~20~
Als sie das Speisezimmer betrat, fühlte sich Lucinda, als wäre sie eine andere Person. Zuhause hatten sie sich niemals zum Abendessen umgekleidet und nun steckte sie in einer derart pompösen Abendgarderobe, die sie sonst höchstens zu einem Ball ausgewählt hätte. Mia hatte ihr jedoch versichert, dass das Kleid zu diesem Anlass absolut passend wäre und Lucinda hatte sich auf ihre Einschätzung verlassen.
Als sie den Raum betrat, erhob sich Bailian sofort von seinem Platz, um sie zu begrüßen.
"Eine exzellente Wahl", kommentierte er ihr Kleid mit einem raschen Blick und Lucinda freute sich schon über das Kompliment, als er nüchtern hinzufügte: "Mia scheint als Zofe gut gewählt zu sein", als würde er Lucinda nicht zutrauen, eine derartige Wahl selbst zu treffen und Geschmack zu beweisen.
Was Lucinda jedoch am meisten ärgerte, war, dass er mit dieser Einschätzung durchaus Recht behielt – sie hätte das Kleid ohne Mias gutes Zureden ja tatsächlich nicht ausgewählt, sondern zu einem schlichteren Kleid gegriffen, das Mia mit Entsetzen in den Augen als "Tageskleid" abgetan hatte.
Bailian selbst sah ebenfalls äußerst elegant aus. Er hatte einen Frack gewählt und zu gerne hätte Lucinda einmal ihre Finger über den Stoff fahren lassen. Das Kleidungsstück hatte bestimmt ein Vermögen gekostet.
Als sie zu ihrem Platz lief, löste sich ein Diener aus dem Schatten, der sich bisher dezent im Hintergrund gehalten hatte und schob ihr den Stuhl zurecht, während Bailian ihr Gegenüber Platz nahm.
Lucinda ließ ihren Blick durch den Raum schweifen und kam sich dabei noch kleiner und unbedeutender, ja beinahe verloren vor in all der Größe und Pracht.
Am Tisch wäre gut und gern Platz für zwölf Personen gewesen und Bailian und sie dinierten hier zu zweit. Was für eine Verschwendung!
Und wenn sie ehrlich war, dann empfand sie die Atmosphäre auch mehr als ungemütlich. Etwas unbehaglich rutschte Lucinda auf dem Stuhl hin und her.
Sie warf Bailian einen Blick zu und bemerkte, dass auch er die Situation als unbehaglich empfand. Womöglich war er es auch nicht gewohnt, im Speisesaal seine Mahlzeiten zu sich zu nehmen. Vielleicht hatte er immer in seinem Büro gespeist oder er ging mittags weg und traf sich mit Bekannten.
Wieder seufzte sie. Sie wusste nichts über Bailians Junggesellenleben und sie wusste auch nicht, was er jetzt von ihr erwartete.
Vielleicht war ihm auch einfach ihre Gesellschaft zuwider.
Verstohlen sah Lucinda sich um. Dezent im Hintergrund standen Bedienstete, die ihnen auf Geheiß des Butlers das Essen reichten und dann wieder am Rande ihres Blickfeldes verschwanden. Und trotzdem war Lucinda nur zu deutlich bewusst, dass sie keine Sekunde alleine waren und jedes Wort, das sie wechselten von aufmerksamen Ohren aufgefangen wurde.
Wie diskret waren die Bediensteten? Sicherlich wurde im Dienstbotenzimmer reichlich getratscht, da war Lucinda sich sicher. Trotzdem wagte sie den ersten Schritt, da ihr durch die Stille noch unbehaglicher zumute wurde.
"Wie lange wohnst du schon in diesem Haus?", fragte sie Bailian und nahm dann einen kleinen Bissen von der Vorspeise, die vorzüglich schmeckte.
Bailian schien aus seinen eigenen Gedanken hochzuschrecken und nur langsam fokussierte sich sein Blick auf Lucinda. Woran er wohl gerade gedacht hatte?
Sein Blick schweifte kurz durch den Raum, als würde er alles zum ersten Mal sehen, bevor er wieder Lucinda ansah.
"Vor etwa zwei Jahren hat mir mein Vater dieses Haus zur Verfügung gestellt, als er dachte, dass ich..." Bailian verstummte und nahm selbst einen Bissen.
"Dass du was?", wollte Lucinda wissen, aber Bailian schüttelte nur den Kopf und setzte eine unbewegliche Miene auf und abermals trat Stille zwischen den beiden ein, die Lucinda wütend machte. Da fasste sie sich ein Herz, versuchte eine Unterhaltung zu beginnen und er erstickte diese sogleich im Keim!
"Es fällt mir nicht gerade leicht unter den gegebenen Umständen ein Tischgespräch zu führen, Bailian", gab Lucinda nun offen zu und sah ihn fest an. "Es wäre schön, wenn du mir wenigstens ein klein wenig entgegen kommen könntest und die Konversation in irgend einer Form fortführen würdest, wenn du schon über dieses eine spezielle Thema – weshalb auch immer – nicht sprechen möchtest." Lucinda hatte sich Mühe gegeben, die Stimme leise zu halten, aber sie hatte das Gefühl, dass die Ohren der Diener dadurch auf die doppelte Größe angewachsen waren.
Dann sollten sie eben weitererzählen, dass sie nicht das glückliche Paar waren, das sie bei ihrer Ankunft gezeigt hatten!
Bailian sah sie überrascht an und Lucinda war umso verwunderter, als er sich räusperte, einen Schluck von seinem Wein nahm und ihr dann tatsächlich antwortete.
"Mein Vater dachte, er könne mich verheiraten. Tatsächlich war ich mit der Dame bereits verlobt", ließ er die Bombe platzen und Lucindas Herz setzte einen Schlag aus, während ihr Mund reichlich undamenhaft aufklappte.
Sie hatte die Gerüchte über die gebrochene Verlobung gehört und ihnen sogar Glauben geschenkt, aber ein kleiner Teil in ihrem Innern hatte gehofft, dass sie nicht der Wahrheit entsprachen, stellte sie fest. Und dass Bailian außerdem ehrlich war und tatsächlich versuchte, ihr Gespräch fortzusetzen, machte sie noch erstaunter.
"Jetzt schau nicht so betroffen", lächelte er sie an, als er ihren Blick bemerkt hatte. "Ich dachte, es würde dein Herz erfreuen, dass sich dein Bild von mir bestätigt."
Lucinda fand ihre Sprache wieder. "Mein Bild?"
"Dass ich ein verlogener und verruchter Teufelskerl bin?" Er sagte es ernst, seine Augen glitzerten jedoch verräterisch.
"Eine Verlobung zu lösen ist tatsächlich... ungewohnt."
Bailian lachte laut auf. "Ungewohnt? Ja, so kann man das natürlich auch sehen."
"Ich meinte eher unerhört", korrigierte Lucinda sich. Dann kam ihr ein Gedanke. "Wenn du schon eine Verlobung gebrochen hast, wieso dann nicht auch unsere?" Ihr Essen schien sie völlig vergessen zu haben und sie sah ihren Ehemann, den so viel Mystik umgab, unverfroren an. Bailian erwiderte ihren Blickkontakt und legte den Kopf leicht schief.
"Was veranlasst dich zu glauben, dass ich die Verlobung gelöst habe?"
Überrascht sah Lucinda Bailian an und spürte die Röte in ihre Wangen kriechen.
"Du hast natürlich sofort vermutet, dass der ungehobelte, verzogene Lord Schuld daran trägt." Bailian stieß ein bitteres Lachen aus und Lucinda wollte sich gerade schon für die anmaßende Behauptung entschuldigen, als Bailian weitersprach. "Aber ja, du hast Recht. Ich habe tatsächlich die Verlobung gelöst. Deine Meinung über mich ist also vollkommen korrekt und dein Weltbild wiederhergestellt." Bailians Stimme triefte vor Bitterkeit und Sarkasmus.
"Also weshalb hast du die Verlobung mit der Dame gelöst?", fragte Lucinda mit sanfter Stimme, versucht, die Situation nicht vollends eskalieren zu lassen, aber Bailian blockte ab.
"Das hat dich nicht zu interessieren", fertigte er sie lediglich ab und Lucinda musste sich mit aller Gewalt zurückhalten, um ihm nicht an den Kopf zu werfen, dass er ihr Bild von seinem Charakter nur mit jedem Wort, das er sprach weiter bestätigte, anstatt es zu widerlegen. Hatte sie sich getäuscht oder hatte die Bitterkeit in seinen Worten tatsächlich davon gezeugt, dass es Bailian nicht gänzlich egal war, was die Leute und Lucinda von ihm dachten? Und trotzdem tat er nichts dagegen, nein, versuchte es nicht einmal, seiner Frau zu zeigen, welcher Mann hinter der Maske des Lords steckte – sofern es tatsächlich eine Maske war und es sich nicht doch herausstellte, dass Lucinda tatsächlich diesen 'verlogenen, verruchten Teufelskerl' geheiratet hatte, wie Bailian sich zuvor selbst bezeichnet hatte.
"Und weshalb hast du unsere Verlobung nicht gelöst?", fragte sie dann in ebenso ruhigem Ton wie zuvor. "Diese Antwort wirst du mir wohl kaum verwehren können, da sie mich schließlich durchaus etwas angeht."
Stille senkte sich über den Essenstisch. Beide hatten ihr Besteck zur Seite gelegt und schon länger keinen Bissen mehr zu sich genommen. Lucinda war der Appetit für den Augenblick gehörig vergangen. Normalerweise hätten die Diener längst die Teller abgeräumt und den nächsten Gang serviert, aber im Raum herrschte eine derartige Spannung, dass sie sich höchstwahrscheinlich nicht ins Schussfeuer begeben wollten.
Bailian und Lucinda sahen sich mit festem Blick in die Augen, keiner von beiden bereit, auch nur einen Millimeter zurückzuweichen.
Langsam beugte sich Bailian ein klein wenig vor und Lucinda bemerkte erst jetzt, dass sie sich offenbar unterbewusst ebenfalls über den Tisch Bailian entgegengelehnt hatte. Sie waren sich so nah, dass Lucinda Bailians Atem auf ihrer Haut spüren konnte, dass sie seinen markanten Duft wahrnehmen konnte, der ihr kurz die Sinne benebelte.
"Weshalb hast du denn unsere Verlobung nicht gelöst?", stellte er nun die Gegenfrage, anstatt Lucindas Frage zu beantworten.
Diese schnaubte unfein, bevor sie sich eines Besseren besinnen konnte.
"Du weißt, dass dadurch nicht nur ich, sondern auch meine Familie ruiniert gewesen wäre. Insbesondere meine Schwestern hätten dadurch eine erhebliche Last auf der Suche nach einem geeigneten Ehemann mit sich getragen. So haben sie wenigstens die Chance auf ein erfülltes oder zumindest angenehmes Leben."
"Und das ist alles?" Bailians Blick rutschte für einen kurzen Moment zu Lucindas Lippen und sie widerstand dem Drang, eine Hand zu heben und sein Gesicht zu berühren, über seine markanten Wangenknochen und sein kantiges Kinn zu streichen und seine roten Lippen zu spüren. Wie konnte sein Äußeres sie so faszinieren, wo doch sein Inneres derart abstoßend auf sie wirkte?
"Und nach dem Dinner bei Lord McLocklyn und der Meinungen, die du dort vertreten hast, konnte mich mein Vater überzeugen, dass ich bei dir wenigstens die Möglichkeiten hätte, einigen meiner Interessen nachzugehen, die ich bei den meisten anderen Männern nicht gehabt hätte", erklärte Lucinda ehrlich und hoffte, dass auch Bailian ebenso ehrlich sein würde.
"Achso, mein gutes Aussehen spielte bei deiner Einwilligung in diese Ehe also keine Rolle?", neckte er sie jedoch und wieder spürte Lucinda, wie ihre Wangen ganz warm wurden. Wieso musste er sie immer wieder in Verlegenheit bringen? Weil es so einfach war?
Sie räusperte sich. "Wer sagt, dass ich dich gutaussehend finde?", fragte sie dann zurück, wie er es die ganze Zeit über schon gemacht hatte. Und dann griff sie wieder nach ihrem Besteck und aß weiter, um ihn nicht ansehen zu müssen. Sie spürte jedoch Bailians Blick auf sich und als sie doch noch den Kopf hob, sah sie direkt in seine vergnügten Augen, die sie dazu brachten, die Luft anzuhalten.
"Hm", war alles, was von ihm kam. Dann leerte er seinen Teller und machte ein Zeichen, dass die Bediensteten die Teller abräumen und den nächsten Gang servieren konnten. Bailian ergriff wieder das Wort: "Wie du sicherlich weißt, haben wir eine Schonfrist von zwei Wochen, bevor wir uns öffentlich in der Gesellschaft zeigen dürfen."
Lucinda nickte. Offiziell verbrachten sie nämlich ihre Flitterwochen in ihrem Zuhause und in der Zeit würden sie keine Einladungen annehmen noch Gäste empfangen.
"Ich würde vorschlagen, dass du die Zeit weise nutzt und dich mit dem Haus und dem Leben als Lady vertraut machst. Zwei Wochen reichen zwar allemal nicht, aber irgendwo müssen wir ja anfangen", fuhr er überheblich fort. Lucinda spürte wieder, wie ihre Wangen rot wurden, diesmal jedoch nicht vor Scham sondern vor Wut. Ihr war es wirklich zuwider, von ihm so herablassend behandelt zu werden.
Die Hauptspeise wurde serviert und Bailian wartete, bis sie am Tisch wieder alleine waren. "Es ist noch fragwürdig, wie die Gesellschaft unsere Ehe aufnehmen wird. Ich könnte mir vorstellen, dass einige Aristokraten sich von uns wenden werden, die Neureichen sich jedoch über eine Verbindung zwischen einem Lord und einem einfachen Mädchen vom Land freuen werden."
Einem einfachen Mädchen vom Land... Das war tatsächlich das Bild, das Bailian von ihr hatte. Seine Worte schmerzten sie, wusste sie jedoch, dass er Recht hatte. Blaues Blut durfte nicht vermischt werden, das war ein ungeschriebenes Gesetz. Obwohl in den letzten Jahren auch wohlhabende Geschäftsmänner und ihre Familien als angesehener Umgang betrachtet wurden – vor allem weil der Reichtum der Adligen rasant zurückging – gab es eine unsichtbare, aber nur zu deutlich spürbare Barrikade zwischen ihnen. Und Lucinda selber hatte nicht einmal ein Vermögen, das ihre Ehe rechtfertigen könnte. Umso weniger verstand sie, wieso Bailian sie geheiratet hatte.
"Die Gesellschaft wird sich über deine Herkunft die Mäuler zerreißen, dann brauchen wir ihnen nicht auch Grund zum Geläster angesichts deines Benehmens und deiner Bildung zu geben. Ich habe eine Privatlehrerin für dich organisiert, die deine Wissenslücken füllen und dir die adlige Etikette beibringen wird."
Lucinda hielt in ihrer Bewegung inne, während Bailian ungeniert weiteraß. Sie wusste, dass diese Einrichtung ihr zum Vorteil war, trotzdem fühlte sie sich nur bevormundet. Und sie ließ das Gefühl nicht los, dass Bailian nicht um ihretwillen diese Vorkehrungen traf, sondern einzig und allein um seinen eigenen Namen nicht zu beschmutzen.
"Danke", quälte sie nichtsdestotrotz heraus und erinnerte sich selber daran, dass wenn die Zeit reif war, sie ihn auf ihre Liebe zur Medizin ansprechen und darauf beharren würde, ihre Kenntnis auf dem Gebiet auszubauen. Das war mit diesem Arrangement schließlich ihr Ziel gewesen.
Wird Bailian ihr gestatten, dass sie sich weiter mit der Medizin beschäftigt?
So viel schöne Sonne - genießt noch euren Sonntag! <3
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