~1~
Bei 10K Reads konnten wir es einfach nicht mehr abwarten und dachten uns, wir überraschen euch pünktlich zum Start ins Wochenende mit einem Überraschungskapitel :D
Es war ein regnerischer Tag.
Lucinda saß nach getaner Hausarbeit auf einem Fensterbrett, ein Buch aufgeschlagen auf ihrem Schoß, in dem sie aber nicht las, sondern ihre Gedanken schweifen ließ, während sie aus dem Fenster in das düstere Grau blickte und dem Regen dabei zusah, wie er unaufhaltsam auf die grüne Hügellandschaft prasselte.
Schon die letzten Tage waren verregnet gewesen und ihr fehlten die Spaziergänge, die immer eine willkommene Abwechslung vom eintönigen Alltag daheim waren.
Lucinda zog sich ihren Schal noch ein wenig enger um die Schultern, da die Kühle des Fensters auf ihren Körper strahlte. Aber trotzdem wollte sie ihren Platz nicht aufgeben, würden sie in den anderen Zimmern doch nur wieder ihre zwei Schwestern und ihr Bruder erwarten, die mit ihrer Lebhaftigkeit in einem so sonderbaren Kontrast zu ihrer eigenen Introvertiertheit standen. Lucindas Mutter würde ihr zum wiederholten Male sagen, dass sie die Träumereien sein lassen sollte.
Nur ihr Vater würde amüsiert in seiner Ecke sitzen, vorgebend ein Buch zu lesen, aber gleichzeitig belustigt ihren Gesprächen lauschend.
Ihr Blick schweifte über die Bäume, die sich dem Wind beugten, hin und her geschleudert wurden, als würden sie nicht mehr als eine Feder wiegen. Und dort am Waldrand... Sah sie dort nicht einen Reiter oder spielten ihre Augen ihr einen Streich?
Gespannt richtete sie sich auf und versuchte, den noch recht kleinen schwarzen Punkt in der Ferne auszumachen.
Doch, es musste ein Reiter sein. Was hatte er bei diesem Wetter mitten im Wald verloren?
Er ritt auf den Hügel zu und machte sich nicht die Mühe, sein Tempo zu drosseln. War er denn lebensmüde? Auf diesem schlammigen Untergrund konnte das Pferd kaum einen sicheren Halt haben!
In waghalsigem Galopp ritt er den Hügel hinab und gerade als Lucinda aufatmen wollte, da sie dachte, er hätte die Hürde überwunden, geriet das Pferd ins Schlingern, die Hufe rutschten auf dem unebenen, nachgiebigen Boden aus und es fiel, ebenso wie sein Reiter, der reglos am Boden liegen blieb, während sich das Pferd gleich wieder aufrappelte, kurz nervös auf der Stelle tänzelte und dann wieder in die Richtung davon jagte, aus der es gekommen war.
Völlig schockiert starrte Lucinda auf die Stelle, an der die Person auf dem schlammigen Boden lag. Die Wiese war völlig durchtränkt und der Regen prasselte unaufhörlich auf den wie leblos daliegenden Körper ein.
Und dann kam endlich Leben in Lucinda. Sie schmiss ihr Buch unachtsam auf das Fensterbrett, sprang auf, raffte ihre Röcke, um schneller laufen zu können und lief dann in das andere Zimmer zu ihrer Familie.
"Dort draußen ist ein Reiter gestürzt! Vater, schnell komm, wir müssen ihm helfen!", erklärte sie rasch und völlig außer Atem, bevor sie gleich weiter nach draußen eilte, nicht darauf achtend, dass sie selbst innerhalb von Sekunden bis auf die Haut durchnässt war.
Lucindas Kleid war schnell mit Wasser vollgesogen und klebte an ihrem Körper. Das Gewicht erschwerte ihr das Laufen. Der Saum ihres Kleides war bereits nach nur wenigen Schritten mit Schlammspritzern verunstaltet und der Wind peitschte ihr die nassen Haare ins Gesicht.
Hinter ihr hörte sie ihren Vater rufen. "Lucinda, geh wieder ins Haus! George und ich kümmern uns darum!", aber sie dachte nicht daran umzukehren. Warum sollte ein Mädchen nicht helfen dürfen?
Lucinda kam nur wenige Sekunden vor ihrem Vater und ihrem Bruder bei dem Reiter an, der sich noch immer nicht regte. Anscheinend hatte er einen guten Schlag auf den Kopf bekommen. Aber wenn er sich hier draußen nicht den Tod holen sollte, dann mussten sie ihn schnellstens nach drinnen bringen und vor dem Kamin wärmen.
Schon jetzt spürte Lucinda, wie sie am ganzen Leib vor Kälte zitterte. Wie lange der Reiter wohl schon zu Pferd unterwegs und damit dem grausigen Unwetter ausgesetzt war?
Während ihr Vater und ihr Bruder neben ihm knieten, hatte sie einen Augenblick Zeit, um ihn sich genauer anzusehen. Lucinda hatte ihn noch nie zuvor hier in der Gegend gesehen, aber er schien eine gewisse Ähnlichkeit mit einer ihr bekannten Person zu haben.
Bevor sie jedoch genauer darüber nachdenken konnte, an wen sie die Gesichtszüge des Herrn erinnerten, schlug ihr Vater seine Wangen, um ihn aufzuwecken.
Als dies jedoch erfolglos blieb, packte Lucindas Vater ihn unter den Achseln und wies ihren Bruder an, seine Füße zu nehmen, um ihn ins Haus zu tragen.
Schnell hob sie noch den Hut auf, den der Reiter bei seinem Sturz verloren hatte und der nun einige Meter entfernt im Gras lag, bevor sie ihnen hinterher eilte.
Lucinda konnte besonders ihrem Vater ansehen, welche Anstrengung es für ihn bedeutete, den Fremden das doch noch recht weite Stück zu ihrem Haus zu tragen.
Sie lief ein kleines Stück voraus, um ihnen die Tür offenzuhalten, damit sie ihn erst einmal direkt vor dem Kamin auf dem weichen Fell betten konnten, um ihn aufzuwärmen, bis sie selbst ein Bett für ihn hergerichtet hatte.
Lucindas Schwestern Kate und Caroline standen mit vor Schreck geweiteten Augen im Speisesaal und sahen ihrem Vater und George dabei zu, wie sie den Fremden weiter durchs Haus trugen.
Schließlich legten sie ihn auf den Teppich, der direkt vor dem Kamin lag. Um dort eine Stätte zu bereiten, fehlte ihnen die Zeit. Jetzt kam es darauf an, schnell zu handeln und den unterkühlten Körper wieder aufzuwärmen.
"Er muss die nasse Kleidung ablegen. Mädchen, verlasst den Raum. Lucinda, du holst Decken und wartest, bis ich dich wieder hereinrufe", übernahm sogleich ihr Vater die Führung und alle gehorchten aufs Wort, während George bleiben und helfen durfte, den Fremden bis auf die Unterkleidung auszuziehen.
Lucinda eilte in die Schlafräume, um alle verfügbaren Decken zusammenzusuchen. Mit drei davon über dem Arm lief sie zurück und wartete ungeduldig vor dem Raum, bis ihr Vater die Tür wieder öffnen würde.
Weshalb durften Frauen von Männern untersucht werden, aber Frauen durften nicht einmal helfend zur Hand gehen, wenn es sich um einen Mann handelte?
Diese Welt war einfach zu ungerecht und Lucinda musste den Gedanken schnell wieder verbannen, weil sie sich sonst nur wieder über die ungleiche Behandlung von Männern und Frauen in ihrer Gesellschaft aufregen würde.
Aber was sie fast noch wütender machte, war die Tatsache, dass es die Damen in ihrer Bekanntschaft nicht einmal zu stören schien. Handarbeitskreise und Teekränzchen für den neuesten Klatsch und Tratsch schienen diese Damen völlig auszufüllen und stellten den Sinn ihres Lebens dar.
Endlich wurde die Tür einen Spalt breit geöffnet, gerade so weit, dass George ihr die Decken abnehmen, Lucinda aber nicht ins Innere des Zimmers sehen konnte. Zwei Sekunden später stand sie wieder vor verschlossener Tür.
Da Lucinda wusste, dass ihr Vater sie holen würde, sobald er es für passend empfand, begab sie sich in die Küche, wo ihre Mutter am Herd stand und eine Suppe zubereitete und ihre beiden Schwestern tuschelten.
"Wer er wohl ist? Hast du gesehen, wie gut er aussieht?", kicherte Caroline und Kate stimmte mit ein, während Lucinda nur die Augen verdrehte. Für ihre Schwestern gab es nichts Wichtigeres im Leben als eine gute Partie machen und dieses Thema beherrschte offenkundig nicht nur ihre Gedanken, sondern auch ihre Gespräche.
Ohne ein Wort beizutragen, setzte sich Lucinda mit klopfendem Herzen wieder an ihren Platz am Fenster und schlug ihr Buch wieder an der Stelle auf, an der sie aufgehört hatte, als sie den Reiter stürzen sah. Doch obwohl ihre Augen auf dem Text ruhten, formten sich keine Worte in ihrem Kopf, sondern auch ihre Gedanken schweiften zu dem Unbekannten.
Hatte er eine Gehirnerschütterung? Wie stark war er unterkühlt? Er musste schnell aufgewärmt werden und wieder aufwachen. Hoffentlich bekam er kein hohes Fieber.
In Gedanken durchforstete Lucinda alle Informationen, die sie je in den medizinischen Büchern ihres Vaters gelesen hatte und was dieser ihr selbst beigebracht hatte.
Am liebsten wäre sie sofort in das Arbeitszimmer ihres Vaters geeilt und hätte ein paar Nachschlagewerke zurate gezogen, aber sie wusste genau, dass ihre Mutter ihr dann sofort eine Predigt halten würde, dass sich ein derartiges Verhalten für eine junge Dame nicht schickte.
Eine Dame guten, aber eben nicht adeligen Standes, wie es Lucinda war, durfte solch utopischen Tagträumen nicht nachhängen. Lucinda würde nie eine Ärztin werden und damit müsse sie sich abfinden. Sie solle sich ein Beispiel an ihren Schwestern nehmen und malen oder sticken, um einmal einen gut situierten Herrn zu beeindrucken und seine Liebe zu gewinnen.
Aber bis dahin wollte sie zumindest die Arbeit einer Krankenschwester verrichten. Sie legte ihr Buch zur Seite und ging zu dem kleinen Gästezimmer, das sich im Westflügel des Erdgeschosses befand. Sobald der Fremde stabilisiert war, würde er ein weiches Bett zum Ausruhen benötigen. Und Wärme, dachte sie, als sie in das eisig kalte Zimmer trat, das nur selten bewohnt wurde.
Sie öffnete die Fenster, um durchzulüften und wischte den Staub von den wenigen Möbeln. Nachdem sie die Fenster wieder geschlossen hatte, machte sie im Kamin ein Feuer, welches hoffentlich schnell den Raum aufwärmen würde.
Als sie die Tropfen auf dem Boden bemerkte, fiel ihr auf, dass sie ja selbst noch ganz durchnässt war und sie sich eine fürchterliche Erkältung holen würde, falls sie sich nicht schnell ihrer nassen Kleidung entledigte.
Aufgebracht und ungeduldig strich sie sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht und beeilte sich, nach oben in ihr Zimmer zu kommen. Sie rief eines der Kammermädchen zu sich, das ihr dabei half, ihr Kleid und Korsett zu öffnen. Als sie nur noch im Unterkleid und Pumphose vor ihr stand, scheuchte sie sie ungewohnt ungehalten davon, bevor sie sich schnell neue, trockene Unterwäsche und ein einfaches Baumwollkleid anzog.
Unten angekommen sah sie, dass die Tür zur Stube immer noch geschlossen war. Sie vernahm die Stimme ihres Vaters gedämpft durch das weißgestrichene Holz und obwohl sie liebend gern hören wollte, was er sagte, ging sie in die Küche und holte einen Bettwärmer. Sie bestückte ihn schnell mit glühenden Kohlen aus dem Ofen, ignorierte ihre Schwestern und ihre Mutter, die immer noch über gutaussehende Männer sprachen, und eilte zurück ins Gästezimmer. Dort legte sie den Bettwärmer in das Bett und die Decke darüber.
Sie wusste nicht, was dem Fremden fehlte, aber sie wusste, welche Vorbereitungen sie treffen konnte, bevor er in das Gästezimmer gebracht wurde.
Als wäre es eine Selbstverständlichkeit, ging sie in das Arbeitszimmer ihres Vaters. Sie kannte sich hier genauso gut aus wie er, hatte er ihr doch immer erlaubt, ihm bei seinen Recherchen über die Schulter zu schauen. Ihr Vater wusste, dass seine Arbeit als Arzt kein Terrain für seine älteste Tochter war. Trotzdem hatte er immer bereitwillig versucht, ihre unauslöschliche Neugier zu stillen. Geduldig hatte er ihr die lateinischen Ausdrücke übersetzt, Krankheitsbilder erklärt und Heilmittel aufgelistet.
Er hatte ihr ein immenses Wissen weitergegeben, was ihr jetzt zugutekam.
Sie fand schnell, was sie suchte. Sie schnappte sich die kleine Flasche mit Laudanum, ein heftiges Schmerzmittel, und den Korb voller heilender Kräuter. Sie ging damit zurück in die Küche und kochte einen Tee aus Bitterklee, Stiefmütterchen und Weidenrinde.
Ihre Mutter warf ihr einen entnervten Blick zu. "Lucinda, du verschwendest deine kostbare Zeit", rügte sie sie. Lucinda jedoch arbeitete geschickt weiter.
"Einem Mann möglicherweise das Leben zu retten, ist meiner Ansicht nach alles andere als Zeitverschwendung", meinte sie, nahm den Tee und das Laudanum und verließ die Küche.
Sie hatte den fiebersenkenden Tee und die Tinktur soeben auf der kleinen Kommode neben dem Bett abgestellt, als sie hörte, wie die Tür zur Stube aufging.
"Lucinda!", keuchte ihr Vater. "Ist alles bereit für ihn?"
"Ja, ihr könnt kommen!", antwortete sie und entfernte den Bettwärmer in aller Eile. Ihr Vater und ihr Bruder trugen den Fremden mit Mühe in das Zimmer und legten ihn vorsichtig auf das Bett. Erst jetzt schien ihr aufzufallen, wie groß und breit gebaut der Herr war. In dem kleinen Bett sah er unverhältnismäßig groß aus.
Er trug eine trockene Hose ihres Bruders und ein frisches Hemd, das jedoch nicht ganz zugeknöpft war und als Lucinda die Decke über dem Mann zurechtlegte, erhaschte sie einen Blick auf die nackte Haut unterhalb seines Halses. Sie erahnte einige dunklen Härchen auf seiner breiten Brust und eine ungewohnte Wärme schoss ihr in die Wangen.
Sie war nicht oft einem Mann so nahe und erst recht nicht einem Mann mit offenem Hemd.
"Ah, du hast Tee gekocht", hörte sie ihren Vater murmeln, wie zu sich selbst, und drehte sich zu ihm um. "Er scheint nicht schwer verletzt zu sein, aber unterkühlt und vom Sturz mitgenommen."
"War er die ganze Zeit bewusstlos?", fragte Lucinda und stellte sich neben ihren Bruder, der mit gekräuselten Augenbrauen auf den Fremden sah.
"Nein, er ist für einige wenige Sekunden zu sich gekommen. Aber er schien verwirrt. Ich würde meinen, dass er sich eine Gehirnerschütterung zugezogen hat. Mit etwas Glück - und jeder Menge Kräutertee - können wir hoffentlich verhindern, dass er Fieber bekommt."
Lucinda betrachtete ihren Vater und bewunderte ihn für seine Ruhe und seinen Überblick.
"Ich werde Mrs Thornton bitten, eine Schüssel mit Suppe für ihn bereitzuhalten, sollte er aufwachen."
Mit diesen Worten verließ ihr Vater das Gästezimmer, um seine Frau aufzusuchen, und George, ihr Bruder, folgte ihm. Lucinda blieb unschlüssig zurück.
Sie warf einen Blick auf den Mann, dessen Gesichtszüge verspannt waren und ihm einen leidenden Ausdruck verliehen. Seine Lider zuckten leicht, als würde er jeden Moment aus seiner Ohnmacht aufwachen.
Sie zog einen Stuhl ans Bett und überprüfte die Temperatur des Tees. Dann nahm sie noch ein Kissen und legte es ihm in den Rücken. Sanft schob sie ihren Arm unter seinen Nacken und hob seinen Kopf und Rücken ein wenig an, um das Kissen zurechtlegen zu können, als sie ein leichtes Raunen vernahm und bemerkte, dass er seine Augen ein wenig geöffnet hatte. Er sah sie an, ohne sie wirklich zu sehen.
Das Grau seiner Augen ging ihr durch Mark und Bein, obwohl es schien, als hätte sich ein matter Schleier darüber gelegt.
Sie nahm die dampfende Tasse und steckte ihren kleinen Finger hinein, um die Temperatur zu überprüfen. Die Wärme war angenehm und sie hielt dem Fremden den Tassenrand an die Lippen. Sie stützte seinen Nacken, spürte, wie warm seine Haut war. Ein hauchdünner Schweißfilm hatte sich auf seine Stirn gelegt.
Er hatte schon Fieber.
"Bitte, Sir, Sie müssen einen Schluck trinken", sagte sie leise, aber bestimmt und versuchte, etwas Flüssigkeit in ihn zu bringen.
Erst versuchte er ein wenig mühsam die Augen offenzuhalten, gab dann jedoch dem Drang nach, sie einfach wieder zu schließen. Trotzdem öffneten sich seine Lippen einen kleinen Spalt und Lucinda konnte ihm den Tee in kleinen Schlucken einflößen. Als er wenigstens die halbe Tasse getrunken hatte, bettete sie ihn zurück in die Kissen. Er hatte die Ruhe bitter nötig.
"Schlafen Sie jetzt", redete sie mit beruhigender Stimme auf ihn ein, nicht sicher, wie viel er überhaupt noch mitbekam. "Ich werde hier warten und regelmäßig nach Ihnen sehen", versprach sie noch, bevor sie den Blick von den leicht kantigen Gesichtszügen losriss, um sich ein Buch zu holen und sich auf eine lange Nacht einzustellen.
Und jetzt sind wir unglaublich gespannt, auf euren ersten Eindruck von "Lucinda Rose"! :D
Wir wünschen euch ein wunderschönes, sonniges Wochenende! <3
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top