~26~

Lucinda wachte noch vor dem Sonnenaufgang auf und brauchte ein paar Minuten, um sich zu sammeln. Sie erinnerte sich an die Auseinandersetzung mit Bailian am Vorabend und tastete fast wie von selbst nach ihm auf der anderen Seite des Bettes.

Aber wie am Tag zuvor war die Betthälfte leer. Das Bett war jedoch noch so warm, dass Bailian noch nicht lange weg sein konnte. Lucinda ließ ihre Hand eine Weile auf dem warmen Laken liegen, bis es endgültig abgekühlt war.

Gerade als Lucinda sich dachte, dass sie nun auch aufstehen könnte, um zu frühstücken, klopfte es an der Tür und Mia trat mit einem voll beladenen Tablett ein, das herrlich duftete.

Kaffee, Croissants, Toasts, Pancakes und Saft standen darauf und es wackelte ein wenig bedenklich, als Mia versuchte, die Tür hinter sich wieder zu schließen.

„Mia! Was für eine Überraschung! Ich wollte soeben aufstehen und mich fertig machen."

„Das hat noch Zeit, Mylady. Mylord hat in Auftrag gegeben, dass Sie Ihr Frühstück heute im Bett einnehmen können. Sie sollen Ihre Flitterwochen genießen", erklärte Mia mit verklärtem Lächeln.

„Heißt das, Lord White wird ebenfalls kommen?", fragte Lucinda so beiläufig wie möglich. Etwas in ihr sehnte sich danach, unbeschwerte Zeit mit Bailian zu verbringen, nachdem sie sich ihm gestern Nacht so nah gefühlt hatte. Aber Mia machte ihre Hoffnungen mit einem Kopfschütteln zunichte.

„Mylord ist bereits in seinem Arbeitszimmer."

„Aber natürlich." Lucinda versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Was hatte sie auch gedacht? Dass Bailian plötzlich vollends zugänglich und durchschaubar werden würde?

Sie durfte sich nichts vormachen, bis sie ihren Mann wirklich kennen und verstehen würde, würde noch viel Zeit vergehen.

Lucinda aß von allem etwas und überlegte, was heute alles auf ihrem Tagesplan stand. Ein kleiner Schauer lief ihr über den Rücken, als ihr einfiel, dass sie heute ihre ersten Stunden in Etikette erhalten sollte und was auch immer ihr die Frau noch beibringen sollte. Konversation? Sie würde es früh genug erfahren.

Sie war ein wenig aufgeregt, da sie nicht genau wusste, was sie heute erwarten würde. Aber andererseits – sie hielt sich selbst nicht für die langweiligste Gesellschaft der Grafschaft und auch wenn Bailian der Ansicht war, dass ihre Manieren zu wünschen übrig ließen, wusste Lucinda, dass es sehr viel ungehobeltere Gestalten gab. Der Gedanke beruhigte sie ein wenig.

Außerdem musste sie Bailian unbedingt noch einmal darauf ansprechen, ob er inzwischen einen Lehrer für ihren Medizin-Unterricht gefunden hatte. Sie wollte auf keinen Fall, dass Bailian diesen Wunsch unter den Tisch fallen ließ, nur weil sie nicht mehr danach fragte.

Sie wusste, dass er noch nicht viel Zeit gehabt hatte und beschloss, ihm noch einen Tag Aufschub zu gewähren. Die Lehrerin für Etikette und Konversation hatte er jedenfalls sehr schnell aufgetrieben, also sollte es auch kein größeres Problem darstellen, einen weiteren Lehrer zu finden.

Zufrieden mit ihrem Plan, trank Lucinda den letzten Schluck Kaffee und klingelte dann wieder nach Mia, die ihr ein passendes Kleid zurechtlegte, damit sie einen guten ersten Eindruck in ihrer ersten Unterrichtsstunde hinterließ, wie sie Lucinda deutlich darauf hinwies.

***

Dass der erste Eindruck durchaus wichtig war, erfuhr Lucinda nicht allzu lange später, als die Lehrerin eintraf und Bailian sie einander vorstellte, bevor er sie alleine ließ.

Mrs. Reid wirkte, wie die personifizierte böse Stiefmutter aus diversen Märchen, die Lucinda als Kind verschlungen hatte. Kalte Mimik, die Haare zu einem strengen Dutt gebunden, die Haltung aufrecht, das Kinn ein wenig hochnäsig nach oben gereckt. Lucinda schauderte allein bei ihrem Anblick. Mit dieser Frau sollte sie ab sofort so viel Zeit verbringen?

Mrs. Reid musterte Lucinda unverhohlen von oben bis unten. "Nun, Lady White", war dann das erste, was sie sagte, "ich sehe, wir haben noch einen weiten Weg vor uns."

Überrascht und empört, ob dieser offenkundigen Frechheit, schnappte Lucinda nach Luft.

"Diese offensichtlichen Gefühlsausbrüche müssen wir Ihnen ebenfalls abgewöhnen", schmetterte ihr Mrs. Reid daraufhin sofort entgegen. "Eine Dame Ihres Standes behält in jeder Situation die Kontrolle oder verhält sich zumindest so, als hätte sie diese."

Lucinda entschied sich dafür, vorerst nichts dazu zu sagen, obwohl sie innerlich kochte.

"Ist es genehm, wenn ich nach einer Tasse Tee läute?", fragte sie dann lediglich und versuchte jeglichen ironischen Unterton aus ihrer Stimme fernzuhalten.

"Ich dachte schon, Sie fragen nie", schoss Mrs. Reid prompt zurück und setzte sich, während Lucinda den Tee servieren ließ, sich ebenfalls setzte und darauf achtete, möglichst gerade zu sitzen.

Kritisch musterte Mrs. Reid sie. "Wenigstens ist ihre Haltung annehmbar. Nun, über welche Themen unterhalten Sie sich für gewöhnlich am liebsten?" Mrs. Reid sah sie mit hochgezogener Augenbraue an und nippte mit gespreiztem, kleinem Finger an ihrem Tee.

"Medizin", war Lucindas prompte Antwort und Mrs. Reid verschluckte sich an dem Schluck Tee und brach in einen Husten aus.

"Oh, ein Hustreiz ist aber nicht sehr höflich", konnte sich Lucinda nicht verkneifen zu sagen und versteckte ihr Lächeln hinter ihrer eigenen Teetasse.

"Sie unverschämtes, kleines Ding! Medizin! Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen? Eine Frau unterhält sich niemals über die Themen eines Mannes. Sie nickt höchstens höflich dazu und lächelt, wenn ein Mann von derlei Themen spricht. Eine Dame unterhält sich über die neuste Mode und den Klatsch und Tratsch der Gesellschaft, aber niemals über Medizin. Ich hoffe, ich habe mich klar und deutlich ausgedrückt?" Ihr Gesicht war puterrot angelaufen und Lucinda sparte sich eine Anmerkung dazu, dass nur eine leichte Röte der Wangen für eine Dame schicklich sei.

"Nun ja, dann werden Sie ein hartes Stück Arbeit vor sich haben, denn ich kenne mich weder mit Mode aus, noch bin ich über die neuesten Fehltritte der High Society informiert." Lucinda hatte nicht vor, sich noch einmal aus der Ruhe bringen zu lassen. Sie würde diese Zeit so souverän wie möglich absitzen und dann Bailian bitten, dieses Biest so schnell wie möglich wieder zu entlassen. Wenn er sich so sehr für sie schämte, dann würde sie jedes erhältliche Buch zum Thema Konversation und Etikette lesen, aber sie hatte nicht vor, sich weiterhin beleidigen und wie ein unerzogenes, kleines Kind behandeln zu lassen.

Aber als sie in das zornige Gesicht ihrer Lehrerin blickte, war Lucinda klar, dass diese Stunde noch eine halbe Ewigkeit dauern würde.

***

Bailian

Als Bailian endlich sein Arbeitszimmer verließ, war es bereits dunkel. Die Zeit war wie im Flug vergangen, die Korrespondenzen konnten nicht warten. Aber je länger er im Schein der Kerze geschrieben hatte, desto mehr schmerzten seine Augen, bis er schließlich aufgab und die Feder beiseite legte.

Er ging zielstrebig in den Salon, weil er dachte, Lucinda dort noch vorzufinden, aber dort war bereits alles dunkel. Gerade wollte er die Türen wieder schließen, als eine Stimme aus der Dunkelheit sprach und ihn beinahe zu Tode erschreckte.

"Bin ich wirklich so schlimm?" Es war eindeutig Lucinda. Aber wo war sie?

"Lucinda, meine Güte, was machst du denn hier in völliger Dunkelheit?"

"Ich wollte nachdenken. Bailian, bin ich wirklich so unaushaltbar?", fragte sie wieder, aber Bailian suchte erst nach der nächsten Kerze und entzündete sie. Endlich konnte er sie in der Ecke auf einem Sessel sitzen sehen, die Beine hochgezogen und zu ihm blickend.

"Wieso fragst du das?"

"Weil du mir diese unausstehliche Mrs. Reid an die Seite stellst, die mir Manieren beibringen soll. Schämst du dich so sehr für mich, dass ich mich von dieser Person demütigen lassen muss?" Er suchte nach Anzeichen, dass Lucinda gleich in Tränen ausbrechen würde, aber ihre Stimme klang ruhig, klar und fest und in ihren Augen lag lediglich ein fragender Ausdruck und keine schimmernden Tränen.

"Was ist passiert?"

"Kurz zusammengefasst passt ihr nichts an mir. Nicht wie ich rede, über was ich rede, wie ich mich verhalte, dass ich eine eigene Meinung habe und Interessen, die für eine Frau offenbar unschicklich sind. Hättest du gerne eine Frau, die wie scheinbar jede andere in der Londoner Gesellschaft ist? Hübsch anzusehen, aber ohne jeglichen Verstand und nur auf Mode und Klatsch bedacht? Ist es das, was du dir von mir wünschst?"

Sie sah ihn so offen an, dass er sie am liebsten an sich gezogen hätte und ihr versichert hätte, dass er keineswegs eines dieser oberflächlichen Mädchen haben wollte, zu denen die meisten erzogen worden waren. Er schätzte Lucinda für ihren Verstand, auch wenn er dafür sorgen musste, dass sie mit diesem in der Gesellschaft keinen Anstoß erregte. Das war nicht nur für ihn selbst von Vorteil, sondern auch zu ihrem eigenen Besten.

Langsam lief er auf Lucinda zu.

"Ist Mrs. Reid tatsächlich so schlimm? Sie wurde mir wärmstens empfohlen."

Ein vernahm ein Schnauben und konnte erahnen, dass Lucinda soeben die Augen verdrehte.

"Diese Frau ist ein Biest. Güte und Freundlichkeit sind Fremdworte für sie. Keine Sorge, ich kann mich verteidigen und lasse mir nicht alles gefallen und ich bin noch immer bereit, mich an die Londoner Gesellschaftsregeln anzupassen, so gut ich es vermag. Aber bitte, Bailian, bitte gib mir dutzende Bücher zu lesen und ich werde es tun, aber ich will diese Frau nicht mehr sehen."

Bailian stand nun direkt vor Lucinda und stellte die Kerze auf dem kleinen Beistelltisch ab.

Lucinda ließ ihn keine Sekunde aus den Augen, als er vor ihr in die Hocke ging und aus einem Impuls heraus ihre Hand nahm.

"Nein, Lucinda, ich schäme mich nicht für dich. Und ich schätze deinen wachen Verstand und sogar deine Selbstständigkeit, auch wenn beides entgegen aller Konventionen geht, die ich gelehrt wurde und ich mich deshalb selbst noch in diese neuen Gegebenheiten einfinden muss. Ich hielt es nur für das Beste, wenn du eine Einweisung in die hiesigen Gesellschaftsregeln erhältst, damit du dich besser einfindest und dich wohl fühlst. Ja, das bringt zum Teil vielleicht Einschränkungen mit sich, die du vorher nicht hattest, aber ich werde dir nie verbieten, zuhause die Bücher zu lesen, die dich interessieren oder mit mir über die Belange zu reden, die dir wichtig sind." Er sah das Leuchten in Lucindas Augen zurückkehren und ignorierte die Wärme, die seinen Körper daraufhin durchflutete.

"Und", redete er stattdessen weiter, "ich habe heute die Antwort von dem Arzt erhalten, den ich im Kopf hatte, um dir Unterricht zu geben. Er würde sich auf die Stunden freuen."

"Wirklich? Oh Bailian, ich danke dir!" Lucinda umarmte Bailian so stürmisch, dass sie ihn beinahe aus seiner Hockposition umgerissen hätte. Lachend stemmte Bailian sich und Lucinda wieder in eine halbwegs aufrechte Position.

"So viel Überschwang in einer so zierlichen Person", meinte er leise lachend, eher er sich aufrichtete und Lucinda seine Hand reichte.

"Begleitest du mich zu Bett?"

Ein Lächeln schlich sich auf Lucindas Gesicht und das sanfte Pochen ihres von Wärme durchfluteten Herzens begleitete sie, als sich ihre Hände wie von selbst verflochten und sie gemeinsam die Treppe nach oben stiegen.

Finally ein Update!!

Na, das ist doch mal eine Schreckschraube, unsere Mrs. Reid...

Aber langsam taut Bailian ein wenig auf... ;)

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top