~15~
Lucinda saß in aufrechter Haltung auf dem Bett in ihrem Zimmer in ihrem Morgenrock und sah sich um. Ihre wenigen Habseligkeiten und Kleider waren schon längst in Kisten gepackt und nach London in ihr neues Zuhause geschickt worden und somit trat ihr Zimmer merkwürdig leer und kalt hervor. Der Raum, in dem sie tausende Nächte geschlafen hatte, zu tausenden Morgen erwacht war, tausende Gedanken und Wünsche gehabt hatte, war bald nichts weiter als eine Erinnerung.
Sie fröstelte, verschränkte die Arme vor der Brust und ging zum Fenster, sah hinunter auf den Trubel im Hof, die energischen Dienstboten, die in aller Eile die restlichen Vorbereitungen für den großen Tag trafen.
Ihre Hochzeit.
Die letzten zwei Wochen hatte Lucinda rückblickend wie in Trance erlebt. Ihre Verlobung mit Lord Bailian White war in der Londoner Gazette und der lokalen Zeitung bekanntgegeben worden und wie ein Lauffeuer hatte die Neuigkeit sich verbreitet. Lucinda hatte unzählige Verlobungsgeschenke und Glückwünsche erhalten, genauso wie neugierige und neidische Blicke von anderen jungen, unverheirateten Damen.
Dass sie, die einfache Tochter eines Arztes, mit einer verhältnismäßig geringen Mitgift, einen Lord heiraten würde, war nicht nur für sie selbst unverständlich. Die McLocklyns und Bailian selbst jedoch schienen in der Umgebung so beliebt wie nie zuvor und auch ihren eigenen Schwestern war überraschend mehr Aufmerksamkeit zuteil geworden.
Lucinda schien als einzige zu durchschauen, dass dieses plötzliche Interesse ihrer Bekannten alleine daraus folgte, aus Lucindas neuem Stand einen Vorteil zu ziehen. Diese Sachlage war aber auch ihre einzige Motivation, die Heirat durchzuziehen. Sie wusste, dass es ihre Familie freuen würde und dass ihre Schwestern möglicherweise ein besseres Leben in Aussicht gestellt bekamen. Außerdem könnte sie es nie verantworten, ein Versprechen, das ihr Vater gegeben hatte, zu brechen.
Ihr Blick fiel auf ihr Hochzeitskleid, das an ihrer Schranktür hing und ein nervöses Kribbeln breitete sich in ihrem Bauch aus. In nur wenigen Stunden wäre sie nicht mehr Lucinda Rose Thornton, sondern Lady Bailian White. Der Gedanke ließ sie erschauern.
Sie hatte ihren zukünftigen Gatten seit ihrem Treffen bei der Schneiderin vor eineinhalb Wochen nicht mehr gesehen und alleine bei der Vorstellung, dass sie bei ihrem nächsten Treffen heiraten würden, fiel ihr das Atmen schwer. Sie hätte sich gewünscht, vielleicht nur zwei Minuten vorher mit ihm zu reden. Obwohl sie nicht mit Sicherheit wusste, was sie davon hätte erwarten können.
Ein Klopfen war an der Tür zu hören und bevor Lucinda sich ihr zugewandt hatte, trat Mia mit einem verheißungsvollen Lächeln ein. Mia war als Dienstmädchen in Bailians Zuhause in London angestellt und er hatte sie extra aufs Land geholt, damit Lucinda ihr neues Kammermädchen schon vor der Hochzeit kennenlernen konnte. Sie war Lucinda auf Anhieb sympathisch gewesen und sie freute sich, dass sie wenigstens eine Person kennen würde, wenn sie ihr neues Leben antrat.
"Ms Lucinda", grüßte Mia mit einem kleinen Knicks. "Jetzt ist es gleich soweit. Wie fühlen Sie sich?" Während sie sprach, geleitete sie ihre Herrin sanft zum Frisiertisch und platzierte sie vor dem Spiegel.
"Ich bin... aufgeregt", antwortete Lucinda ehrlich und schenkte dem jungen Mädchen hinter ihr ein Lächeln. Mia hatte ihr schon vorher die Haare hochgesteckt und jetzt kontrollierte sie, ob die Nadeln noch so saßen wie gewünscht.
"Wer wäre das nicht!" Mia holte eine Puderdose hervor und gab noch ein wenig Rouge auf Lucindas Wangen, die vor Aufregung ihrer Meinung nach schon rosig genug waren. "Aber Sie können ganz ruhig sein, Miss, Sie brauchen sich vor nichts zu fürchten. Lord White wird sich gut um Sie kümmern." Mia sagte es mit so viel Wärme und Zuversicht, dass Lucinda ihr tatsächlich für den Bruchteil einer Sekunde glaubte.
"Mia..." Sie zögerte. "Wie ist Lord White so? Also in London, wenn er zu Hause ist." Sie wusste, dass ihre Frage merkwürdig erschien. Sollte sie ihren Mann eigentlich nicht besser kennen, als dass sie sein Dienstmädchen über ihn auszufragen brauchte?
"Oh, Ms Lucinda, er ist ein guter Herr", antwortete sie loyal. "Er ist streng, aber er behandelt uns alle gut. Und deswegen weiß ich, dass er auch Sie gut behandeln wird." Sie tätschelte Lucinda die Schulter und schien mit ihrer tröstenden Art viel älter als achtzehn. Allein, dass sie zu verstehen schien, wie aufgewühlt Lucinda momentan war, zeugte von einer großen Reife.
Dann grinste Mia verschwörerisch und zog ein kleines Kästchen aus ihrer Rocktasche. „Lord White gab mir dies und trug mir auf, es Ihnen jetzt zu überreichen. Wenn Sie fertig hergerichtet wären, aber noch nicht das Kleid angezogen haben."
Lucinda nahm verwundert das kleine Kästchen, das sich als Schmuckschatulle herausstellte, entgegen und öffnete es. Ein kleines Kärtchen lag obenauf, sie entfaltete es und las die schnörkelige, aber wunderschöne Schrift.
Für meine Braut
Eine Gänsehaut breitete sich auf ihrem Körper aus und einige Sekunden lang sah sie die Wörter vor ihr nur verschwommen. Sie war seine Braut, das war eine Tatsache, die Worte brauchten sie also nicht so aufzuregen. Trotzdem beschworen sie tausend Gefühle in ihrem Innern hervor.
Sie legte das Kärtchen zur Seite, spürte, wie aufgeregt Mia neben ihr darauf wartete, dass sie sich das Geschenk ansah, und ließ den Blick sinken. In schwarzen Samt eingebettet, lagen im Kästchen zwei wunderschöne Ohrringe aus Silber, an denen ein kleiner Diamant und darunter rosafarbene Perlen hingen. Die Ohrringe waren elegant und zweifellos wertvoll, aber keineswegs protzig.
"Du meine Güte", murmelte sie bewegt und starrte den Schmuck an, unfähig sich zu bewegen. Wieso diese Geste? Wollte Bailian ihr damit tatsächlich eine Freude bereiten? Oder hatte er erahnen können, dass sie selbst keinen Schmuck besaß, der zu ihrem Hochzeitskleid passte?
Ein weiterer Gedanke traf sie. Vielleicht hatte Bailian sich früher einmal vorgestellt, wie er einmal seine Braut behandeln würde. Seine Braut, die er sicherlich gerne selbst ausgesucht hätte. Seine Braut, die er womöglich lieben würde. Wie er ihr am Morgen der Hochzeit Geschenke zukommen lassen würde, die ihr versicherten, dass er sie für immer lieben und ehren würde.
Stattdessen aber war sie es jetzt, die seine Geschenke entgegennahm, als wäre seine Zuneigung echt und selbstlos. Sie fühlte sich schlecht, als würde sie ihn nur ausnutzen, obwohl sie diese Heirat nie gewollt hatte.
Aber auch für Bailian war dieser Tag sicherlich nicht so, wie er ihn sich vorgestellt hatte, und dieser Gedanke betrübte sie.
"Sie werden damit wunderschön aussehen", sagte Mia fast schon ehrfurchtsvoll und mit einem fragenden Blick nahm sie das Kästchen aus Lucindas Hand und hängte ihr die Ohrringe an die Läppchen. Die zarte Farbe der Perlen stach gut hervor und passte wunderbar zu ihrem kastanienbraunen Haar.
"Es ist alles so unwirklich", flüsterte Lucinda und betrachtete eine Frau im Spiegel, die sich selbst nicht zu kennen schien.
"Kommen Sie, Miss, es wird Zeit." Mia lächelte, zog ihr langsam den Morgenrock vom Körper und holte ihr seidenes Unterkleid und das Korsett. Heute gab es hinsichtlich des Korsetts nichts zu diskutieren, es musste so eng wie möglich geschnürt werden, damit das Hochzeitskleid passte.
Mia verrichtete ihre Arbeit gekonnt und professionell und hatte in geringer Zeit dafür gesorgt, dass Unterkleid, Korsett, Strümpfe und Schuhe perfekt saßen, bevor Lucinda in ihr Hochzeitskleid stieg. Es schmiegte sich wie angegossen an ihren Körper und während Mia sich am Verschluss des Kleides zu schaffen machte, betrachtete Lucinda die wunderschönen Details in der Verarbeitung. Mrs Davies hatte ein wahres Meisterwerk erschaffen und sie traute sich kaum, daran zu denken, was Bailian dafür gezahlt hatte. Denn sie wusste mit Sicherheit, dass ihr Vater es sich nicht hätte leisten können.
"Lord White wird hiermit heute Nacht einer Herausforderung gegenüberstehen", kicherte Mia hinter ihr, als sie dabei war, die unzähligen kleinen Knöpfe mit den dafür vorgesehenen Schlaufen zu verbinden, um den Rücken zu schließen. Lucinda riss bei dem Kommentar erschrocken die Augen auf.
Bailian würde doch nicht...? Erwartete er etwa...?
Ihr Herz sprang ihr beinahe aus der Brust, als sie an ihre bevorstehende Hochzeitsnacht dachte. Sie wusste aus den Lehrbüchern ihres Vaters in etwa, wie es funktionierte. Nie im Leben würde sie Bailian gestatten, sie auf diese Weise anzufassen!
Aber rechnete er damit?
Panisch begann sie, an den Stickereien ihres Dekolletés zu fummeln. Er mochte sie doch gar nicht und sie verabscheute ihn. Er würde es doch bestimmt selbst nicht wollen!
Oder erwartete er einfach, dass sie ihre Pflicht tat?
Für einen kurzen Moment überlegte sie, ihre Mutter holen zu lassen, um bei ihr einen Rat zu erbitten. Aber sie wusste sofort, dass sie zu prüde war, um ihr irgendwelche Fragen zu beantworten. Als bei Lucinda mit dreizehn die monatliche Blutung eingesetzt hatte, hatte ihre Mutter ihr nur eine knappe Erklärung und einige Leinentücher gegeben, ohne ihr dabei in die Augen sehen zu können. Lucinda hatte erst später in einem der verbotenen Bücher ihres Vaters ihre ängstlichen Fragen geklärt bekommen.
Nein, sie konnte unmöglich mit ihrer Mutter darüber sprechen. Sie musste diese Nacht wohl oder übel auf sich zukommen lassen und versuchen, Bailian, wenn nötig, davon zu überzeugen, dass dies nicht notwendig wäre.
"So, Miss, Sie sind jetzt fast fertig", erklärte Mia und trat einen Schritt zurück, in den Händen noch den Schleier haltend. Als Lucinda sich zu ihrer Kammerzofe umdrehte, versuchte sie das Zittern zu verbergen, das ihrer Angst vor dieser Ehe und den damit verbundenen Pflichten entsprang.
Sie musste und sie würde diesen Herausforderungen gewachsen sein!
Lucinda versuchte neuen Mut zu schöpfen, als sie sich wieder dem Spiegel zuwandte und sich selbst darin gänzlich verändert vorfand. Ihr Spiegelbild wirkte älter, erfahrener, selbstsicherer und... wie eine richtige Braut.
Der Gedanke, dass Mia wirklich wundervolle Arbeit geleistet hatte und Lucinda sich tatsächlich schön fühlte, zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen, als sie sich wieder umdrehte, damit Mia den Schleier feststecken und drapieren konnte.
"Danke, Mia", bedankte Lucinda sich bei dem Mädchen mit den züchtig ineinander verschränkten Händen, das ihr wie ein wohlwollender Schatten folgte, als sie zum letzten Mal ihr altes Zimmer verließ, um ihre neue Zukunft zu beginnen.
Jetzt startet Lucinda bald ihr neues Leben - was wird sie erwarten?
Wir wünschen euch einen lesereichen Sonntag <3
Eure Eliza Hart
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