Kapitel 19
Kapitel 19
Lucifers Bemerkung darüber, dass das Himmlische Feuer durchaus auch das Ende des Himmels bedeuten könnte, ließ Theliel den ganzen Abend über nicht mehr los. Sein Geist fand keine Ruhe, während er immer und immer wieder darüber grübelte. Der Hass des Dämons auf den Himmel war nach allem, was geschehen war, zwar verständlich, aber würde er wirklich so weit gehen, den Himmel, der früher seine Heimat gewesen war, vernichten zu wollen?
Theliel wusste, dass er nicht würde schlafen können, solange seine Fragen unbeantwortet blieben, weshalb er sich auf den Weg in den Ostflügel machte, sobald er sicher sein konnte, dass Azazel sich zur Ruhe begeben hatte. Auf sein Klopfen reagierte niemand, also gestattete Theliel sich selbst den Zutritt und schlüpfte ins Schlafzimmer des Höllenkönigs. Außer vereinzelten Kerzen auf Nacht- und Schreibtisch herrschte Dunkelheit. Lucifer stand auf dem Balkon, die Arme auf das Geländer gestützt, den Blick in die Ferne schweifend. Nachdenklich starrte er in die Dunkelheit, ohne zu bemerken, dass Theliel ihn beobachtete. Mit einem kleinen Lächeln trat der Engel näher.
Lucifer fuhr zusammen und wirbelte herum, als Theliel aus dem Zimmer auf den Balkon trat, entspannte sich jedoch wieder, als er den Engel erkannte, und lächelte aufgesetzt.
„Theliel", murmelte er und fuhr sich durchs Haar. „Was führt dich her?"
Erst wollte Theliel direkt mit der Sprache rausrücken, dass er sich aufgrund der Bemerkung des Höllenkönigs am Nachmittag Sorgen machte, doch Lucifer wirkte mit einem Mal so bedrückt, dass Theliel das Vorhaben auf Später verschob.
„Ich... wollte nur mal nach dir sehen", antwortete er deshalb ausweichend und blickte zur Seite, damit man ihm die Schwindelei nicht sofort ansah.
„Ach?", machte Lucifer verwundert, gab sich mit dieser Antwort jedoch zufrieden und richtete seinen Blick seufzend wieder in die Ferne. Das Hemd hatte er bis zum Ellenbogen hoch gekrämpelt, sodass die zahlreichen, länglichen, halb verblassten Narben auf den Unterarmen sichtbar wurden. Er hatte sie sich selbst zugefügt...
„Lucifer?", hauchte Theliel und sah den etwas größeren Höllenkönig, der ausnahmsweise ohne hohe Schuhe unterwegs war, von der Seite an.
„Hm?", brummte dieser und wandte ein wenig unwillig den Kopf.
„Ist alles in Ordnung?"
„...ja..."
„..."
„..."
„Na gut", seufzte Theliel und lehnte sich ebenfalls gegen das Geländer, um in die Dunkelheit zu starren. Er konnte es nicht bestreiten: er machte sich Sorgen um Lucifer, der so blicklos nach innen gekehrt war, während er so traurig dreinsah, dass nichts von einem gefährlichen Dämon mehr zurückblieb.
„Lucifer?", versuchte Theliel es erneut und erntete ein leicht amüsiertes Schmunzeln.
„Ja, Theliel?"
Der Engel lächelte ebenfalls.
„Ach, nichts."
Lucifer lachte leise und schloss die Augen, dann trat wieder der bedrückte Ausdruck auf sein Gesicht.
„Hast du... schonmal jemanden geliebt, Theliel? So sehr geliebt, dass du dein Leben und alles, was du hast, für diese Person aufgegeben hättest?"
Theliel schwieg einen Moment, um nachzudenken, dann schüttelte er jedoch den Kopf. Der einzige, den er wirklich liebte, war sein Bruder Cadmiel und vielleicht auch Mehiel, aber den nur auf freundschaftliche Weise, aber für sie hätte er nicht alles aufgegeben, oder? Er war sich nicht sicher. Es kam wohl auf die Umstände an.
„Nein, ich denke nicht...", murmelte er mit einem entschuldigenden Schulterzucken.
„Das ist gut", antwortete Lucifer zu Theliels Überraschung. „Mach diesen Fehler niemals."
Schweigen.
„Warum sagst du das?", wollte der Engel vorsichtig wissen, doch Lucifer schien er mit dieser Frage nicht zu nahe zu treten.
„Ich war früher – als ich noch im Himmel gelebt habe – mit einem Mann zusammen, den ich unendlich liebe... für den ich alles aufgegeben habe, nur um für immer mit ihm zusammen zu sein.... Das war ein Fehler." Seine Stimme klang bitter und er sprach ein wenig verhalten, als erzähle er zum ersten Mal jemandem davon. Die plötzliche Vertrautheit zwischen ihnen erschreckte Theliel, doch er zwang sich dazu, sich nicht zurückzuziehen, sondern Lucifer einfach reden zu lassen.
„Wie war sein Name?", fragte Theliel, um das Gespräch in Gang zu halten, obwohl er die Antwort ja bereits kannte.
„Michael. Belial hat dir ja schon von uns erzählt." Er seufzte und fuhr sich erneut durchs Haar, nur um dann angewidert aussehend das Gesicht zu verziehen. „Heute ist sein Todestag."
Theliel schluckte und sagte nichts. Es war allseits bekannt, dass Lucifer den Erzengel Michael tödlich verletzt hatte und dieser später seinen Verletzungen erlegen war. Aber niemand im Himmel hatte auch nur eine Sekunde daran gedacht, dass es Lucifer ebenfalls verletzt haben könnte. Und so, wie der Dämon im Moment aussah, hatte es ihn definitiv verletzt.
„Warum... hast du ihn getötet, wenn du ihn geliebt hast?", wollte er schließlich wissen, den Blick zu Boden gesenkt.
„Weil ich ihn gehasst habe", gab Lucifer freimütig zu. „Er hat mich verraten und in die Hölle gestoßen!"
Er schüttelte den Kopf und knurrte, wobei seine Klauen sich ins Geländer gruben.
„Du hast sicher viel von unserem entscheidenden Kampf gehört, bei dem er mich erneut in die Hölle verbannte, schwer verletzt und mit gebrochenem Herzen, und der ihm schließlich zum Verhängnis wurde. Erst danach wurde mir klar, dass mein Hass nicht Michael hätte gelten sollen, sondern Gott..."
Er sah verloren aus, nicht mehr so mächtig und respekteinflößend.
Theliel hörte auf sein Bauchgefühl, trat einen Schritt näher und legte seine Hand auf Lucifers. Sie war tatsächlich größer als die des Höllenkönigs. Als Lucifer sie nicht weg zog, begann Theliel, mit ruhigen, gleichmäßigen Bewegungen seinen vernarbten Arm zu streicheln. Lucifer schien es kaum zu bemerken; er hatte die Augen zusammengekniffen und seine Schultern bebten unter unterdrücktem Schluchzen.
Überfordert sah Theliel ihn an. Was sollte er denn jetzt tun? Wie tröstete man einen zutiefst verletzten, unnahbaren Höllenkönig, der zu Wutausbrüchen neigte und ihn möglicherweise vor Furcht und Schmerz verletzte?
„Lucifer...", hauchte der Engel und legte ganz vorsichtig die Arme auf Brusthöhe um ihn. „Du hast all diese Narben; du hast so viel durchgemacht – aber du bist immer noch hier..."
Die geflüsterten Worte schienen den gefallenen Engel zu beruhigen, sein lautloses Schluchzen ließ allmählich nach, doch er schwankte leicht und musste sich auf Theliel stützen. Dieser konnte kaum glauben, wie viel Schmerz sich hinter der gelassenen, gefürchteten Oberfläche verbarg. Ihm war klar, dass er in diesem Augenblick den wahren Lucifer sah, und allmählich verstand er, weshalb Gott diesen Engel am meisten geliebt hatte.
„Woher stammen diese Narben?", fragte er, um den Dämon abzulenken.
Lucifer öffnete die Augen einen Spalt und beobachtete bebend, wie Theliel über seine versehrten Arme strich.
„Die habe ich mir selbst zugefügt", antwortete er kaum hörbar. „Ich bin nicht stolz darauf, aber manchmal habe ich keinen anderen Weg mehr gesehen, mit mir selbst fertig zu werden."
Er lächelte bitter. Okay, kein guter Themenwechsel.
„Die Engel fürchten meine dämonische Natur, die das Engelhafte verdrängt hat. Dabei ist es eigentlich mein Geist, vor dem sie sich in Acht nehmen müssten..." Er seufzte und entzog seine Arme Theliels Fingern. „Ich bin sicher, du trägst ebenfalls Narben, die dich an frühere Verletzungen und Schmerzen erinnern – körperliche oder geistige."
Theliel nickte zögernd.
„Ja... meine Eltern und meine jüngere Schwester Myniel sind vor vielen Jahren während einiger Unruhen im Norden gestorben." Es kostete ihn weniger Überwindung als gedacht, diese schmerzlichen Erinnerungen Lucifer anzuvertrauen. Dessen Hände lagen nun auf seinen Schultern und er hielt ihn locker, doch Theliel hatte nicht das Gefühl, behindert zu werden. Nein, vielmehr war es, als sperre dieser leichte Kontakt alles andere aus.
Während Theliel stockend vom Überleben seines Bruders und seiner selbst erzählte, wanderte Lucifers rechte Hand langsam über seine Schulter, seinen Hals hinauf und strich schließlich sanft über seine Wange. Wärme breitete sich von dieser Stelle in seinem Körper aus. Er hielt in seiner Erzählung inne, hob schüchtern den Kopf und sah ihm in die weit geöffneten, violetten Augen. Die Berührungen waren so zärtlich, sein Duft hüllte ihn ein. Theliel schlug unruhig mit den Flügeln, was dem Höllenkönig ein warmes Schmunzeln entlockte.
Er musste an das Versprechen des Höllenkönigs denken, dass er nichts tun würde, was Theliel selbst nicht auch wollte. Aber in diesem Moment wollte Theliel.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top