Kapitel 16
Kapitel 16
Verloren stand Theliel am Rande des großen Ballsaals und wagte nicht, sich unter die unzähligen verschiedenen Dämonen zu mischen. Paare bewegten sich zum Klang der Musik, die von irgendwo vom anderen Ende des Saales ertönte. Als niederrangiger Engel hatte Theliel im Himmel niemals großen Empfängen oder Feiern beigewohnt, aber zumindest hier in der Hölle fühlte er sich ziemlich unwohl zwischen all den unbekannten Gesichtern.
„Ganz alleine hier?"
Theliel fuhr zusammen, als Azazels Stimme hinter ihm erklang. Der gefallene Engel grinste unschuldig, als Theliel ihn anstarrte, unsicher, ob und was er auf diese provokante Frage antworten sollte. Er war schließlich nur hier, damit Lucifer nicht in sein Zimmer kam – was bedeutet hätte, wieder mit ihm allein zu sein.
Azazel grinste noch immer.
„Du siehst nicht aus, als würdest du dich amüsieren."
Theliel seufzte leise und suchte nach einem unverfänglichen Thema, damit er wenigstens beschäftigt tun konnte. Mit etwas Glück entkam er dieser Veranstaltung, ohne sich mit Lucifer unterhalten zu müssen.
„Wer ist dieser Mann?", fragte er hastig und deutete auf den geflügelten Dämon – Levi – der mit einem Glas Champagner am Rand der Tanzfläche stand und die anderen Dämonen beobachtete. Durch seine Flügel hob er sich deutlich vom Rest der Anwesenden ab. Azazel, der nicht verwundert über diesen Themawechsel schien, folgte seinem Blick und schmunzelte.
„Das ist Leviathan, der Herrscher des Westens und, wie man ihm ja noch ziemlich deutlich ansieht, ein gefallener Engel." Azazel seufzte leise. „Man sagt, Lucifer sei der edelste Engel von allen gewesen – doch eigentlich war das immer Leviathan. Es gab niemals einen stolzeren Seraphim als ihn, der dem Himmel treuer ergeben war als jeder andere."
Verwirrt sah Theliel ihn an.
„Aber weshalb hat er dann den Himmel verlassen?"
„Leviathan gehörte zur Gefolgschaft Lucifers, doch nicht aus Treue zu ihm, sondern aus Liebe zum Himmel, und richtete sich auf dessen Ruf hin gegen Gott", erklärte Azazel weiter. „Doch er hat diesen Schritt stets bereut, sich so weit wie möglich von Lucifer zurückgezogen und den Namen, den er im Himmel trug, geändert. Seitdem hat ihn nie wieder jemand ausgesprochen und aus dem stolzen Seraphim wurde der geflügelte Dämon Leviathan."
Also gab es auch Engel, die den Himmel nur widerwillig hinter sich gelassen hatten. Theliel konnte nicht genau benennen, warum ihn das freute, aber es erleichterte ihn zugleich.
„Viele unserer alten Freunde und Gefolgsleute haben entweder durch die Hand eines Dämons oder Engels den Tod gefunden, nur wenige leben noch im Himmel." Azazel seufzte leise und schüttelte den Kopf, als könne er so auch alte, unliebsame Erinnerungen abschütteln. Er wirkte plötzlich gar nicht mehr so überheblich und bedrohlich auf Theliel, sondern schien eine ähnliche Wandlung durchzumachen, wie er es bei Lucifer hatte beobachten können. Die Gerüchte hatten sich nicht bewahrheitet.
„Vermisst Ihr den Himmel?", wollte Theliel wissen und sein Heimweh, sowie die Angst vor den unbestimmten Mächten der Hölle keimten wieder auf.
Azazel ließ sich Zeit mit der Antwort. Er trank ein paar Schlucke der unangenehm nach Blut aussehenden Flüssigkeit in seinem Champagnerglas, dann starrte er auf den leeren Glasboden.
„Du stellst zu viele Fragen, kleiner Engel", sagte er mit gefährlich leiser, ruhiger Stimme. „Jeder Dämon hat eine Leiche im Keller – so halten wir das System am Laufen. Niemandem zu viele unangenehme Fragen stellen, sonst wird er alles, was du jemals getan hast, gegen dich verwenden."
Das unheimliche, diabolische Grinsen kehrte auf sein Gesicht und seine Augen flackerten kurz rot auf, als er Theliel ansah. Unwillkürlich wich der junge Engel zurück und ein vermutlich nicht ganz unbegründetes Gefühl von Panik überkam ihn. Bevor er allerdings die Flucht antreten konnte, hakte sich jemand bei ihm unter und zog ihn weg von Azazels gierigen Blicken. Verwundert sah Theliel auf – direkt in leuchtend violette Augen, die ihn aufmerksam musterten.
„Tanzt du mit mir?", fragte Lucifer in schmeichelndem Tonfall. Theliel nickte automatisch, sei es nur, um Azazel zu entkommen. Niemals einem Dämon über den Weg trauen, sagte er sich selbst. Da legte sich bereits eine sanfte Hand an seine Taille und Lucifer führte ihn bereits die ersten Schritte über die Tanzfläche, als er es schaffte, seine Extremitäten an den richtigen Stellen zu platzieren. Unsicher sah er zu Lucifer auf, der ihm größer als sonst erschien, was vermutlich den hohen Schuhen zu schulden war. Sie waren beinahe damenhaft hoch und schmal, doch der Höllenkönig bewegte sich mit ihnen scheinbar mühelos und elegant.
„Danke für die Rettung", nuschelte Theliel und wagte ein vorsichtiges Lächeln. Der erste Schrecken von Lucifers zugegeben etwas überschwänglichen Annäherungsversuchen war verflogen, doch der Engel blieb misstrauisch. Im Notfall konnte er ohnehin nur gute Miene zum bösen Spiel machen, aber solange Lucifer tatsächlich darauf achtete, was er wollte und was nicht, würde er das ausnutzen.
Er erntete ein Grinsen.
„Kein Problem", schnurrte der Dämon und übernahm die Führung, wenn auch nicht sonderlich erfolgreich. Er schien nicht besonders gut tanzen zu können, was Theliel schmunzeln ließ. Beinahe wären sie in ein anderes tanzendes Paar gestolpert. Ecken und Kanten an Lucifer zu entdecken, ließ ihn deutlich weniger bedrohlich erscheinen.
„Soll ich lieber führen?", bot Theliel leise an.
Der Höllenkönig grinste zurück.
„Du stellst dich nicht viel geschickter an als ich."
„Ich tanze normalerweise auch nicht die Frauenschritte", konterte Theliel und kniff Lucifer leicht durch den Anzug in die Schulter.
„Nett gemeint, aber ich habe einen Ruf zu verlieren", entgegnete er leise, aber lächelnd. „Du wirst es nicht realisiert haben, aber hier sind fast alle wichtigen Männer und Frauen – und Wesen, bei denen ich mir nicht ganz sicher bin – der Hölle und all ihrer Provinzen versammelt. Ein Patzer auf einer solchen Feier wird jahrelangen Klatsch und im schlimmsten Fall eine Minderung meines Ansehens nach sich ziehen."
Theliel nickte verstehend. Lucifers Hand lag an seiner Taille, die andere hielt mit sanftem Druck Theliels und während sie tiefe Blicke tauschten, kam dem Engel für einen Moment der Gedanke, dass die Situation etwas Romantisches an sich hatte. Aber nur für einen Moment.
Nervös betrat Midael das dunkle Arbeitszimmer. Obwohl er als Heerführer der himmlischen Armeen lediglich Gott selbst unterstellt war, traf er den Höchsten selten bis gar nicht. Umso beunruhigender war die Tatsache, dass kurz nach seinen abendlichen Trainingseinheiten ein Bote aus dem Tempel – und zwar niemand geringeres als der berühmte Heiler und Erzengel Raphael selbst – eingetroffen war, um ihm eine Nachricht des Herrn zu überbringen, dass er sich umgehend bei Ihm einfinden solle.
Natürlich war Midael der Aufforderung sofort nachgekommen, hatte alle Waffen draußen bei Gabriel ablegen müssen, wie es die Sicherheitsmaßnahmen nach dem Verrat des Lichtbringers vorschrieben, und war schließlich zu Gott vorgelassen worden. Nun stand er schweigend in einem dunklen Raum und wartete auf eine Erklärung, weshalb man ihn so spät abends noch zu einer Audienz einberufen hatte.
Das Arbeitszimmer Gottes verfügte über eine Fensterfront gen Osten, sodass der Herr morgens den Sonnenaufgang beobachten konnte. Früher, als Lucifer noch über die Morgendämmerung geherrscht hatte, war sie im Himmel wirklich ein Ereignis gewesen und ein dementsprechend hohes Ansehen genoss auch Lucifer. Midael vermisste diese Zeiten. Er war noch ein junger Rekrut gewesen, als die Nachricht vom Verrat des angesehensten Seraphim des Himmels die Runde gemacht hatte. Kurz darauf hatte man diesen unter Einbeziehung der Öffentlichkeit in einer beinahe feierlichen Zeremonie einem Vertreter Satans übergeben. Jedem war klar, dass dies ein Todesurteil für jeden Engel gewesen wäre. Für jeden außer Lucifer.
„Midael..."
Der Heerführer nahm sofort Haltung an und entbehrte einen militärischen Gruß, die Augen starr auf den Schatten gerichtet, in dem er die Umrisse des Herrn zu erkennen glaubte.
„Die alten Feinde des Himmels erheben sich wieder; ich fürchte um die Sicherheit aller Engel", erklang Seine erhabene Stimme. Midael würde sich niemals erlauben, ein Urteil zu fällen, doch sein Herr klang müde.
„Seid Ihr jemals einem Engel namens Metatron begegnet?", fragte die Stimme, die zu keinem Körper zu gehören schien, als Midael nicht antwortete.
„Nein, diese Ehre ist mir noch nicht zuteil geworden."
„Das ist nur verständlich. Metatron", erklärte der Allmächtige, „schlief lange in den geheimsten Tiefen dieses Reiches, um seinen Körper zu kurieren, nachdem er eine unglaubliche Gefahr vom Himmel abgewandt hatte, als dieser noch jung war. Doch nun sah Ich die Zeit gekommen, ihn zu erwecken, damit er dem Himmel erneut diene."
Midael neigte respektvoll den Kopf.
„Inwiefern betrifft diese Entscheidung mich?"
„Metatron wird Euch zu Diensten sein, Midael. Er ist ein mächtiger Verbündeter im ewigen Kampf gegen die Mächte der Unterwelt, also behandelt ihn mit Respekt und Ehrerbietung."
„Selbstverständlich, Herr." Midael verneigte sich so tief, wie sein Rücken es zuließ.
Einige Minuten herrschte Schweigen und der Engel überlegte bereits, ob er sich diskret zurückziehen sollte, als Gott erneut zu sprechen begann.
„Habt Ihr einmal von einem Wesen namens Lilith gehört?"
Verwundert über diese Frage nickte Midael.
„Man nennt sie die Mutter der Dämonen, die es lange vor der Verbannung des ersten Engels in die Hölle gab. Sie ist die Schöpferin des Bösen."
Wieder Schweigen. Unruhig fragte sich Midael, ob er etwas Falsches gesagt hatte.
„Sie ist ein abgöttisches Wesen!" Gott klang aufgebracht, doch bevor der Engel mehr erfahren konnte, wurde er vom Allmächtigen entlassen. Nur seine Worte klangen noch lange in Midael nach. Ein abgöttisches Wesen...
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