen Unterricht" stellte sie nach kurzem Zögern fest. Balian neigte den Kopf ein wenig zur Seite.

"Aber du hast ihn gesehen?"

Lucinda konzentrierte sich auf ihre Atmung. Ignorierte das Drücken des Korsetts und versuchte, einen ruhigen Kopf zu bewahren. Wie sollte sie sich nur aus dieser Situation befreien?

"Ich bin in der Stadt auf ihn gestoßen." Das entsprach mehr oder weniger der Wahrheit. Bailian nickte langsam, wartete, bis die Vorspeise abgetragen worden war, bevor er wieder sprach.

"Ein netter Zufall."

"Ja, es war tatsächlich sehr nett. Elliott ist mir gegenüber immer nett." Den Seitenhieb konnte sie sich nicht verkneifen. Zum ersten Mal senkte Bailian den Blick. Lucinda war jedoch nicht so naiv zu denken, dass es daran lag, sie habe ihn verletzt. Seinen Stolz vielleicht, mehr nicht.

"Es scheint mir fast, als würdest du mit ihm mehr Zeit verbringen als mit deinem Ehemann."

"Was nicht weiter verwunderlich ist. Du bist schließlich nie da", feuerte sie zurück.

Es entging ihr nicht, wie Bailian seine Hand, die auf dem Tisch lag, zur Faust ballte. Gelang es ihr tatsächlich, ihn zu provozieren? Ein wenig aus dem Konzept zu bringen?

"Was hast du überhaupt dagegen? Du warst es doch, der ihn engagiert hat, mich zu unterrichten. Ich dachte, er wäre einer deiner Kameraden? Wieso der Sinneswandel?"

"Weil er sich Freiheiten herausnimmt, die ihm nicht zustehen." Die Härte in Bailians Stimme war greifbar.

"Sei nicht lächerlich."

"Lächerlich?"

"Ja, lächerlich!", echauffierte Lucinda sich, hielt jedoch inne, als Winston und ein weiterer Diener mit dem Hauptgang den Speisesaal betraten. In Stille ließen sie sie ihre Arbeit verrichten, warteten den kurzen Waffenstillstand ab, bevor sie ihren Machtkampf weiter ausführen konnten.

Als die Bediensteten sich abermals zurückgezogen hatten, wandte Lucinda sich ihrem Mann zu. "Deine Sorgen, woher auch immer sie rühren, sind unberechtigt. Elliott nimmt sich keine Freiheiten, er verhält sich durch und durch wie ein Gentleman. Er ist mir schnell ein Freund geworden, aber das kann dir doch unmöglich zuwider sein. Oder wünschst du dir, dass deine Frau in dieser Ehe noch mehr vereinsamt?"

Bailians Blick sprühte Funken, als er sich aufrichtete und sich ein wenig zu ihr beugte. "Lass mich dir einen guten Rat geben: hüte deine Zunge."

Lucinda schnaubte verächtlich. "Sonst was?" Herausfordernd sah sie ihn an, während sie die Emotionen in ihrem Innern ignorierte, die sie zu überwältigen drohten. Wie hatte diese Unterhaltung so schnell eskalieren können?

Bailian setzte zu einer Antwort an, hielt sich jedoch zurück. Schüttelte aufgebracht den Kopf und wandte sich dem Essen zu. Ignorierte sie.

"Wieso verrätst du mir nicht, was das eigentliche Problem ist? Misstraust du mir etwa? Wovor fürchtest du dich?"

"Ich fürchte mich nicht!" Bailian hatte nur minimal seine Stimme gehoben, trotzdem wich Lucinda zurück. Wartete.

"Ich finde, wir sollten die Abmachung mit Elliott überdenken", sagte er schließlich in ruhigerem Ton.

"Überdenken?"

"Überdenken."

"Nein." Lucinda merkte, wie sich die Panik in ihr breit machte.

"Womöglich ganz abschaffen."

"Nein!" Wie konnte er es wagen?

"Ich hätte sie von Anfang an nie zulassen dürfen."

"Du übertreibst maßlos, Bailian!" Er konnte ihr nicht den Unterricht wegnehmen. Unmöglich!

"Ich übertreibe?"

"Du hast es mir versprochen! Nimm mir nicht die eine Freude, die mir bleibt!"

Bailian musterte sie, konnte nicht umhin zu bemerken, wie rote Flecken sich auf ihrer Haut, in ihrem Gesicht und ihrem Dekolleté abzeichneten. Er schluckte wütend.

"Ich habe es eindeutig schon zu weit kommen lassen. Wenn du ihn nicht entbehren ka..."

"Mir geht es nicht um Elliott! Mir geht es um den Unterricht!" Aufgebracht schob Lucinda den Stuhl zurück und stand auf. Sie wusste kaum die unruhige Energie in ihr zu bändigen. "Du kannst mir den Unterricht nicht wegnehmen."

"Ich kann, was ich will. Du benimmst dich wie ein trotziges Kind, dem man ein Stück Kuchen vorenthält."

"Und du wie ein Tyrann!", schleuderte sie ihm entgegen.

"Ich bin Herr dieses Hauses, verdammt!", brüllte er, als er im selben Moment aufstand und beide Hände auf den Tisch schlug, sodass das Geschirr klirrte und sein Weinglas umkippte.

Lucinda wandte sich aufgebracht ab, wobei sie den neugierigen Blick eines Lakaien, der an der Wand stand, auffing. Fast hilfesuchend sah sie zu Winston, der den Ernst der Lage sofort verstand und seine Untergeordneten diskret bat, den Saal mit ihm zu verlassen. Als man sie allein gelassen hatte, drehte Lucinda sich wieder zu Bailian, der geräuschlos hinter sie getreten war und sich zu seiner vollen Größe aufbaute.

"Du verstehst sicherlich meine Bedenken", versuchte er zu schlichten, doch Lucinda kaufte ihm die plötzliche Milde nicht ab.

"Nein." Mehr konnte sie nicht sagen, ohne sich komplett in Tränen aufzulösen. Wenn Elliott sie nicht mehr besuchen durfte, würde sie sowohl sozial als auch intellektuell verarmen.

Eine kleine Stimme in ihrem Kopf erinnerte sie daran, dass sie Elliott weiterhin im Krankenhaus besuchen konnte, doch nur die Vorstellung daran ließ sie fast zusammenklappen. Sie traute sich gar nicht auszumalen, wie Bailian reagieren würde, erführe er davon. Es durfte nie so weit kommen.

Die aktuelle Lage zwischen ihnen war sowieso ihr größtes Problem. Wie sollte sie mit Bailian unter einem Dach wohnen, wenn er ihr solch abstruse Dinge unterstellte?

"Lucinda..."

Ihren Namen so sanft von seinen Lippen zu hören, stellte etwas mit ihr an, entfachte ein Feuer in ihrem Innern, das sich schnell auf ihrem ganzen Körper ausbreitete. Sie widerstand dem Verlangen, dem Gefühl nachzugehen, blockte ab und machte die Schotten dicht.

"Ich hatte aufrichtig gedacht, dass du mich bei dieser Sache unterstützen würdest", sagte sie ihm verletzt und ignorierte die Hand, die er versöhnlich nach ihr ausgestreckt hatte. Wie konnte er sie so hintergehen?

"Lucinda, wir sind verheiratet. Es gibt gewisse Grenzen, die respektiert werden müssen."

"Wann habe ich sie denn bitte nicht respektiert?", rief sie verständnislos.

"Diskutiere nicht mit mir", sagte Bailian leise und sie erkannte, dass er bald an seiner Geduldsgrenze angelangt war. So wie er vorhin gebrüllt hatte, hatte sie ihn noch nie erlebt und wieder einmal fragte sie sich, wie viel sie nicht über ihn wusste.

"Diese Diskussion ist sowieso sinnlos. Und absolut unnötig. Du hast nichts zu befürchten."

"Wie kannst du dir da sicher sein?"

"Weil ich ein Gelübde abgelegt habe, Bailian! Ich habe vor meiner Familie, vor dir und vor Gott versprochen, an deiner Seite zu bleiben, bis der Tod uns trennt. Dir gegenüber loyal zu sein, obwohl ich für dich alles verlassen musste, was ich kannte und was mir lieb war. Ich bin mit dir nach London gereist in dem Glauben, dass du in mir mehr siehst als eine hilflose Frau, die nichts weiter als ein Anhängsel ist. Ich habe dir vertraut! Und der Dank? Diese absurde Unterstellung! Dass ich... Dass ich mit Elliot..." Sie konnte den Satz nicht einmal vollenden.

"Ich habe nie gesagt, dass ich dir nicht vertraue." Bailians Ruhe stand in direktem Kontrast zu dem Orkan, der in ihrem Innern wütete.

"Nichtsdestotrotz würdest du mir zutrauen, dass ich mich von Elliott um den Finger wickeln lasse?"

Stille.

Stille, die Antwort genug war.

Bailian schüttelte abermals den Kopf, schien frustriert und müde. Doch Lucinda ließ sich davon nicht täuschen.

"Wie gesagt, es gibt Grenzen", wiederholte er.

Verächtlich lachte sie auf. "Du bist wirklich die letzte Person, die mir von Grenzen erzählen sollte."

"Was möchtest du mir damit sagen?", fragte Bailian leise und trat näher an sie heran. Nutzte seine körperliche Überlegenheit, um sie einzuschüchtern, doch es gab keinen Weg zurück. Sie achtete nicht auf seinen Duft nach Whiskey und Holz, der unerhörte Sachen mit ihren Gefühlen anstellte, sie achtete nicht auf ihren rasenden Puls und sie achtete erst recht nicht auf ihr Bedürfnis, den Abstand zwischen ihnen zu verkleinern.

"Wo hast du heute Nacht geschlafen?" Es überraschte Lucinda, wie beherrscht sie die Frage äußern konnte, so nah wie sie den Tränen war. Sie musterte Bailian und seine Reaktion, wollte wissen, wie ihre Worte ihn beeinflussten. Sein Brustkorb hob und senkte sich, er atmete schwer und versuchte sichtlich, nicht die Kontrolle über sich zu verlieren. Sein Blick flatterte über ihr Gesicht, zu ihren Lippen und wieder zu ihren Augen zurück, die unentwegt auf ihn gerichtet waren.Und da sah sie die Erkenntnis in seinen grauen Iriden. Nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann war die Gefühlsregung wieder verschwunden. Er verharrte noch einen Moment bewegungslos von ihr, ging daraufhin einen winzigen Schritt nach hinten.

"Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig", stellte er klar und zementierte damit den Bruch zwischen ihnen. Lucindas Herz zersplitterte in ihrem Innern. Langsam nickte sie, woraufhin sie die Arme um sich selbst schlang. Versuchte zu verhindern, dass sie komplett auseinanderfiel.

"Du willst mich nicht. Aber wehe jemand anders sieht in mir mehr als eine Puppe. Es geht nur um dein Ego, deinen Ruf und um das Bedürfnis, alles um dich herum zu kontrollieren. Ich habe nichts falsch gemacht, trotzdem siehst du mich als Bedrohung", warf sie ihm mit leiser Stimme an den Kopf. Zerschlagen und zermalmt. "Du bist nicht anders als jeder andere Lord in London, der sich einen Dreck um seine Frau kümmert. Deine Ex-Verlobte kann von Glück reden, dass du sie nicht geheiratet hast."

Ihre Worte trafen ihn hart, das erkannte Lucinda sofort. Doch es war zu spät, um einen Rückzieher zu machen. Viel zu spät.

"Wie du meinst." Bailian nickte gedankenverloren. Trat noch einen Schritt nach hinten, vergrößerte auch den physischen Abstand zwischen ihnen. Lucinda selbst konnte kaum noch aufrecht stehen. Der Schmerz bohrte sich tiefer und tiefer in ihren Körper und lange konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Doch sie wollte sich vor Bailian nicht die Blöße geben. Er dachte so schon gering genug über sie.

Trotzdem verharrte er noch an Ort und Stelle, als könne er sich nicht dazu durchringen, die Diskussion endgültig zu beenden. Hatte er noch etwas zu sagen?

Lucinda wollte es nicht hören. Sie wollte gar nichts mehr hören. Sie strich über ihr grünes Kleid und atmete tief durch. Dann hob sie den Kopf und warf Bailian einen letzten Blick zu.

"Wenn du mich bitte entschuldigen würdest", presste sie hervor, machte auf dem Absatz kehrt und flüchtete. 

Ja, da ist noch ein Kapitel - Überraschung! ;)

Seid ihr nach dem Streit genauso fertig wie wir beim Schreiben? xD

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top