Kapitel 23
Kapitel 23
Obwohl keine unbedingte Notwendigkeit bestanden hätte, rannte Theliel durch die Straßen des Himmels. Noch immer war das Reich Gottes in dämonische Dunkelheit gehüllt und obwohl es eigentlich hellichter Tag sein sollte, ärgerte sich Theliel, keine Lampe mitgenommen zu haben. Er fürchtete sich noch nicht wirklich, schließlich war er kein Soldat, der sich in Kürze den Armeen der Hölle würde stellen müssen. Im Grunde konnte er es noch gar nicht glauben, was Lucifer getan hatte: dem Himmel den Krieg zu erklären war gleichbedeutend damit, die Engel zu vernichten, denn kein Engel würde den Himmel kampflos aufgeben, wenn es bedeutete, ein Gefangener der Dämonen zu werden.
Theliel seufzte leise. Seit er gestern seinen Dienst wieder aufgenommen hatte, waren ihm die anderen Engel in der Ausbildung zur Herrschaft mit Zurückhaltung begegnet, ganz so, als ahnten sie, dass er sich mit einem Dämon versündigt hatte. Sein Mentor Fraciel hatte ihm vorerst eine Aufgabe gestellt, die er außerhalb des normalen Arbeitsbereiches zu erledigen hatte, sodass Theliel zumindest für einen Augenblick Ruhe vor den misstrauischen Blicken der anderen Engel genoss.
Die Aufgabe war zwar simpel, erforderte jedoch Vertrauen und Theliel hoffte, dass Fraciel den anderen Engeln gegenüber demonstrieren wollte, dass Theliel ein guter, zu akzeptierender Schüler war. So hatte sich Theliel also auf den Weg gemacht, um dem Erzengel Gabriel einen Brief aus dem Tempel zu überbringen.
Er war noch nie im Haus eines so angesehenen Engels gewesen und fühlte sich geehrt, als ihm Gabriels Bruder, der Erzengel Raphael persönlich, die Türe öffnete. Er war in den letzten Jahren zum renommiertesten Heiler des Himmels geworden, obgleich er von sehr unscheinbarer Gestalt war. Er war schlank, soweit Theliel das unter dem weiten Gewand ausmachen konnte, mit einem schönen, runden Gesicht und goldenen Locken, aber sehr traurigen Augen.
„Kann ich Ihnen helfen?", fragte er schüchtern und musterte Theliel interessiert von oben bis unten.
„Ich soll Ihrem Bruder Gabriel einen Brief übergeben. Persönlich", fügte er hinzu, als Raphael die Hand danach ausstreckte.
„In Ordnung", antwortete der Erzengel nach kurzem Zögern und öffnete die Tür, um ihn einzulassen. „Ich hole ihn."
Er führte Theliel in ein geräumiges Wohnzimmer mit zwei großen Sofas und einem kleinen, runden Tisch in der Mitte. Während er wartete, hatte der junge Engel Gelegenheit, sich weiter umzusehen. Außer einem ausladenden Bücherregal und einigen exotischen, aber noch nicht blühenden Pflanzen auf dem Fensterbrett befand sich im Wohnzimmer nur eine Leinwand, die einen Engel in Lebensgröße zeigte. Dieses Bild erregte Theliels Aufmerksamkeit.
Die Unterschrift in der Ecke wies Raphael als den Künstler aus. Das Bild zeigte einen lachenden, blondgelockten Engel von hinten, wie er über die Schulter schaute, ein Handtuch um die Hüften geschlungen. Die weißen Schwingen waren so detailliert abgebildet, dass beinahe der Eindruck eines dreidimensionalen Kunstwerks entstand. Der Engel hatte die Augen geschlossen, doch das Lachen stand auf sein ganzes Gesicht geschrieben. Er war wunderschön und die Art, wie Raphael ihn hervorgehoben hatte, richtig leuchtend, wie einen strahlenden Stern.
„Das ist... war mein Bruder Michael."
Gabriel hatte das Wohnzimmer unbemerkt betreten und betrachtete wehmütig das Bild.
Michael.... er sah anders aus als die Statuen ihm zu Ehren, die ihn stets in heroischen Posen im Kampf gegen Lucifer zeigten. Auf diesem Bild wirkte er natürlich und greifbar, nicht wie das Heldenbild, das von ihm vermittelt wurde.
Theliel studierte das Bild erneut. Diesmal sprang ihm ein Detail ins Auge – auf der linken Schulter befand sich teilweise vom Flügel verdeckt etwas Schwarzes. Der Engel trat näher; es handelte sich um verschlungene Buchstaben, sehr vertraute verschlungene Buchstaben, denn er hatte sie bereits auf einer anderen Schulter gesehen.
„LM – Lucifer Morgenstern", murmelte er.
„Oder Lucifer und Michael", fügte Gabriel leise hinzu. „Sie hatten beide das Gleiche... kurz vor dem Verrat des Morgensterns haben sie es sich stechen lassen..."
„Ihr habt es gewusst!" Theliels Stimme sprühte vor Wut und Enttäuschung. „Ihr habt gewusst, dass Lucifer kein Monster ist! Und Ihr wusstet, was er für Euren Bruder empfindet und wie sehr er leidet! Warum habt Ihr denn nie versucht, die Meinung der Engel über ihn zu ändern? Warum musstet Ihr es erst zu einem Krieg kommen lassen?"
„Es ging nicht anders!", erwiderte Gabriel heftig. „Der Himmel kann es sich nicht leisten, Mitleid für seine Todfeinde zu haben!"
„Michael hat sich gegen Lucifer gestellt, obwohl er ihn so geliebt hat!" Er war laut geworden, jeglicher Respekt vor dem Erzengel vergessen. „Aber jetzt beschwört Ihr nur einen neuen Krieg herauf, indem ihr ihn immer mehr verteufelt und verletzt!"
Er wusste nicht, weshalb er sich so für Lucifer einsetzte, aber in diesem Moment verschwammen die Grenzen von Gut und Böse nicht mehr, das Verhältnis schien sich gänzlich umzukehren. Gabriel hatte seinen Bruder geopfert, nur um jetzt einen weiteren Krieg zu provozieren.
„Ihr wisst gar nichts!" Gabriel verpasste ihm einen Schlag mit den Flügeln, der Theliel zurückstolpern ließ. „Ihr wart es nicht, der seinen toten Bruder, für den er jederzeit alles aufgegeben hätte, in den Armen gehalten und in seine toten Augen geblickt hat! IHR HABT NICHT DAS RECHT, ÜBER MICH ODER MICHAEL ZU URTEILEN!!"
Stille kehrte ein.
Theliel starrte fassungslos auf den stolzen Erzengel, der völlig in Tränen aufgelöst vor ihm stand, Schultern und Flügel bebend, sein Blick voller Zorn.
„Geht", knurrte er gefährlich leise. „Ihr seid hier nicht mehr willkommen."
Schweigend legte Theliel den Brief auf den Wohnzimmertisch, dann beeilte er sich, das Haus zu verlassen. Ihm war ebenfalls danach, in Tränen auszubrechen.
Von einem Hügel aus sah der König der Hölle zu den himmlischen Stadtmauern hinüber. Er hatte eine Armee im Rücken, eine Armee, die den göttlichen Heeren durchaus gewachsen war. Schon einmal hatte er Krieg gegen den Himmel geführt, doch diesmal würde er ihn gewinnen! Es gab niemanden mehr, der ihn hätte aufhalten können, und auch das Geheimnis um das Himmlische Feuer schien verloren. Unwichtig, er würde den Himmel auch so bezwingen.
„Das wird riskant", meinte Leviathan, der in voller Rüstung zu ihm getreten war. Seine Flügel waren unbedeckt, um Mobilität im Kampfgeschehen zu garantieren. Leviathan war ein guter, treuer Feldherr und Lucifer hielt nur das Beste von ihm, auch wenn er sich ihm nicht öffnete.
„Wir sind besser vorbereitet als beim letzten Mal", gab Lucifer zu bedenken und lächelte ihm zu, doch Leviathan ging nicht darauf ein.
„Beim letzten Mal haben mir die Dämonen nicht genug vertraut", fuhr der Höllenkönig seufzend fort, als er keine Antwort erhielt. „Sie desertierten, als sie sich auf verlorenem Posten sahen; das wird diesmal nicht passieren. Ich habe loyale Kämpfer hinter mir und hoffentlich eine Strategie, um den Himmel zu unterwerfen."
„Du bist zu selbstbewusst", kommentierte Leviathan, ohne ihn anzusehen.
Seufzend fuhr sich Lucifer durchs Haar.
„Du willst eigentlich nicht, dass der Himmel fällt, kann das sein?"
„Nicht jeder teilt deinen Hass auf den Himmel."
„Vermisst du den Himmel, Levi?"
„Nein."
„Wirklich nicht?"
„Wirklich nicht."
Der gefallene Engel wandte sich von seinem König ab und ging langsam ins Lager zurück. Er hatte keinen Zweifel daran, dass der Himmel fallen würde. Die Frage war nur, ob es auch dieser Krieg sein würde, der den Untergang bringen würde.
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