~19~

Etliche Stunden später kam die Kutsche ruckelnd zum Stehen. Lucinda taten alle Glieder weh. Die Kutsche war die letzten Stunden in einem ständigen Auf und Ab durch das Land gefahren und Lucinda hatte das Gefühl, nie wieder ohne Schmerzen sitzen zu können.

Mit Bailian hatte sie kaum ein Wort gewechselt. Zwischendurch hatte Lucinda sich über das Lunchpaket hergemacht, das die Köchin ihr zusammengestellt hatte und ihn gefragt, ob er auch etwas essen wolle. Bailians spöttische Antwort hatte lediglich darin bestanden, dass er ja immerhin bereits gefrühstückt hatte und nichts benötigte. Also waren sie wieder in Schweigen versunken und Lucinda hatte abwechselnd auf die Landschaft gestarrt und dann wieder einige Seiten in ihrem Buch gelesen.

Auf halbem Weg hatten sie bei einer Gaststätte Halt gemacht, um eine Kleinigkeit zu essen und die Pferde zu wechseln, aber auch dabei hatte das frisch getraute Ehepaar kaum miteinander geredet. Lucinda fühlte sich noch zu befangen, Bailian dagegen schien lediglich gleichgültig.

Je näher sie jedoch London gekommen waren, desto weniger hatte das Buch in ihren Händen Beachtung gefunden. Und nun... Nun stand sie schlussendlich vor ihrem neuen Zuhause und ließ sich von ihrem Mann aus der Kutsche helfen.

Während Bailian augenblicklich Befehle und Anweisungen erteilte, stand Lucinda nur völlig beeindruckt vor der Fassade des imposanten Gebäudes.

Dieser Prachtbau stellte alle Häuser, die sie jemals gesehen hatte, in den Schatten. Obwohl es ein Stadthaus war, besaß es eine eindrucksvolle Größe und es herrschte keinen Zweifel daran, dass hinter den Mauern angesehene und wichtige Menschen lebten. Auf den riesigen Stufen, die zum Eingang führten, standen die Bediensteten Spalier, um den Herrn des Hauses und seine Lady zu empfangen.

"Darf ich dir die Angestellten vorstellen?" Bailian wartete nicht einmal auf ihre Erwiderung, sondern zog sie mit sich.

Ein paar Minuten später schwirrte Lucinda bereits der Kopf von all den Namen. Da gab es den Butler Winston, den ersten Hausdiener Dean, den zweiten Hausdiener William, die Hausdame Ms. Davies, die Zimmermädchen Linda, Chloe, Belinda und Emily. Die Köchin und Küchenmädchen würde sie noch kennenlernen. Mia und Bailians Kammerdiener Charles waren bereits kurze Zeit vor ihnen eingetroffen und hatte ihre Ankunft angekündigt.

Lucinda sah ihren Ehemann noch ziemlich erstaunt darüber an, dass er die Namen von sämtlichen Angestellten kannte, als Winston einen Schritt nach vorne trat und sich knapp verbeugte.

"Mylady, die gesamte Dienerschaft ist erfreut, Sie kennenzulernen und wünscht Sie herzlich willkommen. Welche Wonne, endlich eine Herrin in diesem Hause begrüßen zu dürfen. Wir stehen zu Ihrer Verfügung."

Lucinda lächelte ihm freundlich zu, obwohl das Wort 'Herrin' ihr Herz höherschlagen ließ. "Vielen Dank, Winston." Sie warf den anderen Dienern noch einen Blick zu und versuchte, sich die Namen in Verbindung mit den Gesichtern zu merken. Die jungen Zimmermädchen beobachteten sie grinsend und schienen ganz verträumt. Falls sie erwarteten, dass Bailian seine große Liebe geheiratet hatte und dass im Hause nun wundervolle Harmonie herrschen würde, würden sie bitter enttäuscht werden.

Bailian hielt ihr den Arm hin. "Möchte die Hausherrin ihr Heim betreten?", fragte er sie schelmisch grinsend und Lucinda wusste nicht so recht, ob er sie oder den Butler damit ärgern wollte. Sie machte jedoch gute Miene zum bösen Spiel, hakte sich unter und schenkte ihm ein breites Lächeln.

"Aber natürlich, mein Liebster", sagte sie laut und freute sich über Bailians überraschten Blick, während die Zimmermädchen vergnügt quietschten. Gemeinsam schritten sie die Treppe hinauf und gingen durch die Eingangstür, die ihnen aufgehalten wurde und Lucinda sah sich in der imposanten Halle um. Die Einrichtung war so prunkvoll, wie es sich für einen Lord gehörte, strahlte jedoch wesentlich mehr Wärme aus als es bei dem Anwesen von Bailians Onkel, Lord McLocklyn, der Fall war.

"Winston, lassen Sie bitte ein leichtes Abendmahl auftragen", sagte Bailian an den Butler gerichtet, der nickte und sich sofort an die Arbeit machte.

Dann wandte er sich an Lucinda: "Ich zeige dir gleich einmal unser Schlafgemach, dann können wir noch eine Kleinigkeit zu uns nehmen und uns dann zurückziehen."

Bei seinen Worten sah Lucinda erschrocken zu ihm. 'Ihr' Schlafgemach?

Bailian schien sich über ihre Reaktion zu freuen. "Was hättest du denn gedacht?", flüsterte er ihr zu, als er sie sachte zur Treppe zog. "In meinem eigenen Heim werde ich mich ganz sicher nicht aus meinem Schlafzimmer vertreiben lassen!"

"Werde ich denn nicht mein eigenes haben?", fragte sie leise und sah ihn verunsichert an, während sie ihm die Stufen hoch folgte. Sie wusste, dass es in der adligen Gesellschaft üblich war, als Ehepaar getrennte Schlafzimmer zu beziehen. Sie hatte es für eine Selbstverständlichkeit angesehen und sich damit beruhigt, dass wenigstens die Abende und Nächte ihr alleine zustanden.

Bailian blieb neben ihr stehen und grinste sie an. "Ich lasse mich doch nicht zum Gespött der Stadt machen", meinte er gelassen. "Zu heiraten, aber getrennte Schlafzimmer zu haben... Das würde meinen Ruf doch nicht retten, sondern nur noch mehr ruinieren", raunte er ihr mit funkelnden Augen zu und ging weiter. Mit rotem Kopf sah sie ihm nach, raffte dann ihre Röcke und folgte ihm schnell in den ersten Stock. Er hielt ihr eine schwere Eichentür auf und machte eine knappe Verbeugung. "Nach Ihnen, Mylady", sagte er galant und neugierig betrat sie den großen Raum, während sie versuchte, seinen intensiven Blick nicht zu beachten. Diese entspannte Art und Weise, wie er seit ihrer Ankunft in London mit ihr umging, war ungewohnt und in gewisser Weise unglaubwürdig. Aber sie gefiel ihr besser, als die undurchdringbare Kälte, die er auch ausstrahlen konnte.

Das Zimmer war mit dunklen Vertäfelungen, einer dunkellila Tapete mit fliederfarbenem Muster und einem dunklen Teppichboden ausgestattet. Das helle Mobiliar jedoch schaffte einen Ausgleich, sodass der Raum nicht erdrückend wirkte. Lucinda gefiel die Einrichtung, obwohl der Prunk für sie gewöhnungsbedürftig war. Ihr Blick fiel auf den Frisiertisch, bei dem Bailian stand und sie mit seinen Augen verfolgte.

"Ich weiß nicht, ob es deinem Geschmack entspricht, aber ich habe dieses Möbelstück für dich anfertigen lassen."

Langsam lief sie auf das Möbelstück zu und ließ ehrfürchtig ihre Fingerspitzen über die filigranen Schnitzereien gleiten, die den Rahmen des Spiegels und die kleine Schublade zierten. Er musste den Tisch schnell nach ihrer Verlobung in Auftrag gegeben haben, sonst wäre es niemals möglich gewesen, ihn in nur zwei Wochen fertigzustellen.

"Er ist wunderschön!", hauchte sie und riss dann ihren Blick von dem Geschenk ihres Mannes los, um ihn anzulächeln. "Ich danke dir vielmals!"

Bailian erwiderte ihr Lächeln und betrachtete sie fast schon mit einem sanften Ausdruck, der jedoch schnell verschwand.

"Ich schicke Mia zu dir hoch, damit du dich ein wenig herrichten kannst, bevor wir zu Abend essen." Er nickte knapp, wie um seine eigenen Anweisungen zu bestätigen und verließ dann das Zimmer mit langen Schritten. Lucinda wartete einen Augenblick, dann ging sie zum Bett und ließ sich erschöpft darauf sinken. Die Schmerzen in ihrem Körper erwachten wieder zum Leben und die Last ihrer neuen Verantwortung als Hausherrin drückte ihre Schultern nach unten.

Sie war dieser Aufgabe nicht gewachsen, dachte sie mit Schrecken. Panik machte sich in ihr breit, floss durch ihre Adern und ballte sich dann in ihrem Magen zu einem steinernen Klumpen. Worauf hatte sie sich da nur eingelassen.

Falsch, sie selbst hatte sich auf gar nichts eingelassen.

Wehmütig dachte sie an ihr altes Zuhause, das einzige, das sie bisher gekannt hatte und stellte fest, dass sie Heimweh verspürte. Wie oft hatte sie sich über die Neckereien ihres Bruders aufgeregt, wie oft über das Getratsche und die naive Art ihrer Schwestern, wie oft über die Starrköpfigkeit ihrer Mutter, wenn es darum ging, Lucinda Freiheiten in Bezug auf ihre Interessen zu gewähren.

Und trotzdem – sie liebte sie alle, denn sie waren ihre Familie und würden immer ein Teil von ihr bleiben.

Blut blieb einfach stärker als Wasser.

Und wie sehr sie erst ihren Vater vermisste. Noch immer konnte sie ihm seine Entscheidung nicht vollends verübeln, da Lucinda wusste, dass er aus den besten Beweggründen heraus gehandelt hatte.

Oh, wie gerne würde sie ihn nun in den Arm nehmen, seinen leichten Duft nach Natur und Pfeifentabak in sich aufsaugen und sich von ihm trösten und Mut zusprechen lassen!

Aber ihr Vater war nicht hier, ebenso wenig wie der Rest der Familie und sie wusste auch nicht genau, wann sie einen von ihnen wiedersehen würde.

Lucinda presste entschlossen die Lippen aufeinander, sodass ihr Mund einen entschlossenen Zug annahm.

Dann würde sie eben lernen, wie so ein Haushalt zu führen war!

Gerade als sie aufstehen wollte, um zu sehen, wo Mia blieb, um ihr beim Umkleiden zur Hand zu gehen, klopfte es erst kurz an der Tür, bevor diese, ohne eine Reaktion ihrerseits abzuwarten, aufschwang und Mia ein wenig gehetzt eintrat.

"Entschuldigen Sie, Mylady. Ich habe mich mit einem der Dienstmädchen unterhalten und die Zeit übersehen, es wird nicht wieder vorkommen", erklärte Mia ihre leichte Verspätung und bekam rote Wangen.

"Das macht nichts, Mia, wir werden gemeinsam lernen, uns vollends in unseren neuen Aufgaben zurechtzufinden."

Lucinda lächelte und als sie in den Spiegel sah, während Mia mit geübten Griffen Schnüre an ihrem Rücken löste, spürte sie langsam ihr Selbstvertrauen zurückkehren.

Nun würde sie sich erst einmal dem ersten Abend in Gesellschaft ihres Mannes widmen und ab morgen würde sie sich in ihre neuen Pflichten stürzen und keiner Seele Anlass zur Klage geben!

Könntet ihr euch mit so einem Leben anfreunden?

Was wäre für euch die größte Herausforderung?

Bis nächste Woche! <3

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top