~21~
Als Lucinda einige Zeit später die Stufen langsam zu ihrem Zimmer hinaufschritt, hatte sie noch immer nicht mehr aus Bailian herausbekommen. Er war ihren Fragen nach seinen Beweggründen, weshalb er in die Hochzeit mit ihr eingewilligt hatte, immer geschickt ausgewichen und schließlich hatte Lucinda aufgegeben. Zumindest für diesen Zeitpunkt. Möglicherweise konnte er offener und ehrlicher zu ihr sein, wenn sie sich erst einmal ein wenig besser kennengelernt hatten.
In ihrem Zimmer angekommen klingelte Lucinda nach Mia, die ihr beim Auskleiden helfen sollte.
Bailian hatte sich nach dem Abendessen zurückgezogen, nachdem er eine Nachricht erhalten hatte. Er meinte, es sei geschäftlich, aber er würde bald wieder zurück sein.
Lucinda war sich nicht sicher, ob sie das als Verlockung oder als Drohung auffassen sollte.
Fakt war jedoch, dass sie Bailian nicht auf ewig auf Abstand halten konnte – er war nun einmal ihr Ehemann und hatte damit gewisse Rechte, die sie ihm zugestehen musste. Zumindest das hatte ihre Mutter ihr erklärt.
Lucinda war völlig in Gedanken versunken, während Mia effizient um sie herum arbeitete, Kleiderschichten von ihrem Körper streifte und neue Kleiderschichten darüber zog. Mia schien die nachdenkliche Stimmung ihrer Herrin wahrzunehmen und war erstaunlich ruhig.
"War das dann alles, Mylady", fragte sie lediglich, als Lucinda fertig für die Nacht angekleidet auf der Bettkante saß.
"Ist Lord White schon zurückgekehrt?"
"Ich kann für Sie nachfragen, Mylady."
"Nein, ist schon gut." Wieder stand Lucinda vor der Frage, ob sie auf Bailian warten sollte, bis er wiederkam oder ob sie sich einfach hinlegen und schlafen sollte, um so das Unvermeidliche noch eine weitere Nacht herauszuzögern. Wie lange konnte "bald" dauern?
Kurz entschlossen stand sie auf.
"Kannst du mir die Bibliothek zeigen?", bat Lucinda. Sie war ein wenig müde und eigentlich hatte sie das Haus erst morgen erkunden wollen, aber nun hatte sie den Drang, unbedingt noch ein Buch in Händen zu halten. Und bei der Gelegenheit konnte sie sich gleich einmal einen Überblick über die Ausstattung verschaffen. Ob Bailian überhaupt Bücher besaß, die medizinisches Wissen vermittelten?
"Aber, Mylady, Sie sind bereits umgekleidet!" Empört schnappte Mia nach Luft.
"Gib mir einfach den Morgenrock, daran wird niemand Anstoß nehmen. Immerhin ist dies nun mein Zuhause und hier möchte ich mich frei bewegen können, wie immer es mir beliebt", erklärte Lucinda mit mehr Überzeugung als sie selbst empfand.
"Aber, Mylady...", wollte Mia noch einen Einwand starten, aber Lucinda unterbrach sie.
"Es ist spät, es ist dunkel, es wird mich nicht einmal jemand auf den Gängen richtig erkennen können." Daraufhin gab sich Mia geschlagen und legte Lucinda den dunklen Morgenrock um, der ihr bis um die Knöchel fiel und band ihn so fest, dass Lucinda sich beinahe so eingeschnürt wie in einem Korsett vorkam.
Sie zündete eine weitere Öllampe an, die sie mitnahm, um Lucinda den Weg zu leuchten. Mia lief in den Gängen voraus und Lucinda versuchte sich den Weg einzuprägen, den sie liefen. Unterwegs kam ihnen niemand entgegen, wie Lucinda vermutet hatte. Die Bediensteten waren inzwischen mit Sicherheit im Dienstbotenzimmer oder bereits in ihren Betten.
Als sie in der Bibliothek angekommen waren, stellte Mia die Öllampe ab und ging sogleich daran, einige Kerzen anzuzünden. Lucinda machte die Dunkelheit nichts aus, sie hatte sich schon zu dem ersten Regal begeben und fuhr mit ihrem Finger die Buchrücken nach.
"Hier, Mylady." Mia hielt ihr die Öllampe hin und erst da, im Schein der Kerzen, bemerkte Lucinda wie groß die Bibliothek in Wirklichkeit war. Regale zierten alle Wände, vom Fußboden bis zu der Decke. Auf einem Schreibtisch stapelten sich haufenweise Bücher, genauso wie auf dem Kaminsims. Eine Bank mit zahlreichen Kissen war in den Fenstererker eingebaut und eine Sofaecke bot weitere Sitzmöglichkeiten.
Lucinda war sprachlos.
"Danke, Mia, du darfst dich zur Ruhe begeben", sagte sie, ohne ihren Blick von den hunderten von Büchern zu nehmen.
"Aber, Mylady", stammelte ihre Zofe und sah sie ganz erschrocken an.
"Schon gut, Mia." Sie nahm die Lampe entgegen und wandte sich wieder den Büchern zu. "Was soll mir hier schon passieren?"
"Nun gut, Mylady. Dann wünsche ich eine gute Nacht." Mia knickste, zog sich dann leise zurück und ließ Lucinda in diesem wahr gewordenen Traum zurück. Die Müdigkeit, die Lucinda zuvor noch leicht verspürt hatte, war schlagartig wie weggeblasen. Sie nahm die Öllampe zur Hand, um die Buchrücken besser beleuchten zu können. Die Bibliothek bei Tageslicht zu erkunden wäre sicherlich der einfachere und sinnvollere Zeitpunkt gewesen, aber spätestens nun, da sie einmal all die Pracht gesehen hatte, wollte sie sofort damit beginnen. Andernfalls würde sie sowieso nur schlaflos und unruhig vor Vorfreude in ihrem Bett liegen.
Lucinda fand Gedichtbände, Biografien, Romane und Nachschlagewerke. Oh, sie würde sich in nächster Zeit sicherlich nicht langweilen! Sie nahm sich vor, jedes dieser Bücher zu lesen – egal, wie lange es dauern würde.
Gerade hatte sie mehrere Bände einer medizinischen Enzyklopädie gefunden, als sich hinter sie die Tür öffnete und sie Schritte vernahm. Erschrocken fuhr sie herum und ihr pochendes Herz schlug ihr bis zum Hals.
"Bailian! Du bist es nur!" Lucinda hatte eine Hand aufs Herz gelegt, als würde es dadurch schneller wieder in seinen normalen Rhythmus finden.
"Nur?" Bailians Mund verzog sich zu einem Lächeln und Lucinda war sich sicher, dass sie ein spöttisches Blitzen in seinen Augen gesehen hätte, wären die Lichtverhältnisse besser gewesen. "Was machst du hier?", fragte er dann etwas ernster und ging zu ihr.
"Ich schaue mir deine Bücher an. Ich..." Sie stockte kurz, doch Bailian, der nun nah neben ihr stand, sah sie aufmunternd an. "Ich habe noch nie so viele Bücher auf einmal gesehen", gestand sie dann und wappnete sich schon darauf, dass er eine herablassende Bemerkung über ihre niedere Herkunft äußerte. Doch nichts dergleichen. Bailian sah sich flüchtig fast stolz in der Bibliothek um, dann fiel sein Blick wieder auf seine Ehegattin.
"Die Bibliothek steht zu deiner vollen Verfügung", sagte er leise. Das Flimmern der Kerzen spiegelte sich in seiner Iris wider und für einen kurzen Moment hatte Lucinda das Gefühl, in das Tief seiner Augen einzutauchen. Diese Augen, die unverfroren auf sie gerichtet waren und auf einmal über ihren Körper zu wandern anfingen.
"Aber bitte, Lucinda, schleiche nicht nachts im Schlafgewand und mit offenem Haar durch das Haus." Während er sprach, streckte er die Finger nach ihren langen Locken aus und spielte mit ihren Haarspitzen, die im Dunkeln fast schwarz aussahen.
Lucindas Atmung ging flach. War der Wein beim Abendessen schuld oder die Stimmung in der nur spärlich beleuchteten Bibliothek? Sie konnte es sich nicht erklären, aber sie verspürte eine immense Lust, den Abstand zwischen ihr und Bailian zu verringern.
Er ließ seine Hand sinken, griff dabei aber nach ihrer. Immer noch hielt er sie mit seinem Blick gefangen. Lucinda schluckte einmal schwer.
"Wir sollten uns zurückziehen." Bailians Worte waren nur ein Flüstern, der raue Unterton seiner Stimme bescherte ihr jedoch eine Gänsehaut. Sie nickte, Bailian aber blieb noch stehen und betrachtete sie einfach. Goldene und dunkle Schatten flackerten über sein Gesicht und abermals musste Lucinda feststellen, wie gutaussehend ihr Ehemann doch war.
"Ich mache eben die Kerzen aus", murmelte sie und überreichte Bailian die Öllampe, darauf bedacht, ein wenig Abstand zwischen sie zu bringen. Sie ließ seine Hand los und drehte sich von ihm weg, spürte seinen Blick im Nacken, konzentrierte sich aber auf die wenigen Kerzen im Raum.
Nach verrichteter Arbeit drehte sie sich wieder zu Bailian um, der sie wartend betrachtete. Sein Blick machte sie nervös. Sie holte tief Luft und ging zu ihm. Er legte eine Hand in ihren Rücken, hielt die Lampe hoch und wies ihnen somit den Weg.
In Stille durchschritten sie das Haus und gingen wieder hinauf in den ersten Stock. Lucinda hatte die Arme vor der Brust verschränkt und versuchte Bailians Berührung zu ignorieren, in Gedanken bei der kommenden Nacht, die sie zusammen mit ihrem Mann in einem Bett verbringen würde. Ihr Puls raste.
Sie versuchte, tief zu atmen. Ewig würde sie die Tatsache, dass ihr Mann sie nachts aufsuchen würde sowieso nicht hinauszögern können, also musste sie sich beruhigen und einfach durchstehen.
Als Bailian ihr die Tür zu ihrem gemeinsamen Schlafzimmer öffnete und Lucinda den Vortritt ließ, spürte sie, wie sie am ganzen Körper leicht zitterte. Bailian stellte die Lampe ab und Lucinda wäre am liebsten eingehüllt in ihren langen Morgenmantel zu Bett gegangen, aber sie wusste, dass das nicht möglich war. Also zwang sie sich, den Knoten zu lösen und legte den Morgenrock sorgfältig über einen Stuhl, bevor sie ins Bett ging.
Bei jeder Handbewegung spürte sie Bailians Blicke auf sich. Als sie endlich im Bett lag, umgeben von zahlreichen Kissen, traute sie sich endlich, auch in seine Richtung zu blicken.
Er hatte bereits sein Jackett abgelegt und begann nun sein Hemd aufzuknöpfen. Konnte er nicht wenigstens erst das Licht löschen, bevor er sich komplett entkleidete? Beschämt wandte Lucinda den Blick ab.
"Bin ich ein derart scheußlicher Anblick?", stichelte Bailian leise, obwohl Lucinda sicher war, dass er genau wusste, dass dies nicht der Grund war. Deshalb entschied sie, ihm eine Antwort schuldig zu bleiben, woraufhin sie nur ein leises, kehliges Lachen vernahm. Sie hörte ein Kleidungsstück zu Boden fallen und wandte automatisch den Kopf, nur um zu sehen, dass Bailian dort mit nacktem Oberkörper und ohne Hose, nur in Unterwäsche dort stand.
Du lieber Gott!
Sie schnappte nach Luft und wandte sich augenblicklich wieder ab, was ihr nur erneut ein amüsiertes Lachen von Bailian eintrug.
Endlich löschte er das Licht und Lucinda entspannte sich ein klein wenig. Sie spürte, wie die Decke neben ihr zurückgeschlagen wurde, dann senkte sich die Matratze, als Bailian sich hinlegte.
Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit und sie konnte Bailians Umrisse erkennen. Er lag auf der Seite, seinen Kopf auf einen Arm gestützt und sah sie an.
Worauf wartete er? Musste sie irgendetwas tun?
Langsam rutschte Lucinda ein wenig nach unten, bis sie auf dem Rücken lag, die Finger auf ihrem Bauch ineinander verschlungen. Ihr Herz schien vor Aufregung einen Marathon zu laufen; es wollte sich einfach nicht beruhigen. Mit Sicherheit konnte Bailian das laute Klopfen in der Stille hören und amüsierte sich über ihre Angst und Unerfahrenheit.
Beinahe hätte sie nach Bailian geschlagen, als sein Arm sich über ihre Taille legte, aber sie konnte sich noch im letzten Moment zurückhalten und zuckte nur zusammen. Sie blieb still liegen, während Bailians Daumen durch das Nachthemd über ihre Seite strich. Noch immer starrte Lucinda geradeaus, sie konnte ihm einfach nicht in die Augen sehen, auch wenn das in der Dunkelheit sowieso relativ schwierig war.
Bailians Arm lag schwer auf ihrem Bauch, aber die gleichmäßigen Züge seines Daumens beruhigten sie fast ein wenig. Sie spürte, wie sie sich langsam entspannte, als würde sich die Anspannung in ihrem Körper durch die sanfte Berührung lösen.
Gerade als sie fragen wollte, ob sie etwas tun sollte, nahm Bailian eine ihrer Hände und führte sie zu seinem Mund, um ihr erst auf den Handrücken und dann auf die Innenseite ihres Handgelenks einen Kuss zu geben, der einen wohligen Schauer über Lucinda laufen ließ.
Dann legte er ihre Hand sanft wieder ab und bettete seinen Kopf selbst auf einem Kissen.
"Gute Nacht, Lucinda", murmelte er noch und kurz darauf wurden seine Atemzüge gleichmäßig.
Er war eingeschlafen. Er war tatsächlich eingeschlafen.
Eine Träne lief Lucinda über die Wange. War es Erleichterung? Oder Kummer darüber, dass er sie vielleicht nicht anziehend genug fand?
Vielleicht eine Mischung aus beidem.
Lucinda drehte sich auf die Seite, wandte Bailian den Rücken zu und war kurz darauf ebenfalls eingeschlafen.
Wer hätte auch gerne eine eigene Bibliothek im Haus? :D
Wie viele Bücher habt ihr denn schon gesammelt? ;)
Und was haltet ihr von Bailians Verhalten...?
Eure Eliza Hart <3
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