~29~
Nachdem Mrs. Reid sich verabschiedet hatte, bat Lucinda einen der Diener, ihr den Karton in die Bibliothek zu tragen. Dort nahm sie jedes Buch heraus und breitete diese auf dem großen Eichentisch aus, der dort für Studien stand. Sie sortierte die Bücher nach Genre: Einen Stapel für die Bücher über Etikette und Konversation – dieser war auch der größte – dann einen Stapel mit Gedichtbänden, einen Stapel über Mode und einen letzten Stapel mit diversen anderen Büchern, die von Geschichte und Philosophie bis hin zu Geographie und tatsächlich auch einem Reisebericht reichten. Sie war sich sicher, dass alle diese Bücher so ausgewählt wurden, dass sie für das zarte Gemüt der Damen geeignet waren.
Lucinda blickte von einem Stapel zum nächsten. Am meisten interessieren würde sie eindeutig der letzte Stapel. Doch wahrscheinlich war es zielführender für einen entspannteren Umgang mit Mrs. Reid, dass sie mit einem Buch über die Etikette begann.
Sie blätterte durch die Bücher durch, wählte eines davon aus und setzte sich damit in den Lesesessel. Sie begann zu lesen und war kurze Zeit später vollkommen in die Zeilen vertieft. Anscheinend hatte sie so konzentriert gelesen, dass sie gar nicht mitbekommen hatte, dass Bailian die Bibliothek betreten hatte.
"Hier bist du also!", sagte er und Lucinda schreckte derart hoch, dass ihr das Buch auf den Boden fiel.
"Bailian! Du hast mich aber erschreckt!"
"Das sehe ich", meinte er lachend und hob das Buch auf. "'Etikette - gesellschaftliche Regeln einfach dargelegt' - weshalb liest du so etwas?", fragte Bailian mit einem amüsierten Blick auf den Buchtitel und einer unspezifischen Geste in Richtung der hunderten von anderen Büchern in der Bibliothek, die eher Lucindas Geschmack entsprachen.
"Das ist eine von Mrs. Reids Hausaufgaben. Ebenso wie all die anderen Bücher", erklärte Lucinda und zeigte auf die Bücherstapel auf dem Tisch.
"Das sollst du alles lesen? Mir war ja bewusst gewesen, dass zu einem Unterricht auch entsprechende Lektüre gehört, aber ich hatte nicht erwartet, dass du dir alles im Selbststudium beibringen musst. Dafür habe ich Mrs. Reid nicht angestellt", meinte er stirnrunzelnd.
"Ich bezweifle, dass Mrs. Reid sich an irgendwelche Anweisungen hält, sollten diese ihren eigenen An- und Absichten widersprechen. Ich weiß auch nicht, ob du vorhin mit ihr geredet hast oder worüber du gegebenenfalls mit ihr gesprochen hast – anders mir gegenüber hat sie sich aber nicht verhalten", kommentierte Lucinda mit einem säuerlichen Grinsen und erhob sich.
"Das ist aber nicht sehr damenhaft, den Befehlen eines Lords nicht zu gehorchen", erwiderte Bailian und Lucinda konnte nicht anders, als diese Aussage als dezent provokativ aufzufassen.
"Befehle?", fragte sie deshalb nur mit gehobener Augenbraue.
"Denkst du nicht, dass ab und an einmal ein Machtwort gesprochen werden muss?", wollte Bailian von ihr wissen, ein unergründliches Lächeln auf den Lippen, während er ihr einen kleinen Schritt näher kam.
"Nun, ich denke, das kommt ganz auf die Situation an", erwiderte Lucinda und machte keine Anstalten, mehr Distanz zwischen sich und Bailan zu bringen. Bailian stand so nah vor ihr, dass sie den Kopf in den Nacken legen musste, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Wieder einmal fielen ihr seine markanten Gesichtszüge auf. Er war einfach unverschämt attraktiv.
Sie wollte eben ihre Hand heben, um mit ihren Fingerspitzen die Kontur seiner Kinnpartie nachzufahren, als er ihr seinen Arm anbot.
"Darf ich bitten? Der Pianist wartet auf uns."
"Der Pianist?" Lucinda musste sich kurz aus ihrer fast hypnotischen Hingabe lösen und ihre Verwirrung abschütteln.
"Ja, der Pianist. Oder möchtest du lieber ohne Musik tanzen?", belustigte sich Bailian ein wenig.
"Nein, natürlich nicht." Manchmal fragte sich Lucinda, wie viel sie vor Bailian überhaupt verbergen konnte. Blieben ihre Verwirrung und ihre steigende Zuneigung verborgen? Oder konnte er ihr jede Gefühlsregung im Gesicht ablesen?
Andererseits: Wollte sie ihre Gefühle denn überhaupt verbergen? Und wenn ja – wozu? Bailian war ihr Ehemann und war sie anfangs noch so sehr gegen diese arrangierte Ehe gewesen, so musste sie sich immer mehr eingestehen, dass sie es sehr viel schlechter hätte treffen können. Dass sie mit Bailian eigentlich alles erhalten hatte, was sie sich immer gewünscht hatte.
Bis auf die große Liebe.
Bailian brachte ihr Zuneigung und Respekt entgegen und das rechnete sie ihm hoch an. Aber mehr konnte sie seinem Benehmen nicht entnehmen. Nicht die kleinste Verwirrung. Er wirkte immer so selbstsicher. Genauso wie ein Gentleman wohl wurde, wenn er von klein auf immer alles erhalten hatte, was sein Herz begehrte.
Fiel es ihr deshalb so schwer, ihre Verwirrung offen zu zeigen? Fühlte sie sich Bailian dadurch unterlegen, dass er seine Gefühle so viel besser im Griff zu haben schien als sie selbst?
Ja, vielleicht.
Bailian reichte ihr seinen Arm und wartete, dass Lucinda sich bei ihm unterhakte.
"Wollen wir?", fragte er sie wieder mit diesem warmen, unergründlichen Lächeln, das er sich speziell für sie aufzuheben schien und riss Lucinda damit wieder einmal aus ihren Gedanken.
Lucinda trat einen Schritt näher an Bailian, zögerte kurz, stellte sich dann aber, ihrem Impuls folgend auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen kleinen, schnellen Kuss auf die Wange.
Überraschung spiegelte sich in Bailians Gesichtszügen wider.
"Womit habe ich mir das denn verdient?", wollte er wissen und Lucinda freute sich über das Leuchten in seinen Augen, während sie sich sicher war, dass ihre Wangen glühen mussten von der Röte, die sie überzog.
"Weil ich mich bei dir wohl fühle", war Lucindas schlichte Antwort, aber sie zauberte sogleich das warme Lächeln zurück, das ihr inzwischen so vertraut war. Ohne ein weiteres Wort hakte sie sich unter, genoss das Gefühl von Bailians warmer Hand, die sich sogleich auf ihren Arm legte und ließ sich von ihm aus dem Raum führen.
Gleich würde er sie über das Parkett wirbeln, fest in seine Arme geschlossen. Und das bereitete Lucinda ein wenig mehr Bauchkribbeln, als sie sich eingestehen wollte.
***
Als sie den zweiten Speisesaal, der auch als Ballsaal diente, betraten, der ihr nur mit dem Piano und den drei Menschen unendlich leer und riesig erschien, erhob sich der Pianist sogleich und deutete eine Verbeugung an.
"Lucinda, darf ich vorstellen, das ist Mr. Walters. Walters, meine Frau, Lady Lucinda", stellte Bailian die beiden einander vor.
"Mylady, es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen." Der schon ein wenig ältere Mann war tadellos gekleidet und hatte das wahrscheinlich netteste, etwas schiefe Lächeln, das Lucinda je gesehen hatte.
"Das Vergnügen ist ganz meinerseits, Walters. Was für ein wunderschönes Instrument Sie da spielen! Ich wünschte, ich hätte ebenfalls die Gelegenheit gehabt, ein Instrument zu lernen." Mit wehmütigem Blick bedachte Lucinda den wunderschönen Flügel. Wenn sie die Gelegenheit erhalten hatte, auf Soiréen einer der anderen Damen dabei zuzusehen, wie elegant ihre Finger über die Tasten flogen und welch wunderbare Klänge das Instrument erzeugen konnte, hatte sich Lucinda nicht nur einmal gewünscht, dass ihre Familie wenigstens über ein wenig mehr Mittel verfügen würde, um einen Unterricht zu bezahlen.
Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie einen Schritt näher getreten war und ihre Fingerspitzen ehrfürchtig über das Piano strichen.
"Wenn Sie wünschen und Lord White einverstanden ist, dann könnten wir dieses Versäumnis gerne gemeinsam nachholen", bot Walters sich sogleich an und Lucindas freudiger Blick flog zwischen Bailian und Walters hin und her.
"Das ist ein unwahrscheinlich großzügiges Angebot, aber würde Ihre Zeit das überhaupt erlauben?", wagte Lucinda sich zaghaft vor.
"Selbstverständlich, Mylady, die Zeit richte ich mir für Sie ein, sofern gewünscht."
"Vielen Dank, Walters. Lassen Sie uns die Details später klären, nachdem meine Frau und ich einige Tänze ausprobiert haben", schaltete sich Bailian ein. Noch immer setzte Lucindas Herz einen kleinen Schlag aus, wenn Bailian sie seine Frau nannte. Es klang ungewohnt, aber... wunderschön.
"Sehr wohl, Mylord." Walters setzte sich und stimmte die ersten Takte an, während Bailian Lucinda an die Hand nahm und ein paar Schritt in den Saal hinein führte. "Ein Cotillon, auch wenn uns das zweite Tanzpaar fehlt", raunte er ihr dann zu und Lucinda lachte.
"Vielen Dank für den Hinweis, Mylord, aber ich bin durchaus imstande, die gängigen Tänze zu erkennen", gab sie schmunzelnd und betont förmlich zurück.
Einen kurzen Moment zog Bailian sie näher zu sich als für den Tanz notwendig gewesen wäre und ihre Sinne wurden von Bailians betörendem Duft benebelt.
"Du bist wahrlich nicht nur klug und wissbegierig, sondern auch warmherzig und ehrgeizig und...", begann Bailian und stockte dann, als würde er sich an seinen eigenen Worten verschlucken.
Lucinda hatte den Atem angehalten bei seinen Worten, ihre Blicke fest ineinander verankert, die Tanzschritte völlig nebensächlich. "Und?", stieß sie ein wenig atemlos hervor, als sie sich nach einer Drehung wieder direkt vor ihm befand.
"Und wunderschön." Seine Stimme war kaum mehr als ein Hauch, aber das Kompliment ließ Lucinda beinahe die Schritte vergessen. Sie spürte, wie die Röte abermals in ihre Wangen schoss und ihre Knie waren ein klein wenig zittrig.
Warum nur musste ihr Körper sie derart im Stich lassen? Konnte sie nicht einfach ebenso beherrscht bleiben, wie es Bailian immer war und sich für seine netten Worte bedanken?
Aber es waren nicht nur nette Worte. Seine Worte waren von einer Ernsthaftigkeit, die bis tief in ihr Herz drang. In seinem Blick lag eine ganze Welt, die er ihr für diesen Moment offen legte. Mit nur diesem einen Satz hatte Lucinda das Gefühl, als hätte sich alles zwischen ihnen verändert, wäre tiefer, reiner und echter geworden. Da war ein Spannung zwischen ihnen, ein Kribbeln, das Lucinda nicht in Worte fassen konnte, das sie nicht einmal genauer benennen konnte.
Ihr Kopf schwirrte und nur mit Mühe brachte sie den Tanz zu Ende. Aber anstatt sie loszulassen, behielt Bailian sie in seinen Armen und gab Walters offenbar ein Zeichen. Eine langsamere Melodie wurde gespielt, zu der Bailian Lucinda im Takt wiegte, bevor er sie in die Schritte eines langsamen Walzers führte. In jedem Ballsaal hätte Bailian Lucinda nicht derart nah bei sich halten können. Aber dies hier waren seine eigenen vier Wände, in denen er seine eigenen Regeln aufstellen konnte.
Für einen kurzen Moment dachte Lucinda an Walters und das machte ihr die Nähe zu Bailian ein wenig unangenehm. Aber gleich darauf verdrängte sie diesen Gedanken, denn um nichts in der Welt wollte sie sich dieses wunderbare Gefühl von Geborgenheit und Intimität stehlen lassen.
Wie ein giftiger Stachel bohrte sich der Gedanke in Lucindas Gedächtnis ein, dass sie Bailian ganz anders kennengelernt hatte. Sein schlechter Ruf, der nicht zuletzt von der gelösten Verlobung herrührte, hatte ihn auf Schritt und Tritt verfolgt.
Im Moment waren sie hier in seinem Haus, wie in ihrer eigenen kleinen Blase gefangen. Aber wie lange würde dieser Zustand halten? Was passierte, wenn ihre Flitterwochen zu Ende gingen und sie sich der Gesellschaft stellen mussten?
Bisher hatte Bailian ihr keinerlei Grund gegeben, schlecht von ihm zu denken und Lucinda wusste nur zu gut, wie schnell ein tadelloser Ruf durch unüberlegtes Gerede geschädigt oder unwiderruflich zerstört werden konnte. Das bedeutete jedoch nicht immer, dass alle Gerüchte auch tatsächlich wahr waren.
Was sie jedoch nicht leugnen konnte, war die Tatsache, dass Bailian bereits vor ihr einer anderen Frau ein Eheversprechen gegeben hatte, dieses aber nicht gehalten hatte. Was war passiert? Warum hatte er das getan? Und vielleicht die viel brisantere Frage: Hatte er diese Frau aus freien Stücken verlassen oder war er dazu gezwungen worden, wie er auch zu dieser Ehe mit ihr selbst gezwungen worden war? Vermisste er diese Frau vielleicht sogar?
Zu viele Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf und mit einem Schlag war Lucinda so übel, dass sie sich aus Bailians Arm wand und durch die nächstbeste Tür nach draußen in den Garten stürmte.
Sie sog die frische Luft wie eine Ertrinkende in ihre Lungen und versuchte durch gleichmäßige Atemzüge ihren rebellierenden Magen zu beruhigen.
Was war nur los mit ihr? Lucinda erkannte sich selbst kaum wieder.
Nur wenige Sekunden später hörte sie Schritte hinter sich und gleich darauf stand Bailian neben ihr und blickte besorgt auf sie hinab.
"Lucinda, ist alles in Ordnung? Du bist bleich wie ein Laken."
"Es geht schon wieder, danke. Ich brauchte nur kurz frische Luft."
Mit noch immer besorgtem Blick, musterte Bailian Lucinda und wollte ihr eine gelöste Haarsträhne aus dem Gesicht streichen, aber noch ehe seine Finger sie berühren konnten, zuckte sie zurück und hätte sich dafür am liebsten selbst gleich eine Ohrfeige gegeben, als sie sah, wie ein verletzter Ausdruck über Bailians Gesicht huschte, bevor es ausdruckslos wurde.
"Ich werde Walters Bescheid geben, dass du dich ausruhen musst und dann Mia zu dir schicken, damit sie sich um dich kümmert", sagte er distanziert und wandte sich bereits von ihr weg.
Kurz rang Lucinda mit sich, aber dann sprang sie über ihren eigenen Schatten und rief Bailian hinterher. "Warte, bitte!"
Langsam drehte er sich um, eine Augenbraue fragend hochgezogen.
"Du musst Mia nicht zu mir schicken, kannst du bitte... Kannst du bitte wieder zu mir kommen, wenn du mit Walters gesprochen hast?"
Statt einer Antwort, sah Bailian sie mit festem Blick an, bevor er knapp nickte und mit langen Schritten zurück ins Haus lief.
Da ist ein neues Kapitel und es ist voll mit Bailian-und-Lucinda-Zeit :D
Was wird Lucinda mit Bailian besprechen - und noch wichtiger: Wie viel wird er ihr erzählen?
Wir hoffen, ihr hattet viel Freude mit dem neuen Kapitel <3
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