Kapitel 4
Kapitel 4
Als Theliel erwachte, umfing ihn Stille, doch eine deutlich angenehmere Stille als die im Kerker, in der jedes kleine Geräusch laut und bedrohlich erschien. Er streckte sich ausgiebig auf dem warmen, gemütlichen Bett und genoss es ausgiebig, seine Flügel ganz ausbreiten zu können. Schläfrig blieb er auf dem Bett liegen, bis Schritte und Stimmen auf dem Gang ihn aufhorchen ließen.
Vorsichtig setzte er sich auf und tappte zur Tür, um sie verschlossen vorzufinden. Von außen hätte man sie sicherlich öffnen können, aber von innen gab es keine Möglichkeit zu entkommen. Man konnte ihn also jederzeit ohne Ankündigung holen.
Theliel setzte sich wieder aufs Bett, legte den Kopf in den Nacken und seufzte. Kümmerte es den Himmel wirklich nicht, was aus ihm wurde? Zumindest Cadmiel, sein Bruder, würde sich doch für ihn einsetzen, oder?
Ihre Kindheit hatten Cadmiel und Theliel glücklich mit ihrer kleinen Schwester Myniel und ihren Eltern in einem kleinen Haus am nördlichsten Rand des Himmels verbracht. Wenige Monate, nachdem Cadmiel seine Ausbildung zum Fürstentum begonnen hatte, brachen Unruhen im Norden aus. Theliel, der diesen Unruhen keine große Bedeutung zumaß, besuchte seinen Bruder für einige Tage in der Hauptstadt. Als er zurückkehrte, war das Haus mitsamt seinen Eltern und Schwester niedergebrannt worden. Es hatte Jahre gedauert, bis er über den Verlust seiner Familie hinweggekommen war.
Cadmiel, der inzwischen ein erfolgreicher Engel unter den Fürstentümern geworden war, verschaffte ihm schließlich durch Beziehungen, die er über die Jahre geknüpft hatte, einen Ausbildungsplatz bei der Herrschaft Fraciel. Er war immer für Theliel da gewesen, hatte seine Trauer und Launen ertragen. Theliel liebte ihn mehr als irgendjemand anderen.
Lange Zeit hatte eine strenge Kastengesellschaft im Himmel vorgeherrscht, die keinerlei Aufstiege oder Beziehungen zwischen Engeln unterschiedlicher Kasten zugelassen hatte. Erst nach der Rebellion des Größten Verräters und dessen Letzter Schlacht um den Himmel hatte sich das System gelockert und ermöglichte es, niederrangigen Engeln, sich zu höherrangigen ausbilden zu lassen, da jeder Rang seine eigenen Aufgaben zu erfüllen hatte. Trotzdem herrschte noch immer Diskriminierung vor – besonders unter den Angehörigen der Obersten Triade, die sich aus Seraphim, Cherub und Throne zusammensetzte.
Es war als Engel der untersten Triade allerdings noch immer so gut wie unmöglich, zu dieser Oberschicht zu gehören, die Gott – neben den Erzengeln, die zur untersten Triade zählten - am nächsten stand. Die Seraphim waren mit allen politisch bedeutenden Ämtern betraut, die Cherub regelten äußere und innere Sicherheit, und die Throne, die Elite der himmlischen Heere, dienten als Leibwächter Gottes oder Wächter des Paradies', das den einzigen Zugang von der Erde zum Himmelreich bildete. Für Theliel waren all diese tapferen, edlen Engel so gut wie unerreichbar.
Alle, bis auf einen.
In der prächtigen Hauptstadt des Himmels, in deren Zentrum Gott residierte, hatte Theliel zufällig den jungen Seraphim Mehiel kennengelernt, dessen Vater ihm eine Militärkarriere vorgeschrieben hatte, wie es unter Serahim üblich war. Doch Mehiels Herz gehörte der Literatur und er arbeitete daran, ein bis zu den Grenzen des Himmels bekannter Schriftsteller zu werden. Er war ein dementsprechend nachdenklicher und in sich gekehrter Engel, mit dem man sich jedoch wunderbar unterhalten und intelligente Konversation führen konnte. Gegen Mehiel kam Theliel sich häufig wie ein ungebildeter Trottel vor.
Ein kratzendes Geräusch an der Tür ließ Theliel aufblicken. Die Türe wurde einen Spalt breit geöffnet und ein weiteres silbernes Tablett auf den Boden gestellt, bevor sie wieder ins Schloss fiel und Theliel alleine zurückließ. Ein angenehmer Geruch von gebratenem Fleisch – im Himmel eine echte Delikatesse – breitete sich im Raum aus, sodass Theliel sich hastig daran machte, das große, blutige Steak zu verzehren, bevor es kalt wurde. Es war scharf gewürzt, aber köstlich.
Nach der Mahlzeit stellte Theliel die beiden Tabletts neben die Türe, damit der Wächter sie bei seinem nächsten Besuch mitnehmen konnte. Erst als er das Besteck dazu legte, fiel ihm auf, dass man ihm ein scharfes Steakmesser gebracht hatte. Er könnte es als Waffe verwenden – oder sich damit selbst umbringen, falls er es nicht mehr aushalten konnte.
Die bevorzugte Waffe der Engel war das Schwert und seit Theliel zur Herrschaft ausgebildet wurde, wurde er auch im traditionellen Schwertkampf unterrichtet. Wer das militärische Training vertiefte, wurde weiterhin im Kampf mit Lanze und Bogen ausgebildet, aber Gewalt war etwas, was Theliel zu vermeiden versuchte. Er konzentrierte sich ganz auf die Ausbildung zur Herrschaft, um im Verwaltungsbereich tätig zu sein. Eine gesicherte und angesehene, wenn auch eintönige Stellung.
Er hatte noch nie mit einem Messer gekämpft, aber im Notfall würde er sich damit verteidigen können.
Vorsichtig wusch Theliel das Messer im Bad und versteckte es schließlich unter seinem Kopfkissen, in der Hoffnung, dass es dort niemand finden würde. Der Gedanke an die Waffe beruhigte ihn ein wenig. Er hoffte nur, sie nicht einsetzen zu müssen.
„Mein König." Azazel verbeugte sich leicht, ohne den Höllenkönig aus den Augen zu lassen. Er wirkte genervt, hatte den Kopf auf den Arm gestützt und blickte ins Leere. Als Azazel ihn ansprach, sah er ihn an, doch seine Gedanken schienen noch immer woanders zu sein.
„Ich danke Euch für Eure Zeit, Majestät", fuhr Azazel fort, um die Aufmerksamkeit des gefallenen Engels auf sich zu ziehen. Dieser nickte knapp. Azazel ließ sich von diesem andauernden Desinteresse jedoch nicht entmutigen. Sofern er seinen Posten als Chef des Geheimdienstes, wie er es selbst bezeichnete, behalten wollte, musste er den König bei Laune halten und seine Verfehlungen bei der geplanten Ermordung Nathanaels vertuschen.
„Wie bereits angekündigt, habe ich Euch ein Geschenk zu überreichen", fuhr er ehrerbietig fort.
„Den Engel?", fragte der Höllenkönig und schien endlich zuzuhören.
Verblüfft sah Azazel ihn an.
„J-ja, der Engel...", stammelte er überrumpelt; eigentlich hatte es eine Überraschung werden sollen. Hatte einer der Diener geplaudert?
Nun sah Lucifer ihn direkt an und Azazel erwiderte den Blick tapfer. Früher, als er den Höllenkönig in der Schlacht um den Himmel unterstützt hatte, hatte er von ihm nichts zu fürchten gehabt. Azazel vermisste diese Zeiten manchmal, in denen er Lucifer so sehr hatte beeinflussen können, dass er beinahe selbst die Hölle regiert hatte. Es war die Zeit gewesen, in der der König niemandem außer ihm vertraut hatte. Wenn Michael nicht gewesen wäre, hätte Azazel heute den Himmel regieren können, als Belohnung für seine Dienste.
Nun aber, nachdem Azazel mehrfach durch intrigantes Verhalten auffällig geworden war, vertraute der König ihm nicht mehr, duldete ihn nur noch wegen seiner erstaunlichen Manipulationsfähigkeiten in seiner Nähe. Und Azazel würde sich hüten, dieses Privileg zu verspielen und am Ende in die westlichen Provinzen abgeschoben zu werden. Gefallene Engel waren dort nicht sonderlich beliebt.
„Danke", sagte Lucifer nur und winkte Richtung Türe. „Du darfst jetzt gehen."
Es war ein Rauswurf. Azazel zwang sich zu einer weiteren, tiefen Verbeugung, obwohl der Höllenkönig vermutlich auch nicht bemerkt hätte, wenn er es nicht getan hätte, dann verließ er eilig den Thronsaal.
Scheinbar war sein Geschenk doch nicht so gut angekommen, wie er gehofft hatte. Hatte Lucifer sich den jungen Engel schon angesehen? Vielleicht würde sich dessen Meinung ja ändern, wenn er in rechter Stimmung war. Besonders in der Hölle war die Misshandlung und Vergewaltigung von Gefangenen üblich, niemand würde es anstößig finden.
Die Hölle unterschied sich in ihrer Hierarchie deutlich von der des Himmels. An der Spitze stand Lucifer, der Höllenkönig, im folgten seine drei offiziellen Stellvertreter, die im Norden, Westen und Süden lebten, während Lucifer im Osten residierte. Des weiteren war die Hölle in sechs Bezirke unterteilt, über die die Fürsten herrschten, in deren Händen die Judikative lag. Ihnen folgte der alte Höllenadel, der bereits vor dem Sturz des Größten Verräters bestanden hatte, jedoch einen Großteil seiner Macht eingebüßt hatte.
Nach der verlorenen Schlacht um den Himmel hatte es einige Machtumbrüche gegeben und erst ein gutes Jahrhundert später hatte Lucifer seine Herrschaft wieder festigen können. Unterstützt von drei weiteren Engeln, die ihm in die Hölle gefolgt waren, regierte er nun die Hölle, die unter seinem Vorgänger Satan so sehr gelitten hatte, dass sie sogar einen gefallenen Engel auf dem Thron akzeptierte.
Azazel stieß ein leises Knurren aus. Wenn der König dieses Geschenk nicht zu würdigen wusste, dann würde er sich eben zuerst daran bedienen!
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