~34~

Bis zum Abendessen hatte Lucinda alles erledigt, was sie hatte erledigen wollen. Ihre Zofe hatte ihr die Haare vor dem Kamin gekämmt, bis diese trocken waren und dann kunstvoll hochgesteckt. Lucinda hatte sich extra hübsch machen wollen, sie wollte Bailian zeigen, dass sie sich Mühe gab, sich in diesem Leben zurechtzufinden und dass sie bereit war, ihm entgegenzukommen, so wie sie es auch von ihm erwartete und erhoffte.

Der Gong der Standuhr zeigte ihr, dass sie sich tatsächlich ein wenig vertrödelt hatte und bereits spät dran war.

Als sie mit eiligen Schritten nach unten lief, kam ihr soeben Winston entgegen, der sich bei ihrem Anblick verbeugte.

"Mylady."

"Winston! Wissen Sie, ob Lord White bereits im Salon wartet?"

"Nein, Mylady, Mylord ist noch nicht zurückgekehrt."

"Oh." Lucinda versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht allzu sehr anmerken zu lassen und setzte ein kleines Lächeln auf. "Danke, Winston. Dann werde ich mit dem Essen noch ein wenig warten."

"Sehr wohl, Mylady."

Lucinda ging nun in gemächlicherem Tempo weiter zum Salon, in dem bereits ein Diener wartete, um ihr den Stuhl zurechtzurücken, aber Lucinda winkte ab.

"Danke, ich möchte mich noch nicht setzen." In ihren Gliedern herrschte eine Unruhe, die sie durch den Raum ans Fenster trieb. Ihr Blick schweifte nach draußen, aber dort war außer dem leeren Garten, der langsam in Dunkelheit versank, nicht viel zu sehen.

Nicht sehr ladylike setzte sie sich auf das Fensterbrett und sah ihrem Atem dabei zu, wie er kräuselnde Spuren auf der kalten Glasscheibe hinterließ.

Ihre Gedanken schweiften ab, trieben sie hierhin und dorthin, bis die Tür zum Salon sich plötzlich öffnete.

Sofort sprang Lucinda auf, da sie mit Bailian rechnete, doch es war Winston.

"Mylady, Mrs. Brown möchte gerne wissen, ob das Dinner noch benötigt wird."

"Ich möchte noch auf Mylord warten, wenn es ihr keine zu großen Umstände bereitet."

Winston hüstelte. "Mylady, wenn mir die Bemerkung gestattet ist, ich gehe davon aus, dass Mylord bereits auswärts zu Abend gegessen hat."

"Auswärts? Oh. Wie spät ist es denn inzwischen?" Lucinda hatte jegliches Zeitgefühl verloren.

"Nach acht, Mylady." Acht Uhr? Dann hatte sie bereits über eine Stunde auf Bailian gewartet!

Die vertraute Mischung aus Wut und Frustration machte sich in ihr breit. Sie atmete einmal tief durch.

"Dann lassen Sie das Essen bitte für mich auftragen, Winston. Und sofern Mrs. Brown ausreichend Pie gemacht hat, darf sich gerne die gesamte Dienerschaft daran gütlich tun."

"Sie sind sehr gütig, Mylady", bedankte sich Winston und wollte den Raum verlassen, als Lucinda ihn noch einmal ansprach.

"Ach, und Winston? Bitte bringen Sie eine Flasche von Lord Whites bestem Wein."

Bei dieser Anweisung schien der Butler kurz unsicher zu zögern, setzte aber sofort wieder seine professionelle, undurchschaubare Maske auf. "Wie Sie wünschen, Mylady."

Wenn Bailian es weder für nötig hielt, sie mit seiner Anwesenheit zu beehren noch auch nur eine kleine Nachricht zu schicken, dann würde sie sich die Leere dieses riesigen Zimmers eben schöntrinken.

***

Etwa zwei Stunden später war sich Lucinda nicht mehr ganz sicher, ob diese Idee wirklich so gut gewesen war.

Nach dem Essen war sie nach oben gegangen und hatte sich den Rest des Weines ans Bett stellen lassen. Gerade eben hielt sie das letzte Glas in der Hand, in der Karaffe selbst herrschte gähnende Leere. Der Rotwein war kräftig und schwer und Lucinda spürte einen leichten Schwindel im Kopf, aber das war ihr egal.

Inzwischen war es stockdunkel draußen und von Bailian war noch immer weit und breit nichts zu sehen.

Seit etwa einer Stunde, nachdem Mia ihr geholfen hatte, sich für die Nacht umzukleiden, saß sie auf ihrer Bettkante und nippe stetig an ihrem Wein, während ihre Gedanken sich im Kreis drehten. Oder kam das vom Wein?

Das Licht der kleinen Kerze hatte sie irgendwann gelöscht und nun saß sie dort in völliger Dunkelheit und verfluchte Bailian und sich selbst. Sich selbst, da sie hier saß, wie ein sitzengelassenes Eheweib, das sich nicht einfach einen Dreck darum scherte, ob und wann ihr Mann nach Hause kam und sich deswegen am Wein gütlich tat und Bailian verfluchte sie, weil er an all dem schuld war.

Dieser unsensible, rücksichtslose Schuft!

Mit jedem weiteren Schluck verdrängte die Wut in Lucinda ihr noch am Morgen so mühevoll heraufbeschworene gütliche Stimmung. Und so langsam wünschte sie Bailian fast, dass er in dieser Nacht nicht mehr heimkam, denn dann würde ihn ein Donnerwetter erwarten, wie es bisher in seinem ganzen Leben noch nicht über ihn hereingebrochen war.

Zum bestimmt hundertsten Mal in der letzten Stunde stand Lucinda auf und wanderte mit dem Glas in der Hand durch das Zimmer. Sie konnte es noch mit sicheren Schritten durchqueren – das war doch ein gutes Zeichen. Wie spät es inzwischen wohl sein mochte? Zehn? Später?

Gerade als sie den letzten Schluck Wein ausgetrunken hatte und überlegte, ob sie ins Bett gehen und sich Bailian morgen vorknöpfen sollte, oder doch lieber noch eine zweite Flasche von diesem wirklich sehr exquisiten Wein holen und auf ihn warten sollte, hörte sie in dem Zimmer nebenan ein Geräusch. Das musste Bailian sein! Sie stellte das Glas auf ihrem Frisiertisch ab und öffnete mit Schwung die Tür.

Ihre Augen mussten sich kurz an den plötzlich grellen Schein der Laterne gewöhnen, die Bailian auf den Nachttisch gestellt hatte. Er hatte soeben sein Hemd ausgezogen, hielt dieses noch in der Hand halb vor seinen Körper und sah Lucinda verdutzt an.

"Du bist noch wach?", war der erste und wie Lucinda schien, nicht sonderlich intelligente Satz, der ihm über die Lippen kam.

"Ob ich noch wach bin? Natürlich bin ich noch wach! Immerhin hast du mir weder gesagt, dass du vorhast, heute den ganzen Tag außer Haus zu sein, noch hast du dich bemüßigt gefühlt, mir auch nur eine winzig kleine Nachricht zukommen zu lassen, dass du erst spät zurückkehrst!", fuhr sie ihn wütend an und wurde noch ein bisschen wütender, als sich ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht breit machte.

"Du hast dir also Sorgen um mich gemacht?" Bailian kam einen kleinen Schritt auf Lucinda zu.

"Nein, ich habe mir keine Sorgen gemacht. Aber als deine Frau finde ich, ist es mein gutes Recht zu erfahren, wenn du nicht zum Abendessen kommst!" Zum Abendessen? Wirklich? Das war doch überhaupt nicht ihr größtes Problem! Was war nur mit ihrem Kopf los? Und wieso wollte sie nur unbedingt mit ihrer Hand über diese kleinen, krausen Haare auf Bailians Brust fahren?

Sie schüttelte energisch den Kopf und bereute dies sogleich, da sich alles drehte. Sie hielt die Augen einen Moment geschlossen, bis sich der Schwindel wieder gelegt hatte, bevor sie Bailian wieder mit all der Wut, die sich in den letzten Stunden in ihr aufgestaut hatte, anstarrte.

"Sogar die Dienstboten wussten, dass du das Haus verlassen hast, nur deine eigene Frau nicht! Und dann lasse ich extra Pie für dich zubereiten, um dir entgegenzukommen und du erscheinst nicht einmal zum Abendessen! Eine Stunde habe ich auf dich gewartet und habe Mrs. Brown damit nur Umstände bereitet und für was? Dafür, dass ich dann doch mutterseelenallein essen..." Diesen Satz konnte Lucinda jedoch nicht beenden, da Bailian sie mit einem Ruck an sich zog und seine Lippen auf ihre presste. Lucinda stand stocksteif in seinen Armen und spürte seine Lippen an ihren zupfen.

Was passierte hier gerade? Durch den diffusen Schwindel in ihrem Kopf, drang langsam die Erkenntnis zu Lucinda durch, dass Bailian sie küsste. Er küsste sie!

Widerstreitende Gefühle kämpften in Lucinda um die Vorherrschaft. Sie war doch wütend und jetzt auch noch panisch, aber gleichzeitig wollte sie nicht, dass Bailian von ihr abließ. Sie spürte, wie ihr Widerstand langsam schwand und sie sich am liebsten an ihn geschmiegt hätte.

Er hielt sie eng an sich gezogen, als er sich sanft von ihr löste. "Hast du etwa Wein getrunken?"

Lucinda nickte. "Ich habe mir von Winston deine beste Flasche bringen lassen", erklärte sie trotzig und Bailian brach in ein tiefes, kehliges Lachen aus.

Wieso konnte er nicht wütend sein, wenn sie wütend war? Und wieso...? Sie war noch ein wenig durcheinander von diesen Lippen. Und sie war zu nah bei Bailian, um klar denken zu können. Mit Kraft stemmte sie sich von ihm los und kurz zog er scharf die Luft ein und legte die Hand in seine Seite.

"Oh Gott, habe ich dir weh getan?" So stark hatte sie ihn doch auch nicht gestoßen, oder?

"Nein, es ist alles in Ordnung."

Aber als er sich umdrehte, sah Lucinda den faustgroßen Bluterguss an seiner Seite.

"Bailian! Wie ist das passiert?"

"Ich sagte, es ist nichts. Lass es gut sein."

"Sag mir jetzt nicht, dass du dich geprügelt hast!" Mit neu aufkochender Wut stemmte Lucinda die Hände in die Hüften und verdrängte die leise Sorge, die in ihr aufkeimte.

"Mach dir keine Sorgen, der andere sieht weitaus schlimmer aus", erklärte Bailian lapidar und zog sich ein Hemd für die Nacht über.

"Aber..."

"Ich sagte, es reicht!", fuhr er sie an und Lucinda zuckte zusammen. Erschrocken sah sie ihn an und sie meinte ihr Herz zu Eis erstarren zu spüren.

"Gut, wie du wünschst", meinte sie dann ruhig, nachdem sie sich wieder gefasst hatte und wandte sich zum Gehen.

"Lucinda, warte..."

"Ich denke, es ist besser, wenn du heute Nacht in deinem Bett schläfst. Und wenn ich es mir recht überlege, die nächsten Nächte auch." Und damit fiel die Tür hinter ihr mit einem leisen Klicken ins Schloss. 

Ja, ihr habt richtig gesehen - das ist schon wieder ein neues Kapitel!

Wir waren mal wieder im Schwung und wollten euch gleich teilhaben lassen :)

Wunderschöne Woche euch allen noch! :*

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top