Kapitel 6

Kapitel 6

„Herr?"

Gabriel betrat das große, mit hellem Teppichboden ausgelegte Arbeitszimmer, in dessen Mitte lediglich ein gewaltiger, von Papierbergen überhäufter Schreibtisch stand. Auf einem großen, gemütlichen Drehstuhl saß das Wesen, das den Himmel mitsamt der ersten Engel erschaffen hatte und von den Menschen als göttliches Wesen mit tausenden verschiedenen Namen verehrt wurde: Gott.

Ein wenig verwirrt, keine Antwort erhalten zu haben, trat Gabriel näher. Erst als er über den größten der Papierstapel sehen konnte, wurde ihm die Situation klar und ein kurzes Schmunzeln huschte über sein Gesicht.

„Herr!", wiederholte er lauter, woraufhin Gott mit einem erschrockenen Laut aus Seinem Nickerchen schreckte und sich einige Sekunden lang desorientiert ansah.

„Oh, Gabriel", murmelte er und lächelte erschöpft. „Was kann ich für dich tun?"

Der Erzengel verneigte sich demütig. Viele Jahrtausende lang hatte er als einer der ersten Engel an Gottes Seite gedient, im Krieg und in Friedenszeiten, und niemals hatte er Zweifel an seiner Loyalität zu seinem alleinigen Herren aufkommen lassen.

„Es geht um Lucifer", begann Gabriel ruhig. „Alle Erkenntnisse deuten darauf hin, dass er versucht, dem Himmel zu schaden."

Gott seufzte und ordnete die Papiere, auf denen Er bis eben geschlafen hatte.

„Tut er das nicht schon seit ein paar tausend Jahren?"

Gabriel neigte den Kopf.

„Natürlich. Aber in den letzten Monaten hat er gezielt Engel angegriffen und getötet, die Wissen über das Himmlische Feuer bewahren. Ich fürchte, dass er versuchen wird, unsere eigenen Waffen gegen uns zu richten."

Nun schien Gottes Aufmerksamkeit geweckt.

„Ich habe Lucifer das Geheimnis um das Himmlische Feuer niemals anvertraut", murmelte Er. „Obwohl er mich mehrfach darum gebeten hat. Im Nachhinein war ich froh darüber, denn es hätte das Ende des Himmels bedeutet, wenn er es gegen uns hätte einsetzen können..."

Gabriel wartete auf weitere Anweisungen, doch Gott schien in Seinen unendlichen Erinnerungen versunken zu sein, weshalb der Erzengel nach einigen Augenblicken wieder das Wort ergriff.

„Herr, ich denke, wir sollten so schnell wir möglich alle Engel, die über das Himmlische Feuer informiert sind, im Himmel versammeln, um sie Lucifers Reichweite zu entziehen."

Ein leises Seufzen kam vom Schreibtisch. Gott klang besorgt, aber das tat Er häufig, seit Michael gestorben war. Voller Wehmut dachte Gabriel an die Tage, als sein Herr noch unbekümmert und fröhlich zu sehen gewesen war. Lucifers Verrat hatte Sein Vertrauen in die Engel, die Ihm am Nächsten standen, stark erschüttert und obwohl Gabriel alles tat, um dieses Vertrauen wiederherzustellen, war er Gott seitdem nie wieder so nah gewesen wie vor der Zeit des Verrats. Michaels Tod hatte Gott dann endgültig den Rest seiner Lebensfreude genommen.

„Glaubst du, es wird zu einem weiteren Krieg um den Himmel kommen?", fragte Er leise. Gabriel ließ sich Zeit mit der Antwort.

„Noch können wir ihn abwenden, aber dafür müssen wir endlich härtere Maßnahmen gegen Lucifer unternehmen. Wir haben ihn viel zu lange seinen Racheplänen überlassen."

Ein weiteres Seufzen Gottes.

„Dann... tu, was getan werden muss, Gabriel..."

Ihm war anzumerken, wie ungern Er gegen den vorging, der einst Sein liebster Diener gewesen war.

Gabriel verbeugte sich tief, dann wandte er sich um und verließ den Tempel. Es gab viel zu tun.

Theliel kniff die Augen zusammen und wimmerte vor Angst. Sein ganzer Körper war angespannt, als Azazel ihn aufs Bett drückte und sich selbst seiner Kleidung entledigte. Unsanft zog er Theliel auf den Boden, der sich nun mit dem Oberkörper aufs Bett legen sollte. Niemals hatte der junge Engel etwas Erniedrigenderes erlebt, als hier in dieser eindeutigen Haltung vor diesem wollüstigen Dämon auf dem Boden zu knien.

Mit einem gierigen Knurren drängte Azazel gegen ihn und die Klauen, die aus seinen Fingern gewachsen waren, kratzten ungeduldig über Theliels Rücken. Seine Flügel zitterten kaum merklich, was schmerzhafte Schauer durch seinen Körper laufen ließ. Wie Klingen schnitten die Klauen seine Haut auf, bis er das Blut über seinen Rücken laufen spüren konnte. Noch nie hatte Theliel einen derart starken Wunsch danach verspürt, jemanden zu verletzen.

Das Messer! Warum war ihm dieser Gedanke nicht schon früher gekommen?

Vorsichtig blinzelte Theliel zum Kopfkissen. Bisher hatte niemand sein Bettzeug gewechselt oder sich wegen des Verlusts des Steakmessers erkundigt, die Waffe lag also noch immer griffbereit unter dem Kissen.

Vorsichtig streckte Theliel sich etwas vor, während eine raue Zunge das Blut von seinem zerkratzten Rücken aufleckte. Widerlich! Mit beiden Armen krallte er sich in die Decke, dann ließ er unauffällig eine Hand unter das Kopfkissen gleiten und tastete ungelenk nach dem Messer.

Unangenehm hart drückte Azazels Erektion gegen seinen Hintern und Theliel musste schwer schlucken, um nicht vor Abscheu und Angst aufzuschreien. Tränen vernebelten seine Sicht, doch dann stießen seine Fingerspitzen endlich auf den benötigten Gegenstand.

Er schnellte vor, packte den Messergriff, dann drehte er sich blitzschnell um und stieß mit der Waffe nach dem völlig überrumpelten Azazel. Theliel hatte hoch gezielt und versenkte das Steakmesser kurz unterhalb der linken Schulter im Fleisch. Dreimal konnte Theliel zustechen, bevor Azazel außer Reichweite zurückgewichen war, knurrend und heftig blutend.

Zitternd drückte sich Theliel gegen das Bett, das Messer fest umklammert. Er beobachtete atemlos, wie Azazel eine Hand auf die Wunde an der Schulter drückte, während seine Augen rot glühten und sich hasserfüllt auf Theliel richteten.

Der Fluch des gefallenen Engels erreichte Theliel kaum. Er war aufs Bett gesprungen, als Azazel sich auf ihn hatte stürzen wollen, doch seine ausgekugelten Flügel konnten ihn nicht im Gleichgewicht halten, sodass Theliel mit einem überraschten Keuchend rücklings vom Bett fiel. Kaum dass er wieder klar sehen konnte, war Azazel über ihm, entriss ihm seine einzige Waffe und drückte seine Kehle zu.

Natürlich konnte Theliel nicht ersticken, dennoch atmete er, und der plötzliche Mangel an Sauerstoff ließ seinen Körper entsprechend reagieren. Er würgte und schlug panisch um sich, während Azazels Blut auf seinen bloßen Körper tropfte.

Durch Zufall erwischte Theliel seinen Peiniger mit dem Knie in der Magengegend und konnte sich so von ihm befreien – allerdings nicht lange, denn im nächsten Moment lagen sie ringend auf dem Boden. Blut benetzte beide Körper, Federn wirbelten durch die Luft und das erboste Knurren des Dämons klang laut und bedrohlich in Theliels Ohren.

„Widerliches Federvieh!", grollte Azazel, kam umständlich von ihm los und taumelte zurück. Der Blutverlust hatte seine Lippen weiß werden lassen und er sah aus, als würde er gleich das Bewusstsein verlieren.

Theliel wich kriechend bis zur Wand zurück, wo er trotz seiner weichen Knie aufstehen konnte, ohne den geifernden, erzürnten Dämon aus den Augen zu lassen. Ihm wurde schmerzlich bewusst, dass es keinerlei Fluchtmöglichkeiten gab. Die Türe war sicher verschlossen und selbst wenn nicht, hätte er sie erst öffnen müssen, was Azazel wiederum die Möglichkeit gegeben hätte, ihn zu überwältigen.

Noch immer splitternackt standen die beiden einander gegenüber und beobachteten sich misstrauisch, ohne sich zu rühren.

Erschrocken bemerkte Theliel, wie die Wunden seines Gegners bereits wieder zu heilen begannen. Zwar blieb das Blut, das durch ihren Kampf über seinen ganzen Körper verteilt worden war, aber die Einstiche schlossen sich langsam und Azazel schien sich auch wieder besser zu fühlen, das Steakmesser locker in der rechten Hand. Sein überlegenes Lächeln kehrte zurück.

„Hast du wirklich geglaubt, ein so kleiner, unbedeutender Engel wie du könnte es mit mir aufnehmen?", höhnte er. „Ich habe an der Seite des Höllenkönigs gegen die himmlischen Heere, gegen die Erzengel und gegen Gott selbst gekämpft!"

Langsam, ohne Eile, kam er auf Theliel zu, der unter seinen mörderischen Blicken immer weiter zusammenschrumpfte. Ohne sich zu wehren, ließ er Azazel herankommen und ihn seine eiskalten Finger auf sein Kinn legen. Spitze Reißzähne gruben sich in seine Unterlippe, als Azazel ihn küsste – sofern man diese brutale Geste der Unterwerfung denn als Kuss bezeichnen konnte.

„Du wirst dir noch wünschen, ich hätte dich einfach genommen und dann in Ruhe gelassen, kleiner Engel!", zischte der Dämon gefährlich. Die Klinge des Steakmessers glitt über Theliels Seiten hinauf bis zum Flügelansatz, wo sie leicht in die schmerzempfindliche Haut ritzte. Dem Engel entwich nicht mehr als ein ängstliches Wimmern.

Die Türe wurde so heftig aufgerissen, dass sie gegen die Wand prallte und die Klinke abbrach. Azazel zuckte zusammen und wich sofort von Theliel, der halb auf dem Boden kauerte, zurück.

„Was geht hier vor?", blaffte eine strenge, aufgebrachte Stimme.

„M-mein König...", stammelte der eben noch so mutige Azazel nun eingeschüchtert und schlüpfte hastig in sein Gewand.

König? Theliel hob den Kopf. Dann war das wohl der Mann, zu dessen 'Geschenk' er gemacht werden sollte...

„Theliel, ist alles in Ordnung?"

Die Worte drangen kaum zu ihm vor. Mit großen Augen starrte Theliel den Mann an, der in der Tür stand und ihn besorgt musterte.

„Lucian..."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top