Kapitel 13
Kapitel 13
Er musste so schnell wie möglich fort von hier! Theliel hatte die ganze Nacht wach gelegen, entsetzt von dem, was er gespürt und wonach sein Körper so unerbittlich verlangt hatte. Aber wie konnte man überhaupt aus der Hölle entkommen? Auf Anhieb fiel ihm die Geschichte von Orpheus ein, einem sterblichen Menschen, der in die Hölle hinabgestiegen war, um seine geliebte Frau Eurydike zu befreien. Dämonen wie Engel hatten ihm für seinen Mut zu dieser Tat ihren Respekt gezollt.
Es musste also einen Weg aus der Hölle geben, den auch er erreichen konnte. Aber dafür müsste er zunächst das Schloss verlassen, ohne entdeckt zu werden. Wie konnte er das anstellen? Fakt war nur, dass er besser heute als morgen einen Plan ausheckte, um zu entkommen. Die Hölle machte ihn Stück für Stück zu etwas, war er nicht war, was er nicht sein wollte und niemals sein konnte – zu einem Dämon, der Menschen tötete, um zu überleben.
Immer wieder sah er das Bild des blutüberströmten Höllenkönigs vor seinem inneren Auge. Auch er war einst ein Engel gewesen, der es niemals für möglich gehalten hätte, jemals auch nur das geringste Verlangen nach einer Menschenseele zu verspüren. Und was war er nun? Der mächtigste und gefürchtetste Dämon aller Zeiten mit dem Ruf eines gewissenlosen Monsters. Nein, so wollte Theliel keinesfalls enden!
„Fürstentum Cadmiel!" Die Stimme des Obersten Richters klang hart und abweisend, sodass Cadmiel sich unwillkürlich duckte. Mit den Mächten, den Richtern des Himmels, legte man sich besser nicht an.
„Euch wird vorgeworfen, Euch unerlaubterweise aus dem Himmel entfernt und in die Hölle begeben habt, zwecks einer Unterredung mit dem aktuellen Machthaber." Der Oberste Richter – wenn Cadmiel sich recht erinnerte, lautete sein Name Anafiel – betonte die letzten beiden Worte so überdeutlich, dass jedem Anwesenden klar werden musste, dass er Cadmiel für einen abtrünnigen Engel hielt, der mit dem Feind paktierte.
„Entsprechen diese Anschuldigungen der Wahrheit?"
Cadmiel nickte hastig.
„Ja, das tun sie, aber-"
„Bitte beantwortet nur die Fragen!", unterbrach Anafiel ihn streng und selbst die höfliche Floskel zu Beginn des Satzes konnte ihm nicht seine Schärfe nehmen. Cadmiel schluckte und senkte den Kopf.
Am Morgen war er ohne Ankündigung ins Gerichtsgebäude im Stadtzentrum gerufen worden, wo der Oberste Richter Anafiel – Mitglied der zweiten Triade und Rang der Mächte – persönlich seine Verhandlung übernommen hatte. Cadmiel wusste nicht, wer ihm auf die Spur gekommen war, aber er musste schnellstens den Verdacht des Verrats von sich weisen. Aufgrund vergangener Ereignisse wurde Verrat am Himmel dementsprechend schwer bestraft.
„Ihr seid aus dem Rang eines gemeinen Engels in den Rang eines Fürstentums aufgestiegen. Stimmt das?"
„Ja, das stimmt", antwortete Cadmiel nervös und mit dem Gefühl, durch seinen vergleichsweise niedrigen Rang einen Nachteil erhalten zu haben. Anafiel nickte wissend und überflog seine Unterlagen.
Bei Anafiel handelte es sich um einen erhabenen, etwas rundlichen Engel, der zusätzlich zu seiner mit goldenen Fäden bestickten Toga eine breite, rote Schärpe trug, die ihn als Obersten Richter des Himmels auswies. Dieser Mann hatte die Anhänger des rebellischen Engels Lucifer zum Tode oder zur Verbannung verurteilt. Das ergraute Haar trug er kurz, doch zahlreiche Gemälde zeugten davon, dass er früher eine dichte, goldene Mähne gehabt haben musste. Wie viele bedeutende Engel stammte Anafiel aus der ersten Generation der Engel, also nahezu aus dem Zeitalter des Anbeginns.
„Eure Verteidigung wird Anixiel übernehmen", verkündete Anafiel grade und nickte einem deutlich jüngeren Engel aus dem Rang der Mächte zu, der sich ehrfürchtig verbeugte. Sein rundes Gesicht strahlte Selbstbewusstsein und Zuversicht aus, was Cadmiel wieder ein wenig Mut machte. Allerdings hatte sich keiner der Engel die Mühe gemacht, ihn nach seiner Version der Geschichte zu befragen.
„Wie Ihr sicherlich vom ehrenhaften Erzengel Gabriel erfahren habt, gilt der jüngere Bruder meines Mandanten", Anixiel lächelte Cadmiel kurz zu, „derzeit als verschollen. Es ist nicht auszuschließen, dass er den Dämonen in die Hände gefallen ist. Das Bedürfnis, das zu überprüfen, enthebt meinen Mandanten eindeutig des Verdachts auf Verrat."
Cadmiel gegenüber, an der Wand des Saales, saß ein nur allzu bekannter Engel mit braunem, militärisch kurzen Haar und gewaltigen, weißen Schwingen. Eine breite Narbe zog sich quer über sein Gesicht. Cadmiel wusste sofort, mit wem er es zu tun hatte: Midael, der Thronenengel, der die himmlischen Heere anführte.
„Dämonen sind für ihre Verführungskünste und leere Versprechen bekannt", sagte er ruhig und allein seine Anwesenheit schien alle anderen Engel im Raum, von denen er der Hochrangigste war, zusammenschrumpfen. Kühle, graue Augen wanderte über Cadmiel, der sich sofort verkrampfte.
„Der entführte Bruder des Angeklagten ist doch ein ideales Druckmittel."
Midael erhob sich, seine einfache, weiße Toga umspielte eindrucksvoll seinen vom Training gestählten Körper.
„Fürstentum Cadmiel, wie steht Ihr zu Eurem Bruder?"
Anixiel bedeutete Cadmiel, aufzustehen, bevor er antwortete.
„Ich... liebe meinen Bruder über alles", murmelte Cadmiel nervös und versuchte, sich auf einen Punkt über Anafiels Kopf zu konzentrieren. So musste er zumindest Midael nicht ansehen.
„Ihr seid davon überzeugt, dass er sich in Gefangenschaft der Dämonen befindet?"
„Ja", antwortete Cadmiel wahrheitsgemäß. Dass Lucifer ihm dies sogar bestätigt hatte, ließ er bewusst unter den Tisch fallen.
„Ihr würdet alles tun, um ihn zu retten?"
„Ja, soweit es in meiner Macht steht."
„Und würdet Ihr auch einen Verrat am Himmel begehen, um ihn zu retten?", bohrte Midael unerbittlich weiter, wobei sich sein kühler Tonfall jedoch nicht veränderte.
Hilfesuchend drehte sich Cadmiel zu seinem Verteidiger Anixiel um, der seinen Blick kurz und nichtssagend erwiderte. Nervös biss sich Cadmiel auf die Lippen, bis schließlich eine Antwort über seine Lippen kam:
„M-möglicherweise."
Cadmiel bildete sich ein, ein kurzes Zucken der Mundwinkel auf Midaels Gesicht bemerkt zu haben, doch dieser verbeugte sich nur in Richtung Anafiel und setzte sich mit den Worten „Keine weiteren Fragen". Nervös nahm auch Cadmiel wieder Platz. Nun erhob wieder Anixiel das Wort, weiterhin mit ungetrübter Zuversicht.
„Nur weil die Möglichkeit dieses Verbrechens besteht, bedeutet das nicht zwingend, dass mein Mandant es auch begangen hat", argumentierte er dagegen, den Blick fest auf Anafiel gerichtet, der bedeutungsschwer nickte.
„Ist Euer Mandant, Fürstentum Cadmiel, schon einmal durch befehlswidriges Verhalten aufgefallen?"
„Es liegen keinerlei weitere Anklagen gegen in vor", berichtete Anixiel und grinste überlegen zu Midael, der ausdruckslos zugehört hatte. War er etwa der Hauptankläger? Aber weshalb? Fürstentümer waren für den reibungslosen Ablauf der Engel und Schutzengel auf der Erde zuständig, Midael dagegen befehligte die himmlischen Heere; ihre Aufgabengebiete überschnitten sich in keinster Weise.
„Worüber habt Ihr mit dem Oberhaupt der Hölle gesprochen?", verlangte Anafiel zu wissen und richtete sich damit direkt an Cadmiel, der erneut aufstand, um zu antworten. Er gab so wortgetreu wie möglich wieder, was er mit Lucifer besprochen hatte. Nur seine Nachfrage danach, was er denn dem Höllenkönig für die Freilassung seines Bruders anbieten konnte, ließ er aus. Er hatte niemals über Verrat am Himmel nachgedacht und würde nicht zulassen, dass seine Frage für ihn ungünstig ausgelegt wurde. Anafiel schien zufrieden, denn er hakte nicht nach.
„Trotz allem hat regelwidriger Feindkontakt stattgefunden", warf Midael ein und durchbohrte Cadmiel mit seinen Blicken. „Engel wie Dämonen hätten zu Schaden kommen können. Im schlimmsten Falle wäre die Situation eskaliert und hätte den ohnehin schon gefährdeten Waffenstillstand gebrochen. Ein solches Risiko für das Leben eines einzigen, niederrangigen Engels einzugehen, kann man nicht ungestraft hinnehmen."
„Ein einziger, niederrangiger Engel?", wiederholte Cadmiel ungläubig. „Würde es irgendetwas ändern, wenn Theliel ein Seraphim oder Cherub wäre? Würde Gabriel sich dann ernsthaft bemühen, ihn aus der Hölle zu holen?"
Seine Stimme war laut geworden und Anixiel gemahnte ihn mit panischen Blicken zu Ruhe. Midaels Gesicht blieb unbewegt, aber dafür hatte er nun Anafiels ungeteilte Aufmerksamkeit.
„Dieser ganze Prozess ist eine Farce, um mich zur Untätigkeit zu zwingen!", fauchte Cadmiel gereizt. „Das Leben meines Bruders ist nicht weniger wert als das eines Seraphims oder Gottes selbst!"
„Gebt acht, was Ihr sagt!", rief Midael, wurde jedoch von Anafiel zum Schweigen gebracht.
„Sprecht weiter", verlangte er.
„Ich wurde unangekündigt vorgeladen", fuhr Cadmiel mit unveränderter Lautstärke fort. „Niemand hat mir vorher eine Verteidigung gewährt, die meine Version der Geschichte kennt oder mit der ich mich hätte beraten können. Ein wichtiger Engel, der jedoch in keinster Weise in meinen Fall verwickelt ist, führt eine Anklage beim Obersten Richter des Himmels gegen mich an, um mich zu beeindrucken und zum Schweigen zu bringen! Niemand soll erfahren, dass es hier oben niemanden kümmert, dass mein Bruder in der Hölle vielleicht grade zu Tode gefoltert wird, nur weil er nicht in einen hohen Stand hineingeboren wurde!"
Seine Flügel zitterten vor Anspannung und Wut. Mit einem wilden Blick erst zu Midael, dann zu Anixiel und schließlich zu Anafiel selbst beendete er seine Rede.
„Das ist Unrecht!"
Das erstaunte Schweigen, das nach diesen letzten Worten eingetreten war, wurde schnell von Midael unterbrochen, dessen kühle Fassade in sich zusammenstürzte.
„Wie könnt Ihr es wagen, solche Anschuldigungen gegen das Gericht zu wenden!", fuhr er Cadmiel an. „Nur weil Euch das Leben Eures Bruders wichtiger ist als die Waffenruhe zwischen Himmel und Hölle, bringt Ihr den Himmel und damit alle Engel in Gefahr, indem Ihr ein nicht genehmigtes, unkontrolliertes Gespräch mit dem Höllenkönig führt! Ihr wart nicht dort, nicht dort draußen auf den Schlachtfeldern, wo Engel zu Tausenden abgeschlachtet wurden von dem Mann, mit dem Ihr um die Freilassung Eures Bruders – eines einzelnen Mannes – gefeilscht habt!"
„Schweigt!", gellte Anafiels donnernde Stimme durch den Saal. Majestätisch breitete er die Flügel aus zum Zeichen, dass er nun das Urteil sprechen würde.
„Fürstentum Cadmiel wird für sein Vergehen nicht bestraft werden. Sollte es jedoch erneut zu einem solchen Vorfall kommen, liegt die Bestrafung in der Hand des Anklägers Midael. Amen."
„Amen", sagte Midael, um das Urteil anzuerkennen.
Anixiel sah erwartungsvoll zu Cadmiel, ob dieser Widerspruch einlegen würde, doch Cadmiel verbeugte sich und murmelte undeutlich: „Amen."
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