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Lucinda stürmte aus dem Zimmer, so schnell es ihre vom Schlaf noch wackligen Beine und ihre völlig übermüdeten Augen zuließen.
"Papa! Papa!" Sie war noch gar nicht in der Lage, rational nachzudenken. Der Fremde hätte ja auch nur kurz austreten gehen können und sie weckte deshalb das gesamte Haus auf.
Aber so war es nicht. Als ihr Vater mit viel wacherem Blick, dafür aber in Nachtgewand und Schlafmütze mit einer kleinen Kerze aus seinem Zimmer kam, lag große Sorge in seinem Blick.
"Lucinda! Was ist passiert?" Nebenbei nahm Lucinda wahr, wie ihre Schwestern und ihre Mutter leicht maulend, aber gleichzeitig neugierig die Köpfe aus ihren Kammern steckten. "Ist mit dir alles in Ordnung? Oder geht es dem Patienten schlechter?" Ihr Vater versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen, während Lucinda kaum einen klaren Gedanken fassen konnte.
"Er ist weg. Ich bin kurz eingeschlafen und dann war er weg." Sie fühlte sich, als hätte sie versagt. Aber dann legte Lucindas Vater ihr eine Hand auf die Schulter und sprach ihr tröstend zu.
"Mach dir keine Gedanken, Lucinda. Du hast dich wundervoll um ihn gekümmert. George und ich werden sehen, ob wir ihn finden können." Er weckte George, der bis dahin trotz des Tumultes um ihn herum noch immer selig schlief und gemeinsam gingen sie nach draußen, um den Fremden zu suchen.
Aber er war verschwunden, ebenso wie sein Pferd.
***
Lucinda wachte später als gewöhnlich auf, was angesichts der Ereignisse und des Schlafmangels der letzten Tage aber auch nicht weiter verwunderlich war.
Sie war froh, dass ihr ein wenig Ruhe vergönnt war und blieb noch ein paar Minuten liegen, sah durch das Fenster in den wolkenlosen Himmel.
An Tagen wie diesen konnte sie sich kaum vorstellen, dass jederzeit wieder ein Sturm wüten konnte. So wie es zwei Nächte zuvor der Fall gewesen war, als der Regen ihnen beinahe buchstäblich den Fremden ins Haus gespült hatte.
Wenn sie so darüber nachdachte, dass er einfach verschwunden war, ohne auch nur ein kleines Wort des Dankes, dann spürte sie die Wut in sich hochkochen. Sie hatten sich für ihn aufgeopfert und ihn gepflegt und er hielt es nicht einmal für nötig, sich ordentlich bei ihnen vorzustellen und dann zu verabschieden. Das war die Höhe!
Aber es brachte nun auch nichts, sich darüber aufzuregen. Stattdessen seufzte sie, wandte ihren Blick vom Fenster ab und verließ ihr kuscheliges Bett.
Als sie sich zurecht gemacht hatte und in die Küche ging, war ihre Mutter wieder einmal am Herd beschäftigt. Manchmal fragte sie sich, ob sie den lieben langen Tag auch noch etwas anderes tat, als zu kochen und frisches Brot zu backen.
Sie hatten einige wenige Angestellte im Haus und im Stall, die im Dorf wohnten und nur tagsüber bei ihnen arbeiteten, aber Mrs Thornton hatte immer fest darauf bestanden, keine Köchin - sondern nur Gehilfen - einzustellen und selbst in der Küche die Verantwortung zu übernehmen.
"Guten Morgen, Mutter." Lucinda war heute trotz allem in so guter Stimmung, dass sie ihr sogar einen kleinen Kuss auf die Wange drückte. Überrascht sah sie Lucinda an, da dies sonst nicht ihrer Art entsprach. "Wo sind Kate und Caroline?" Es war fast unheimlich still im Haus, sie konnten sich also nicht in der Nähe aufhalten.
"Die beiden sind Beeren pflücken gegangen. Aber ich denke, dass sie auf ihrem Weg einen Halt bei den Millers machen wollen. Das Regiment, in dem ihr Sohn Charles ist, ist diesen Monat hier stationiert und er besucht seine Eltern." Mama lächelte selig, aber Lucinda konnte nur die Augen verdrehen. Heiraten, heiraten, heiraten. Eine gute Partie machen. Hauptsache versorgt sein.
Lieber würde sie sich für den Rest ihres Lebens nur von selbst gepflückten Beeren ernähren und im Wald unter den Bäumen schlafen, als einen durchtriebenen Flegel wie Charles zu heiraten.
Sie wollte gerade etwas erwidern, als es an der Tür klopfte und sie kurz darauf eine nur allzu bekannte Stimme hörten.
"Hallo? Lucinda? Ist jemand da?"
"Wir sind hier, Marie", rief Lucinda ihrer besten Freundin zu, obwohl sie genau wusste, dass sie sowieso gleich auch ohne Aufforderung in die Küche marschiert gekommen wäre. Sie besuchten einander so oft, dass sie das Haus der anderen schon beinahe das eigene Heim nennen konnten.
Wie erwartet, stürmte sie keine zwei Sekunden später mit einem kleinen Korb über dem Arm in die Küche.
"Hallo, Mrs Thornton!", begrüßte sie erst Lucindas Mutter, bevor sie kurz einen Arm um Lucinda legte und sie drückte. "Ich habe euch etwas mitgebracht!" Stolz stellte sie den Korb auf dem Tisch ab und präsentierte dann die Leckereien, die sich darin befanden: Ein Stück Käse, eine Flasche mit frischer Milch und sogar ein Stück Butter.
"Marie! Du sollst uns doch nicht immer so verwöhnen!"
"Ach was, das mache ich doch gerne!" Ihre Augen strahlten.
"Wie geht es deinen Eltern und Richard?"
"Meine Eltern lassen ihre Grüße ausrichten und Richard wird mich morgen wieder besuchen kommen." Allein bei dem Gedanken wurden ihre Wangen rosig. Richard und Marie würden nächstes Jahr heiraten und dann würde auch Richard auf der Farm ihres Vaters mithelfen. Dort konnte immer jede helfende Hand gebraucht werden.
Lucinda selbst hatte schon einmal geholfen, die Kühe zu melken, wenn sie bei den Browns übernachtet hatte. Aber das durfte sie natürlich niemals ihrer Mutter erzählen.
"Ich habe gehört, dass ihr einen Fremden aufgenommen habt und pflegt. Geht es ihm besser?", wollte Marie wissen und sah sich dabei in der Küche um, als könnte er plötzlich doch in einer Ecke liegen und sie hätte ihn noch nicht bemerkt.
Aha, daher wehte also der Wind. Sie wollte einen Blick auf den Fremden erhaschen.
"Er ist gestern ohne ein Wort mitten in der Nacht verschwunden! Und das nachdem man ihn hier so gastfreundlich aufgenommen und gepflegt hat!", echauffierte sich Lucindas liebe Mama, als hätte sie diese Aufgaben selbst übernommen.
"Nein!", empörte sich Marie und Lucinda musste sich mit einem Lächeln im Gesicht abwenden. Wenn Marie und ihre Mutter aufeinander trafen, dann war der Tratsch sofort groß. Trotzdem liebte sie Marie wie eine Schwester.
"Ihr wisst also gar nicht, wer er war?"
Lucinda schüttelte den Kopf. "Nein, wir wissen gar nichts über ihn." Sie spürte wieder, wie die Wut in ihr hochkochte. So ein unverschämtes Verhalten war sie nicht gewohnt und sie wusste kaum damit umzugehen.
Marie grinste schelmisch. "Ich habe heute Nachmittag Besorgungen in der Stadt, um die ich mich kümmern muss. Ich werde mich ein wenig umhören. Vielleicht ist ja noch jemand auf den mysteriösen Fremden gestoßen."
"Darf ich dich begleiten, Marie?", fragte Lucinda aus einer spontanen Eingebung heraus.
"Aber natürlich! Ich gehe um zwei Uhr los und dann können wir den Rest der Strecke zusammen gehen."
***
Ein paar Stunden später traf sich Lucinda mit Marie bei der Gabelung, die genaue Mitte zwischen ihren beiden Häusern und außerdem ihr üblicher Treffpunkt, wenn sie in die Stadt liefen, damit Marie nicht einen Umweg gehen musste.
Marie hakte sich mit dem einen Arm bei Lucinda unter, über dem anderen hing ein Korb, in dem sie ihre Besorgungen nach Hause tragen würde. Lucinda selbst hatte von ihrer Mutter noch zwei Briefe bekommen, die sie aufgeben sollte.
Als sie den Weg entlangliefen, schien ihnen die Sonne ins Gesicht und Lucinda spürte, wie sich kleine Schweißperlen unter ihrem Korsett bildeten, obwohl dieses tagsüber bei Weitem nicht so eng geschnürt war wie auf Bällen oder wenn sie Besuch erwarteten.
"Jetzt erzähl endlich ein wenig mehr! Beschreibe mir den Fremden, vielleicht kenne ich ihn", bat Marie, aber Lucinda durchschaute sie sofort.
"Du willst doch nur wissen, ob er gut aussah", entgegnete Lucinda lachend.
"Natürlich, immerhin werde ich bald heiraten, aber für dich müssen wir auch noch jemanden finden", neckte Marie sie kichernd und Lucinda schüttelte noch immer lächelnd den Kopf.
"Marie, du weißt doch, was ich denke. Kein Mann wird mir so viel Freiraum geben, mein Wissen zu erweitern und nach der Professur eines Arztes zu streben, wie mein Vater." Marie wollte schon etwas zwischenwerfen, aber Lucinda ließ sich nicht beirren und sprach weiter. „Ich weiß, dass meine Eltern mich irgendwann verheiraten werden, aber bis dahin gehe ich meinem Vater zur Hand, so oft es nur geht und lerne und lese so viel ich kann."
Marie seufzte. "Kannst du nicht ein wenig romantischer sein?", klagte sie.
"Kannst du nicht ein wenig wissbegieriger sein?", ärgerte Lucinda sie.
Mädchen erhielten nur in wohlhabenden Häusern ein gewisses Maß an Bildung, wenn die Mittel vorhanden waren, um einen Privatlehrer anzustellen. Und selbst dann wurde an die Mädchen nur das Wissen vermittelt, das für sinnvoll und angemessen erachtet wurde.
Marie hatte noch nie ein Lehrbuch von innen gesehen, sondern hatte nur das gelernt, was für das Leben auf einem Hof von Nutzen war und vor allem, wie man kochte, sich benahm und einen Ehemann unterstützte und zufrieden stellte.
Lucindas Vater hatte ihr zumindest das Lesen beigebracht und sie war ihm jeden Tag dafür dankbar, dass er ihr dadurch ermöglicht hatte, ihren Wissensdurst zu stillen, obwohl dieser eigentlich nie versiegte, sondern mit jedem neuen Wissen weiter angefacht wurde.
"Ich bin wissbegierig - ich will wissen, wie der Mann aussah, der bei euch war", gab Marie schlagfertig zurück und war somit wieder beim Ausgangspunkt des Gesprächs angelangt. Lucinda wusste, dass Marie nicht eher aufgeben würde, bis sie alle Informationen erhalten hatte, die ihr wichtig erschienen.
"Nun gut", gab Lucinda sich deswegen geschlagen und lächelte schief. "Interpretiere aber bitte nichts hinein, es ist nur eine objektive Darstellung seines Aussehens. Als wäre er ein verletztes Tier."
Marie kicherte. "Natürlich, nichts weiter als das."
"Er war... oder ist groß und muskulös", fing Lucinda vorsichtig an und spürte schon, wie sich die Röte auf ihren Wangen ausbreitete. Sie kam sich so ungebildet und unerfahren vor, dass alleine die Anwesenheit eines Mannes und der Gedanke an ihn sie verunsicherten. Sie stockte, rang nach den richtigen Worten.
"Danke sehr, Lucinda. Jetzt habe ich eine sehr genaue Vorstellung von ihm", ärgerte Marie sie auch schon mit dieser trockenen Bemerkung, ungeduldig auf weitere Details wartend.
Lucinda stöhnte und gab sich einen Ruck. "Er hat dunkle Haare und eisklare, graue Augen."
"Er war wach?", unterbrach Marie sie erstaunt und betrachtete ihre Freundin von der Seite.
"Ja, kurz. Ich war eben dabei, ihn zu waschen, da ist er aufgewacht." Die Erinnerung ließ ihr Herz schneller schlagen. Diese grauen Augen würden sie noch im Traum verfolgen. "Ich weiß aber ehrlich gesagt nicht, wie viel er wirklich mitbekommen hat."
"Du meinst, ob er sich an dich erinnern würde?"
"Du bist unverbesserlich, Marie", tadelte Lucinda kopfschüttelnd und hielt ihren Blick auf den Kiesweg gerichtet. "Er hat sehr kantige Gesichtszüge, einen durch und durch maskulinen Ausdruck. Makellose Haut. Schöne Hände und..." Sie hielt inne, sich dessen bewusst, dass ihre ‚objektive Darstellung seines Aussehens' sehr schnell in eine Schwärmerei umschlagen könnte.
"Und...?" Marie ließ nicht locker.
Lucinda biss sich auf die Lippe. Sie sollte den Satz am besten nicht beenden, aber ein neues Gefühl schien sie zu vereinnahmen. Der Wunsch, Marie einmal richtig zu empören.
"Er hat schwarze Haare auf seiner Brust", flüsterte sie deswegen und musste sogleich kichern, als sie Maries Gesichtsausdruck bemerkte. Zum ersten Mal in ihrem Leben schien diese sprachlos zu sein.
"Und um schon auf die Frage, die du sicherlich als nächstes stellen würdest, einzugehen: Ja, ich denke, dass er ein sehr passables Aussehen hat."
"Sehr passabel? Bist du sicher, dass das keine Untertreibung ist?"
Lucinda zuckte kokett mit den Schultern. "Da wir ihn höchstwahrscheinlich nicht wieder sehen werden, musst du mir einfach glauben. Aber ich bin jetzt wirklich nicht gewillt, mehr über ihn zu reden. Sein undankbares Verhalten überschattet alles andere. Selbst wenn er ein Graf wäre und meine Vergebung verlangen würde, ich würde sie ihm nicht geben", behauptete sie ernst, als sie das Dorf erreichten.
"Solch harte Worte kenne ich gar nicht von dir", bemerkte Marie und zog sie mit sich zum Kurzwarenhändler. Sie schlängelten sich durch den Trubel aus Menschen, Hühnern und zwei Schweinen und traten schließlich durch die schmale Holztür, über der dabei ein kleines Glöckchen klingelte. "Könnte er denn ein Graf sein?", fragte sie über ihre Schulter.
"Seine Kleidung erweckte immerhin nicht den Eindruck, dass er ein geringes Einkommen hat", murmelte sie.
Während Marie einige Garne aussuchte, betrachtete Lucinda die Menschen um sie herum. Sie konnte nicht umhin, nach dem Fremden Ausschau zu halten, obwohl es eine törichte Vorstellung war, ihn im Dorf wiederzutreffen.
"Marie, ich gehe eben zum Posthaus. Ich komme wieder zu dir zurück", sagte sie an ihre Freundin gewandt und marschierte in den Laden auf der anderen Seite des Marktplatzes.
"Guten Tag, Ms Thornton", begrüßte Mr Whittaker sie. Lucinda machte zur Begrüßung einen Knicks.
"Guten Tag, Mr Whittaker. Ich hoffe, es geht Ihnen gut." Der ältere Mann und seine Frau waren gute Freunde der Familie. Sie speisten oft zusammen und das Ehepaar hatte einen besonderen Platz in Lucindas Herzen.
"In der Tat. Gibt es Neuigkeiten?", fragte er und lächelte auffordernd. Mr Whittaker verteilte nicht nur die Post, sondern auch den lokalen Klatsch und Tratsch. Und Lucinda wusste, dass falls jemand etwas über einen mysteriösen Fremden gehört hatte, dann er.
"Erst einmal dies", sagte sie und gab ihm zusammen mit zwei kleinen Münzen die Briefe ihrer Mutter. Er nahm sie entgegen und drehte sich dann zu den Postfächern hinter ihm um.
"Ich habe auch ein paar Briefe an Ihre Familie, Ms Thornton, die der Kurier morgen zu Ihnen bringen wollte." Er reichte ihr einen kleinen Stapel und zeigte bedeutungsvoll auf den obersten Brief. Er war von den McLocklyns.
"Zahlreiche Familien der Stadt haben heute Briefe von den McLocklyns zugestellt bekommen. Ein privater Ball wird arrangiert", flüsterte er fast bedächtig.
Lord McLocklyn hatte den Baronentitel eines Großonkels geerbt und somit stellte seine Familie einen Teil der adeligen Oberschicht der Gegend dar. Private Bälle auf ihrem Landsitz Longwood Manor waren begehrt und galten als eines der vornehmsten sozialen Events in der Dorfumgebung. Doch die McLocklyns beorderten normal keine Bälle, außer es gab dafür einen ausreichenden Grund.
"Weiß man auch wieso?", fragte Lucinda deswegen und sah wieder zu Mr Whittaker, der jedoch betrübt den Kopf schüttelte.
"In der Einladung wird ein Ehrengast erwähnt. Vielleicht wird die Verlobung ihres Sohnes Tobias endlich bekanntgegeben", mutmaßte Mr Whittaker. "Obwohl das eine große Überraschung wäre. Es ist nicht bekannt, dass er einer Dame den Hof gemacht hätte."
Lucinda überlegt, ob sie ihn auf den Fremden ansprechen sollte. Doch wenn er schon nicht selber etwas davon erwähnte, wusste er wahrscheinlich auch nichts. Und würde es dem Ruf ihrer Familie guttun, dass ein Fremder aus ihrer Obhut geflohen war?
Wohl kaum.
"Unsere Neugier wird hoffentlich bald gestillt", antwortete sie deswegen diplomatisch. "Hat die Familie Brown auch Post erhalten? Ich bin mit Marie in der Stadt und kann sie ihr mitnehmen."
"Oh, natürlich." Er überreichte ihr einen kleinen Stapel und sie verabschiedete sich von ihm. Sie trat nach draußen in die kühle Herbstsonne und suchte den Marktplatz nach ihrer Freundin ab. Vielleicht hatte sie sich ja ein wenig umhören können, wie sie heute Vormittag versprochen hatte.
Was ist das denn schon wieder für ein Wetter, igitt...
Aber eigentlich der perfekte Tag, um zu lesen :D
Und wer ist wohl der Ehrengast aus der Einladung...?
Eure
Eliza Hart
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