Kapitel 2
Schon nach relativ kurzer Zeit hatte Theliel in seinem dunklen, unfreundlichen Gefängnis jegliches Gefühl für Zeit verloren. Wenn er nicht schlief, kauerte er entweder schweigend in einer Ecke oder lief unruhig auf seinen paar Quadratmetern auf und ab. Essen wurde ihm nur unregelmäßig gewährt, waschen durfte er sich überhaupt nicht. Glücklicherweise konnten Engel zwar essen, mussten aber nichts ausscheiden.
Jedes Geräusch ließ ihn aufschrecken, teils aus Furcht, teils aus Hunger auf neue Reize, die ihn von seinen düsteren Gedanken ablenkten. Der Dämon, der nach ihm sah, ließ sich selten in Gespräche verwickeln. Auch Azazel hatte ihn nicht mehr zu sich rufen lassen. Theliel verzweifelte allmählich in der Einsamkeit.
Seine Gedanken kreisten um seinen Mentor Fraciel, der sich sicherlich Vorwürfe machte, ihn alleine auf die Erde geschickt zu haben, um seinen großen Bruder Cadmiel, der als Fürstentum – die höchste Stufe der untersten Triade – als Schicksalsengel bekannt geworden war, und um seinen besten Freund Mehiel, der sein Leben der Literatur und Schreibkunst gewidmet hatte. Ob sie sich um ihn sorgten und an ihn dachten? Oder hatte Azazel recht, dass es den Himmel nicht kümmerte, was aus den niederen Engeln wurde? Allein die Vorstellung versetzte Theliel einen Stich.
„Hey."
Theliel, der sich in eine Ecke gekauert hatte, schreckte hoch und hielt erschrocken die Luft an. Er hatte niemanden den Gang hinunter kommen gehört. Panisch und mit der unterschwelligen Furcht, sich die Stimme nur eingebildet zu haben, blickte er sich um.
An den Gitterstäben lehnte mit locker verschränkten Armen ein Mann mit wildem, schwarzen Haar, dessen Umrisse sich gegen den Schein der Fackel abzeichneten. Hastig rappelte Theliel sich auf und näherte sich dem Fremden mit zitternden Flügeln. Lange, dünne Finger legten sich um einen der Stäbe, als der Mann sich vorbeugte, um Theliel aus wilden Augen anzusehen. Aus dieser Nähe konnte Theliel trotz des schwachen Lichts erkennen, dass sie violett schimmerten.
„Wie heißt du?" Seine Stimme war nicht so tief wie die des Wärters und es sprach aufmerksame Freundlichkeit und Schalk daraus. Theliel atmete erleichtert aus.
„Ich bin Theliel."
Der Fremde zog die leicht geschwungenen Augenbrauen hoch.
„Nichts weiter? Kein Rang, keine weiteren Erklärungen?"
Theliel erinnerte sich nur zu gut daran, wie Azazel ihn zurechtgewiesen hatte, als er mehr als das Gefragte geantwortet hatte. Doch dieser Mann hier schien ihn nicht verspotten zu wollen, weshalb er noch einmal seinen Rang im Himmel wiederholte und auch, dass er scheinbar Azazels Geisel zu sein schien.
„Und... wie ist dein Name?", beendete er etwas schüchtern seine Vorstellung.
Der Mann schwieg einen Augenblick, als müsste er erst überlegen, ob er wirklich darauf antworten sollte.
„Lucian", meinte er schließlich, ohne sich weiter vorzustellen. Er war mager, wie Theliel bemerkte, als er sich schließlich gegen die Stäbe lehnte und Lucian von Nahem betrachtete, mit hohen Wangen und blasser Hautfarbe. Unter einer weißen Weste trug er ein simples, schwarzes Hemd ohne weitere Verzierungen.
„Bist du hungrig?", fragte Lucian unvermittelt und grinste leicht, als Theliel heftig nickte. Schweigend reichte er dem jungen Engel durch die Stäbe ein rundes Brötchen, das angenehm süß schmeckte. Gierig verzehrte Theliel das süße Gebäck und wischte sich die Krümel vom Mund. Etwas unsicher sah er zu Lucian, der ihn weiterhin mit seinen aufmerksamen Augen beobachtete. Die Farbe der Iris war wirklich ungewöhnlich für einen Dämon – falls er denn einer war.
„Bist du auch ein Dämon?", wollte er wissen und umklammerte unwillkürlich die Stäbe, als Lucian erneut nicht sofort antwortete.
„Ja. Ich schätze, ich bin ein Dämon." Lucian zuckte mit den Schultern und sah beinahe verlegen aus, es zugeben zu müssen. „Aber es gibt keinen Grund, sich vor mir zu fürchten."
Theliel ließ den Blick auf der Suche nach Waffen oder Krallen nach unten schweifen. Aber außer der Tatsache, dass Lucian Schuhe mit Absatz trug, fiel ihm nichts auf und er entspannte sich ein wenig. Dieser Dämon schien nicht in böser Absicht gekommen zu sein.
„Lebst du hier?", fragte Theliel weiter. „Im Palast, meine ich?"
„Klar", meinte Lucian unbekümmert. „Ist nicht der schlechteste Ort zum Leben."
„Aber es ist so..." Theliel gestikulierte unbeholfen, um seine Abscheu gegenüber der Hölle auszudrücken, doch Lucian sah ihn nur verständnislos an. „Das hier ist die Heimat des Höchsten Verräters! Hast du keine Angst?"
Lucians Miene verdüsterte sich und Theliel fürchtete bereits, er würde ihn anschreien und gehen. Offenbar hatten Dämonen eine andere Meinung von dem gefürchteten König der Hölle, der vor vielen Jahrhunderten, lange vor Theliels Geburt, schon einmal versucht hatte, den Himmel zu unterwerfen.
„Du sprichst vom gefallenen Engel Lucifer, richtig?"
Theliel nickte, woraufhin Lucian den Blick abwandte.
„Nein, eigentlich habe ich keine Angst. Weißt du... Lucifer vertraut niemandem mehr. Er ist intrigant, emotional, stur, neigt häufig zu Wutausbrüchen und ist in der Hölle gefürchtet wie geachtet", erklärte er leise, den Blick weiterhin zu Boden gerichtet. „Niemand, mit dem man gerne Zeit verbringt. Aber eigentlich..."
Er verstummte und schüttelte den Kopf.
„Vielleicht sollte man ja doch Angst vor ihm haben." Er lächelte mühsam. „Was erzählt man sich denn im Himmel über ihn, dass du solche Angst vor ihm hast, ohne ihn jemals getroffen zu haben?"
Theliel wippte auf den Fußspitzen und strich sich gedankenverloren über die Flügel.
„Also... man sagt über ihn, dass er, nachdem er aus dem Licht Gottes vertrieben worden war, der Dunkelheit anheim gefallen ist, den vorherigen Dämonenkönig Satan brutal ermordet und selbst dessen Platz eingenommen hat. Dann scharte er seine Anhänger aus dem Himmel um sich und versuchte, den Himmel zu vernichten. Die Schlacht soll sechs Jahre gedauert haben und hunderttausende von Leben gekostet haben. Erst dann ist es dem Erzengel Mich-"
„Dem höchsten Erzengel gelungen, ihn wieder in die Hölle zu verbannen", fiel Lucian ihm ins Wort und knirschte mit den Zähnen. „Ich hätte nicht fragen sollen."
Verwirrt sah Theliel ihn an.
„Habe ich etwas Falsches gesagt?"
Lucian schüttelte den Kopf.
„Nein, das entspricht alles der Wahrheit. Zumindest einem Teil von dieser." Er seufzte. „Hast du Angst?"
Daraufhin antwortete Theliel nicht sofort. Natürlich war der Dämon, der ihm Nahrung brachte, beängstigend, und auch Azazel wirkte nicht sonderlich freundlich, aber die Angst hatte sich eigentlich schon nach wenigen Stunden gelegt und war einer aufmerksamen Vorsicht und Misstrauen allem gegenüber gewichen.
„Nicht wirklich. Bisher gab es schließlich keinen Grund dafür", erklärte er und sah Lucian in die Augen. Der Dämon lächelte.
„Du bist ein tapferer Engel, Theliel", sagte er ruhig. „Ich hoffe, du lässt dich nicht zu sehr von deinen Vorurteilen dieser Rasse gegenüber leiten. Dämonen sind nicht schlechter als die Engel oder Gott."
Diese Aussage erschreckte Theliel ein wenig. Niemals würde er es wagen, an Gott zu zweifeln oder ihn in Frage zu stellen. Die Engel, die das getan hatten, waren entweder gestorben oder in die Hölle verbannt worden, wo sie als Dämonen leben mussten, niemals in der Lage, wieder in den Himmel zum Licht Gottes zurückzukehren.
„Das kannst du nicht sagen", murmelte er und Lucian sah ihn erstaunt an. „Ein Dämon kann doch nicht über Gott urteilen, oder?"
Lucian seufzte und fuhr sich durch das dichte, dunkle Haar.
„Ich... sollte jetzt gehen, bevor jemandem auffällt, dass ich verschwunden bin. Ich komme sobald wie möglich noch mal her, ja?"
Theliel nickte mechanisch, während er dem eigenartigen Dämon noch immer verwundert nachsah. Woher kam dieser Sinneswandel? Lucians Schritte waren kaum zu hören und selbst seine weiße Weste schien einfach mit der Dunkelheit zu verschwimmen. Eine leise Hoffnung, einen Verbündeten gefunden zu haben, keimte in Theliel auf.
„Deine Engelfreunde haben dich wohl schon vergessen", höhnte Azazel, den Kopf auf einen Arm gestützt, während er den vor ihm knienden Theliel musterte. „Bisher scheint dich niemand zu vermissen, kleiner Engel. Vielleicht hättest du dir deine Freunde ein wenig sorgfältiger auswählen sollen. Oder warst du immer nur das fünfte Rad am Wagen?"
Sein Lachen hallte von den hohen, kahlen Wänden des Thronsaals wieder und Theliel hätte sich am liebsten die Ohren zu gehalten, was ihm jedoch aufgrund seiner gefesselten Hände nicht möglich war. Er wusste nicht, wozu Azazel ihn herbeordert hatte, vermutlich hatte sich der hochmütige, eingebildete Dämon einfach nur gelangweilt.
„Warte nur, bis der König die Zeit hat, dich zu begutachten, kleiner Engel", grinste er und machte mit seinen skelettartigen Fingern eine ausschweifende Bewegung durch die Luft. „Er wird seine helle Freude an dir haben, so jung und schön, wie du noch bist."
Theliel verkrampfte sich bei diesen Worten; er wäre nicht der erste Gefangene, der von einem Dämon vergewaltigt und wie Dreck behandelt werden würde. Gefangene, die in den Himmel zurückgekehrt waren, berichteten von grausamen und blutigen Foltern, sowie Demütigung und Schändung ihrer Körper zur Belustigung hochrangiger Dämonen. Warum sollte es hier anders sein?
Hastig blinzelte er die Tränen der Verzweiflung fort und zwang sich, Azazel tapfer in die Augen zu sehen, doch der gefallene Engel ließ seinen Blick durch den Saal schweifen.
„Er sieht es ja nicht gerne, dass ich Gefangene mache – besonders bei Engeln ist es ihm lieber, sie direkt zu töten – aber ich denke, für dich würde er sogar eine Ausnahme machen." Azazel grinste ihn lüstern an, stieg die drei Stufen zum Thron hinunter und legte zwei seiner dürren Finger an Theliels Kinn. Sie fühlten sich kalt und leblos auf seiner Haut an.
„Ich hoffe nur, er lässt mir ein bisschen von dir übrig..."
Theliel wandte unwillig den Kopf zur Seite, als die kalten Finger über seine Lippen strichen, und kniff die Augen zu. Er wollte diesen Mann nicht ansehen, er wollte weg, weg, weg von hier!
Glücklicherweise ließ Azazel ihn mit einem amüsierten Lachen los und stolzierte vor ihm auf und ab, während er davon schwärmte, wie sehr er junge Engel schätzte. Theliel wünschte sich, sich übergeben zu können, doch er hatte so wenig gegessen, dass nichts kam. Vermutlich hätte Azazel ihn aufgeschlitzt, wenn er ihm tatsächlich vor die Füße, die in leichten Sandalen steckten, gekotzt hätte, aber das wäre es wert gewesen.
Endlich hatte Azazel dem Klang seiner eigenen Stimme genug gelauscht und wies den Wächter an, Theliel wieder zurück in den Kerker zu bringen, nicht ohne ihn noch einmal explizit darauf hinzuweisen, dass Theliel für den König bestimmt war und nicht beschädigt werden dürfe.
Theliel war noch nie so froh gewesen, wieder allein zu sein.
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