~14~

Als Lucinda über zwei Stunden später wieder zuhause eintraf, schwirrte ihr der Kopf mit lauter Schnittmustern und Stoffen. Ihr war schwindlig geworden bei all den Kleidern, die Bailian für sie in Auftrag gegeben hatte. Und natürlich hatte sie kaum ein Mitspracherecht gehabt. Wobei Bailian wie beim Hochzeitskleid auch bei den anderen Kleidern einen treffsicheren Geschmack zeigte, dem Lucinda nichts entgegenzusetzen hatte.

Lucinda war nie ein Mädchen gewesen, das sich übermäßig für ihre Garderobe und ihr Aussehen interessiert hatte, aber ein klein wenig freute sie sich schon auf die Pracht, die bald ihren Kleiderschrank einnehmen würde.

Erschöpft von dem turbulenten Vormittag legte Lucinda ihren Umhang ordentlich in ihrem Zimmer ab und hörte dann ein ziemlich undamenhaftes Knurren ihres Magens. Kein Wunder, nach Bailians Nachricht war sie so aufgebracht aus dem Haus gestürmt, dass sie darüber sogar das Frühstück vergessen hatte und nun meldete sich ihr Magen.

Sie lief nach unten in die Küche, um zu sehen, ob sie noch etwas vom Mittagessen stibitzen konnte.

"Da macht sie erst so ein Aufhebens um das unmögliche Verhalten von Lord White und dann heiratet sie ihn plötzlich!", hörte sie Carolines Stimme.

"Sie wird all die Annehmlichkeiten überhaupt nicht zu schätzen wissen", klagte auch Kate. "Eine von uns hätte ihn sich schnappen sollen."

Lucinda blieb stehen und lauschte, ob sie noch mehr hören würde. Ihre Schwestern konnten manchmal einfach unmöglich sein.

"Lucinda weiß doch gar nicht, was sie mit all dem Geld machen soll. Mir würden da einige wundervolle Dinge einfallen. Ich würde mir die schönsten Kleider kaufen, die aufwendigsten Mahlzeiten zubereiten lassen und die prachtvollsten Soiréen geben."

Jetzt reichte es Lucinda mit diesem hohlen Gerede und sie trat durch die Küchentür.

"Es freut mich zu hören, dass du für derart sinnvolle Dinge das Vermögen deines Mannes ausgeben würdest", spottete Lucinda und freute sich darüber, dass sie ihre Schwestern ganz offensichtlich mit ihrem unerwarteten Auftauchen erschreckt hatte.

Sie ging zum Herd, auf dem ein Topf Suppe stand, schöpfte sich einen Teller voll und brach sich ein Stück Brot dazu ab. Sie setzte sich, nahm einen Bissen, um ihren immer heftiger protestierenden Magen zu beruhigen und sah dann ihre beiden Schwestern an, die noch immer betreten schwiegen. Naiv wie sie waren, hatten sie wirklich nicht eingesehen, dass Lucinda diese Ehe selber nicht gewählt hatte.

"Ich danke euch, dass ihr mir diese vorteilhafte Heirat von Herzen gönnt", sprach sie dann mit Ironie in der Stimme weiter. Lucinda verschwieg geflissentlich, dass sie Bailian White sofort mit Freuden einer ihrer Schwestern abgetreten hätte, wäre es in ihrer Macht gestanden. "Ist euch eigentlich bewusst, dass ihr beide durch diese Heirat ebenfalls Vorteile habt? Ich kann euch in Kreise einführen und Gentlemen vorstellen, von denen ihr bisher nur geträumt habt. Ihr werdet eine viel bessere Partie machen können, als ihr im Moment in Aussicht hättet. Wollt ihr mir dafür nicht eher danken?"

Ihre beiden Schwestern blieben noch immer betreten stumm.

Ohne ein weiteres Wort aß Lucinda ihre Mahlzeit auf, stellte den Teller zum Abwasch und verließ die Küche. Sie hatte noch nie ein sonderlich gutes Verhältnis zu ihren Schwestern gehabt. Kate und Caroline hatten schon immer eine eigene Einheit gebildet, ein eigenes kleines Universum, in dem sonst kaum jemand Platz fand. Aber dass die beiden sich hinter Lucindas Rücken so sehr über sie ausließen, kränkte sie dennoch.

Als hätte sie nicht schon genug Sorgen.

Mit jedem Tag, den ihre Vermählung näher rückte, wuchs die Angst in Lucinda und drohte sie zu überwältigen.

Was würde sie in dieser Ehe erwarten?

Schnell verdrängte sie den Gedanken, da er begann, ihr die Luft abzuschnüren. Sie warf sich einen Umhang über und stürmte dann zum zweiten Mal an diesem Tag aus dem Haus, dieses Mal jedoch nicht in Richtung der Stadt, sondern in die Richtung ihrer Freundin Marie.

Lucinda ließ sich keine Zeit, schlenderte nicht wie sonst den malerischen Feldweg entlang oder genoss den wunderbaren Blick. Sie pflückte nicht einmal ein paar Wiesenblumen für Marie, wie sie es sonst manchmal tat, sondern hastete mit starr nach vorne gerichtetem Blick, bis sie vor der Haustür der Browns stand.

Völlig außer Atem klopfte – oder eher hämmerte – sie an die Tür, bis sie plötzlich eine Stimme hinter sich hörte und erschrocken herumfuhr.

Hinter ihr stand Marie und sah sie besorgt an.

"Mein Gott, Lucinda! Was ist denn los? Komm erst einmal rein." Marie nahm sie sanft am Arm und zog sie mit sich ins Haus, hoch in die Kammer, die Marie alleine bewohnte, da sie keine Geschwister hatte.

"Setz dich und dann erzähl mir, was passiert ist", sagte sie und wischte Lucinda eine Träne von der Wange. Erst jetzt merkte Lucinda, dass sie wohl die ganze Zeit stumm geweint hatte, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie musste fürchterlich aussehen!

"Ich will Lord White nicht heiraten", platzte es aus ihr heraus und Marie sah sie mit großen Augen an.

"Lucinda! Deine Hochzeit ist in weniger als zwei Wochen, du bist gerade erst versprochen worden. Du kannst doch die Verlobung nicht jetzt schon wieder lösen und schon gar nicht, nachdem die Hochzeit schon so bald stattfinden soll! Wie stellst du dir das vor?" Marie nahm Lucindas Hand in ihre und sah ihre Freundin fragend an. Sie selbst konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie so kurzfristig, dass sie überhaupt die Hochzeit mit Richard absagen wollen würde.

"Ich kenne ihn doch gar nicht! Und das, was ich von ihm weiß, gereicht ihm keineswegs zum Vorteil. Immerhin ist er gesellschaftlich wohl so tief gesunken, dass sogar eine Heirat mit mir nicht nachteilig erscheint! Das kann doch nur bedeuten, dass er ein schlechter Mensch ist!" Lucinda stockte kurz, redete aber weiter, als sie sah, dass Marie etwas einwerfen wollte.

"Nein, warte. Marie, du weißt, dass ich nie davon geträumt, mir nie erhofft habe, einmal aus Liebe zu heiraten. Aber ich hatte immer gehofft, dass mir mein zukünftiger Gemahl wenigstens Respekt und Hochachtung entgegenbringen würde. Dass er es schätzen würde, dass ich mich nicht nur für die neueste Mode aus London oder Tratsch interessiere. Aber Lord White... Marie, wie soll ich mit ihm eine Ehe führen?"

"Jetzt beruhige dich erst einmal. Lucinda, ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Ehe so katastrophal wird, wie du sie dir vorstellst. Du bekommst es gerade mit der Angst zu tun, so kurz vor der Hochzeit, das kann ich verstehen. Aber Lord White ist mit Sicherheit nicht der Teufel, den du dir vorstellst. Glaubst du nicht eher, dass du jemanden wie ihn brauchst, jemanden, der dir die Stirn bietet, der dich herausfordert? Anders würdest du dich doch nur langweilen", versuchte Marie Lucinda aufzumuntern. "Außerdem..." Marie schien bedrückt. "Du hast keine Wahl."

Lucinda spürte wieder die Panik, die bis in ihre Haarspitzen kroch. Marie hatte Recht.

Ob sie Lord White heiraten wollte oder nicht, spielte keine Rolle.

Ihre Zukunft war besiegelt. Eine Ehe mit Lord White war unumgänglich, ihr Vater hatte Lord McLocklyn sein Wort gegeben.

"So schwer es auch erscheint, du musst versuchen, das Beste daraus zu machen." Marie streichelte ihren Rücken mit sanften und beruhigenden Bewegungen.

Lucinda wusste, dass ihre treue Freundin recht hatte.

Doch wie um Himmels willen konnte sie aus ihrer schrecklichen Lage auch nur etwas Gutes ziehen?

"Ich werde dich so fürchterlich vermissen", jammerte sie und legte auch einen Arm um Marie. "Wie soll ich es nur ohne deine Stütze aushalten?"

"Aber, aber!", versuchte Marie sie zu trösten. "Wir werden uns jede Woche Briefe schreiben. Und ich werde dich besuchen kommen, sobald es als passend erscheint. Meine eigene Hochzeit findet ja erst nächsten Sommer statt. Bis dahin habe ich genug Zeit, um dir in dem riesigen Haus in London Gesellschaft zu leisten. Und wer weiß, vielleicht werdet ihr die Sommer hier auf dem Land verbringen."

"Ich werde mich ganz alleine um ein riesiges Haus kümmern müssen...", murmelte Lucinda, da die Erkenntnis sie erst jetzt traf.

"Alleine sicherlich nicht", lachte ihre Freundin. "Du wirst Dienstboten und Lakaien im Überfluss haben, Köche und Diener, Kammerzofen und Kutscher und eine Haushälterin und einen Butler, die für den reibungslosen Ablauf des Haushalts verantwortlich sind. Du musst eigentlich nur ab und an Befehle erteilen."

Lucinda legte ihr Gesicht in ihre Hände. "Ich werde mich doch blamieren! Ich habe keinerlei Erfahrung im Umgang mit so vielen Dienstboten."

"Du wirst es lernen, genauso wie du alles andere in Windeseile lernst!" Zuversichtlich drückte Marie Lucindas Hand und schaffte es, wenigstens ein winzig kleines Lächeln in das Gesicht ihrer Freundin zu zaubern.

"Und jetzt genug der Trübsal! Weißt du denn schon, wie du deine Haare auf der Hochzeit tragen möchtest?" Maries Augen leuchteten und Lucinda musste schmunzeln. Auf ihre Freundin war einfach Verlass. 

Solche Schwestern hat man gerne, was? :(

Genießt die Sonnenstrahlen <3

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