~16~
Als Lucinda bei der kleinen Dorfkapelle ankam und am Arm ihres Vaters die Kutsche verließ, die Bailian ihr zur Verfügung gestellt hatte, klopfte ihr Herz vor Aufregung so laut, dass sie sicher war, jeder im Umkreis von zehn Meilen müsse es hören können.
Alle Gäste hatten sich schon auf ihre Plätze begeben und warteten nur noch auf das Eintreffen der Braut, denn lediglich die Blumenmädchen erwarteten Lucinda und ihren Vater vor der Kapelle.
Lucindas Knie fühlten sich so weich an, dass sie Angst bekam, jeden Moment zusammenzubrechen, wenn sie auch nur einen weiteren Schritt tat. Sie klammerte sich an den Arm ihres Vaters und war froh um die Stütze, die er ihr auf dem Weg zum Altar geben würde.
Sie nahm die Gäste wahr, ohne sie jedoch wirklich zu sehen. Ihre Atmung ging flach, sie kam sich wie in einem Traum vor und würde ihr Vater sie nicht begleiten, hätte sie nicht gewusst, was sie jetzt zu tun hatte.
Ein letztes Mal sah Lucinda ihren Vater an, der ihr aufmunternd zulächelte, bevor sie im Takt der Musikbegleitung den Gang entlang schritten. Erst senkte sie den Blick, vermied es, ihren zukünftigen Ehemann anzusehen. Doch dann schluckte sie einmal, straffte die Schultern und hob den Kopf. Ihre Augen waren auf Bailian gerichtet, der sie betrachtete, jeden einzelnen Schritt aufmerksam verfolgte und ein Stich zuckte durch ihr Herz.
In den Augen ihres Bräutigams hatte sie andere Gefühlsregungen erhofft als diese Kälte, diese Gleichgültigkeit, vielleicht sogar einen Funken Zorn über die aussichtslose Lage für beide Seiten.
Wie hatte es nur so weit kommen können, dass sie nun hier stand, genau an diesem Punkt, ohne jeden Ausweg?
Kurz spielte sie mit dem Gedanken, sich einfach vom Arm ihres Vaters loszureißen, aus der Kapelle zu rennen, wieder in die Kutsche zu steigen und davon zu fahren.
Ihr Blick huschte wieder zu Bailian, der seinen Blick wiederum über Lucinda schweifen ließ und für einen winzigen Moment meinte Lucinda, einen sanften, wohlwollenden Zug um seinen Mund zu erkennen. Gefiel ihm ihre Erscheinung? Oder gefiel ihm lediglich seine Wahl ihres Kleides?
Dann blickte er ihr mit denselben ausdruckslosen Augen zurück ins Gesicht und alles war wieder dahin. Wie sollten sie diese unsichtbare Schlucht zwischen ihnen nur jemals überwinden? Wie ein halbwegs harmonisches Zusammenleben gestalten?
Viel zu schnell war Lucinda am Arm ihres Vaters vorne beim Altar angelangt und ihr Vater legte ihre Hand in die von Bailian, bevor er sich zurückzog und in der ersten Reihe neben ihrer Mutter Platz nahm, die sich bereits die ersten Tränen mit einem Tuch aus den Augenwinkeln tupfte.
Die Zeremonie vernahm Lucinda mehr wie in einem Rausch. Das Adrenalin pumpte so heftig durch ihre Adern, dass sie sich kaum konzentrieren konnte. Sie hoffte, an den richtigen Stellen Ja zu sagen und wollte diese Farce nur endlich hinter sich bringen, um den Augen der starrenden Gäste zu entkommen.
Konnte ihnen nicht jeder sofort vom Gesicht ablesen, wie zuwider ihnen diese Verbindung war?
"Sie dürfen die Braut nun küssen", riss plötzlich ein einziger Satz Lucinda aus ihren Gedanken und wo ihr Herz vorher viel zu schnell geschlagen hatte, setzte es nun einen Schlag aus. Erschrocken riss sie unwillkürlich die Augen auf und hoffte, dass keiner der Anwesenden bemerkte, wie durcheinander sie war.
Wie hatte sie nicht an den Kuss denken und sich mental darauf vorbereiten können? Aber nun blieb ihr keine Zeit mehr dafür, denn Bailian hob bereits vorsichtig ihren Schleier an, hielt ihren Blick fest und kam ihr langsam näher.
Stocksteif stand Lucinda vor Bailian und war sich sicher, dass er das Zittern in ihren Händen bemerken musste, die er noch immer sanft in seinen hielt.
Jeden Moment würden Bailians Lippen ihre treffen. Was musste sie eigentlich tun? Was passierte bei einem Kuss?
Bailians Gesicht war nun so nah, dass sie die Wärme und seinen Atem auf ihrer Haut spüren konnte.
Und dann spürte sie seine weichen Lippen auf ihrer Wange, nah genug an ihrem Mund, damit keiner der Anwesenden Verdacht schöpfen konnte, aber weit genug entfernt von ihren Lippen, um als richtiger Kuss zu gelten. Er hinterließ einen federleichten Kuss, bevor er sich wieder zurückzog.
Vor Freude wäre Lucinda beinahe in Tränen ausgebrochen. Sie wusste nicht, ob er aus Rücksichtnahme vor ihren Gefühlen so gehandelt hatte oder weil er sie selbst nicht küssen wollte, aber in diesem Moment waren ihr seine Beweggründe egal. Sie war nur froh, dass sie ihren ersten Kuss nicht hier und jetzt unter diesen Umständen über sich ergehen lassen musste und dass Bailian sie nicht vor allen gedemütigt hatte.
Aus einem Impuls heraus drückte sie seine Hand und schenkte ihm ein Lächeln, das er überraschenderweise erwiderte.
Und als sie sich zu den Gästen drehte, um am Arm ihres frisch angetrauten Ehemannes die Kapelle zu verlassen, war ihr Lächeln für diesen Augenblick sogar echt.
***
Kaum hatten Bailian und sie die geschlossene Kutsche erreicht, war der kurze Anflug von Freude jedoch wieder verschwunden.
Sie würden sich nun auf die Hochzeitsfeier begeben, die Lord McLocklyn auf Longwood Manor ausrichten ließ. Und bis dahin würde sie die, wenn auch kurze, Fahrt mit Bailian, ihrem Mann, allein in dieser Kutsche auf so engem Raum verbringen.
Bailian bot ihr seine Hand zur Stütze, um in die Kutsche zu steigen, die sie gerne annahm. Das Letzte, was sie heute gebrauchen konnte, war, mit ihrem blütenweißen Kleid zu stolpern und in den Dreck zu fallen.
Als sie seine Hand ergriff, zuckte sie aber unwillkürlich zusammen. Während ihre Hand eiskalt war, strahlte seine eine Hitze aus, die ihr eine wohlige Gänsehaut über den Rücken laufen ließ. Am liebsten hätte sie ihm ihre zweite Hand auch noch gereicht, damit er beide wärmen konnte.
Bailian stieg hinter ihr in die Kutsche und der Kutscher schloss den Verschlag, bevor er sich auf den Kutschbock setzte und die Pferde antrieb.
Stille senkte sich über das Ehepaar und Lucinda stiegen unwillkürlich die Tränen in die Augen, die sie krampfhaft wegblinzelte. Würde es von nun an immer so sein? Eisige Stille zwischen ihnen?
Aber da räusperte sich Bailian und ihr Blick wanderte unwillkürlich zu ihm.
"Das Kleid steht dir wirklich ausgesprochen gut", sagte er und überraschte Lucinda mit diesem Kompliment.
"Vielen Dank", erwiderte sie und abermals stahl sich ein kleines, hoffnungsvolles Lächeln in ihr Gesicht.
"Aber es wäre von Vorteil, wenn du wenigstens auf der Feier nicht so dreinschauen würdest, als wäre dies deine Beerdigung", fügte er dann tadelnd und herablassend hinzu und Lucinda wollte schon zu einer empörten Erwiderung ansetzen, als er sich zu ihr vorbeugte und weitersprach. "Wenn du lächelst, dann siehst du gar nicht so grau und unattraktiv aus", sagte er und langsam hob sich seine Hand zu ihrem Gesicht. Wie erstarrt blieb Lucinda sitzen, nicht wissend, ob sie dies nun als ein weiteres Kompliment oder eher als Beleidigung auffassen sollte, ob sie zurückweichen oder sich ihm entgegenlehnen sollte.
Sie wusste nicht, was sie erwartete, als er mit seinen Fingerspitzen ganz zart über ihre Wange strich. Er verfolgte die Spur, die er zog, mit konzentriertem Blick, während Lucindas Herz heftig pochte. Seine Finger strichen wie ein Hauch ihren Hals hinab, hinterließen eine Gänsehaut, bevor er seine Hand abrupt zurückzog und sich wieder aufrecht hinsetzte. Er warf noch einen letzten zufriedenen Blick auf die Ohrringe, die er ihr geschenkt hatte, dann wandte er sich ab.
Wie benommen saß Lucinda ihm gegenüber, völlig verwirrt darüber, was soeben geschehen war und atmete tief aus. Erst jetzt hatte sie bemerkt, dass sie unwillkürlich den Atem angehalten hatte.
Sie wollte etwas sagen, sie wusste nur nicht, was. Aber Bailian beachtete sie schon gar nicht mehr, hatte den Blick abgewandt und sah zum Fenster hinaus, als die Kutsche auch schon stehen blieb und der Moment vorüber war.
Der Kutscher öffnete die Tür, trat zur Seite, um Bailian aussteigen zu lassen, der mit einem federleichten Sprung die Kutsche verließ. Als er sich zu Lucinda umdrehte, zierte wieder das unergründliche Lächeln sein Gesicht, das er schon den ganzen Tag trug und das für Außenstehende wahrscheinlich wie das freudige Lächeln eines glücklichen Bräutigams wirkte. Er reichte ihr wieder die Hand, wartete darauf, dass sie diese ergriff.
Lucinda schoss der Gedanke durch den Kopf, dass er sich wahrscheinlich nie wieder so um sie kümmern würde, wie er es am heutigen Tage tat.
Dann atmete sie noch einmal tief ein, schloss für einen Moment die Augen, um sich wieder zu sammeln, bevor sie ebenfalls ein aufgesetztes Lächeln auf ihren Lippen platzierte und die Hand ihres Mannes ergriff, um die Kutsche zu verlassen und ihre Hochzeitsfeier zu betreten.
Boom, sie sind verheiratet xD
Ist bei euch auch endlich der Sommer angekommen? :D
Bis bald
Eure Eliza Hart <3
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