Kapitel 12
Kapitel 12
Lucifer wirkte ein wenig nervös, als er eintrat. Theliel, der wie so oft in den letzten Tagen lesend auf dem Bett lag, blickte auf. Belial hatte seine Faszination für die Hölle geweckt, die er nun mit entsprechender Literatur zu nähren versuchte. Je mehr er über Dämonen, ihre Mentalität und ihre Gesellschaftsstrukturen erfuhr, desto weniger bedrohlich erschienen sie ihm. Sie waren keine brutalen Tötungsmaschinen, die nur den Blutrausch suchten, sie waren intelligente Personen mit individuellem Charakter wie Engel auch. Natürlich hatte Theliel das bereits gewusst, aber es war ihm nicht wirklich bewusst gewesen.
„Theliel, kannst du tanzen?", fragte er. Verwirrt legte Theliel das Buch zur Seite und setzte sich auf.
„Ähm, nicht gut, warum?"
„Weil ich dich fragen wollte, ob du am Neujahrsball in drei Tagen teilnehmen möchtest", antwortete der Höllenkönig und lehnte sich in den Türrahmen. „Das Neujahr in der Hölle findet traditionell sechs Wochen vor dem im Himmel und in der Menschenwelt statt und wird mit einem prunkvollen Ball zelebriert, der dieses Jahr hier im Palast stattfindet. Es werden allerdings nur Dämonen und gefallene Engel anwesend sein, also falls du dich dabei unwohl fühlen solltest..."
Theliel brauchte nicht lange, um sich zu entscheiden. Die Langeweile war hier im Palast sein größter Feind geworden und er brannte auf jegliche Art von Abwechslung, weshalb er zusagte, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden. Lucifer wirkte zufrieden und versicherte ihm, ihm für diesen Anlass auch angemessene Kleidung zur Verfügung zu stellen, dann war er auch schon wieder verschwunden. Wie so oft fühlte Theliel sich von dem Höllenkönig überrumpelt.
Gleichzeitig wünschte er sich, Lucifer wäre noch einen Moment länger geblieben. Er hatte ihn nach einem drängenden Gefühl fragen wollen, dass er seit einigen Tagen verspürte. Er konnte es nicht benennen, aber es wurde mit jedem Tag übermächtiger und Theliel wollte dringend herausfinden, wie er es unterbinden konnte, bevor es ihm gänzlich den Schlaf raubte. Es war von ähnlicher Intensität wie Durst. Er wollte es loswerden, aber dafür müsste er zuerst herausfinden, was es überhaupt sein könnte.
Das Geheimnis des deutlichen Kraftunterschieds zwischen Engeln und Dämonen lag im Konsum von Menschenseelen. Seelen waren unglaublich kraftvoll, wenn auch schwer zu erklären. Solange sie sich innerhalb eines lebendigen Wesens befanden, waren sie selbst nicht körperlich, doch sie strahlten eine unübersehbare Präsenz aus. Dämonen und Engel besaßen einen sechsten Sinn für das Aufspüren dieser Präsenzen, vergleichbar mit dem Gefühl, den Blick eines anderen auf sich zu spüren.
Tötete man jedoch den Besitzer der Seele oder schloss einen Pakt mit ihm, so wurde die Seele stofflich, wenn auch für Menschen unsichtbar, und musste vom Tod eingesammelt werden. Der Trick war es also, den Menschen zu töten und seine Seele zu verschlingen, bevor der Tod die Seele einsammeln konnte, was Dämonen, die ihren Instinkten folgten, fast automatisch zu Mördern machte. Doch das Verlangen nach Seelen war stärker als jedes andere, sei es nach gewöhnlicher Nahrung, Schlaf oder Wasser. Kein Dämon konnte sich ihm dauerhaft entziehen. Auch Lucifer nicht.
Er hatte das Verlangen nach Seelen als Engel nicht verspürt, weshalb er vermutete, dass es mit der Hölle zusammenhing. Möglicherweise war es der Grund gewesen, dass Himmel und Hölle sich getrennt hatten, wenn sie denn jemals eins gewesen waren? Dass die Hölle ihre Bewohner zum Konsum von Menschenseelen drängte?
Die Jagd war eine blutige Angelegenheit, da man die Brust des Opfers aufschneiden musste, um an die begehrte Seele zu gelangen.
Lucifer lauerte regungslos in der Dunkelheit, witternd, auf die richtige Gelegenheit und Seele wartend. Seine Fingerspitzen, die in gefährliche Klauen übergingen, kribbelten vor Vorfreude. Ungeduldig leckte er sich über die Lippen, konnte schon beinahe das Blut schmecken, das in naher Zukunft vergossen werden würde. Lucifer dürstete es nach einer Seele, viel zu lange hatte er sich dieses Vergnügens nun schon enthalten.
Theoretisch war es auch Dämonen möglich, ganz ohne Menschenseelen auszukommen, doch das Verlangen wurde mit der Zeit übermächtig, bis die Gier nach einer Seele alle anderen Empfindungen überlagerte. Zu Beginn, kurz nach seiner Verbannung, hatte Lucifer sich noch dagegen gewehrt, doch inzwischen war er Sklave seiner Begierde geworden, wie alle anderen Dämonen.
Die Nacht hatte sich über den kleinen Ort gesenkt, den Lucifer für die Jagd ausgewählt hatte. Es kam darauf an, seine Opfer zu streuen, bevor noch irgendjemand sich an einen Exorzisten wandte. Zwar konnten sie ihm nicht wirklich gefährlich werden, da es sich bei den meisten ohnehin um Hochstapler handelte, doch mit der Macht eines wahren Gottgesandten wollte er sich nicht unbedingt anlegen.
Eine leicht wankende Gestalt kam die schmale, verlassene Straße hinunter und der Höllenkönig spannte sich unwillkürlich an, seine Krallen gruben sich in die Handballen. Sein Magen knurrte erwartungsvoll.
In einer fließenden Bewegung erhob er sich aus seinem Versteck und trat unauffällig hinter den Mann, der seine Anwesenheit gespürt zu haben schien und sich mit einem fragenden, eindeutig betrunkenen Grunzen zu dem Dämon umdrehte. Lucifer presste die Lippen aufeinander, um seine Reißzähne zu verstecken; vielleicht konnte er so noch einen Schritt näher herankommen, bevor sein Opfer schreien konnte. Es war nicht die eindeutige Todesangst im Gesicht seiner Opfer, die Lucifer störte, wenn seine Absichten vorzeitig erahnt wurden. Nein, durch den Lärm wurden fast immer andere Menschen angelockt, was ihm die Möglichkeit nahm, sein Mahl ausgiebig zu genießen.
Der Mann machte nur große Augen, als Lucifer ihm ein Knie in die Magengrube rammte und ihn in die Knie zwang. Er griff in das kurze Haar und zog den Kopf seines Opfers mit einem Ruck nach hinten, sodass er die Klauen in der Kehle versenken konnte. Blut spritzte in sein Gesicht und lief über seine Hand, die den Mann am Hemd aufrecht hielt. Mehr als ein Gurgeln brachte der Mann nicht hervor, bevor er sein Leben aushauchte.
Mit einem abfälligen Schnauben ließ Lucifer sein Opfer zu Boden fallen, eine Alkoholfahne umwehte ihn. Vielleicht hätte er doch nicht den erstbesten Menschen überfallen, sondern ein wenig sorgfältiger auswählen sollen.
Der Höllenkönig schüttelte den Kopf, dann kniete er sich über sein blutiges, am Boden liegendes Opfer und schnitt mit einem einzigen Hieb seiner Klauen dessen Oberteil aus. Geifernd fing er an, den Oberkörper des Mannes aufzuschneiden, bis dieser völlig geschändet in einer Blutlache lag. Der Blutrausch brach über Lucifers Sinne herein, vernebelte alle Vernunft und ließ ihn gierig mit Zähnen und Klauen das noch warme Fleisch des Mannes aufreißen.
Er schmeckte das Blut, leckte es direkt aus der Wunde oder von seinen Fingern, knurrend, ohne Rücksicht auf seine Kleidung, die ihm bald am Körper klebte. Endlich gelang es ihm, den Brustkorb aufzuschneiden, wo er die Seele des Toten spürte. Knurrend beugte er sich vor, riss den Mund weit auf und verschlang sie in einem.
Augenblicklich breitete sich ein warmes Gefühl in Lucifers Körper aus und ließ die Wirkung des Blutrauschs allmählich verebben. Keuchend und blutverschmiert ließ er sich zu Boden sinken, wo er sitzenblieb, bis sein Herzschlag sich beruhigt hatte. Gesättigt und zufrieden machte er sich auf den Rückweg in die Hölle.
Schlaf- und ruhelos wanderte Theliel durch den Palast. Er wusste, dass Azazel sich spätestens um elf Uhr in sein Schlafzimmer zurückzog und inzwischen war es kurz nach halb eins, weshalb keine Gefahr mehr von ihm ausging. Der junge Engel war auf der Suche nach Lucifer, den er nicht in dessen Zimmer angetroffen hatte. Ihm stand der Sinn nach Gesellschaft, außerdem wollte er mehr über diesen ominösen Ball erfahren, bevor er am Ende ins kalte Wasser geworfen wurde.
Sein Rundgang führte ihn in Räume und Gänge, die er zuvor niemals betreten hatte. Im Westflügel des Gebäudes befand sich beispielsweise ein gewaltiger Spiegelsaal mit zahlreichen, prächtigen Kronleuchtern, von denen jedoch kein einziger entzündet worden war. Vermutlich würde dort auch der Ball abgehalten werden; genügend Platz böte der Saal jedenfalls und sicherlich herrschte dort eine einmalige Atmosphäre, sobald die Spiegel das Licht der Kronleuchter reflektierten.
Ein Stockwerk darüber befanden sich zahlreiche leere Gästezimmer, die Theliels aktuellem Unterbringungsort sehr ähnlich waren, abgesehen von den diesmal durchaus vorhandenen Fenstern. Im Ostflügel, wo Lucifer sich einen Großteil der Zeit aufhielt, war außerdem noch eine umfangreiche Bibliothek untergebracht, weit größer als jene, aus der Theliel sich bedienen durfte.
Er war grade dabei, die Eingangshalle zu durchqueren, um sich in seinem Zimmer schlafen zu legen, als die Türen geöffnet wurden. Im matten Licht der Fackeln rechts und links des Eingangs konnte Theliel die Umrissen des Höllenkönigs ausmachen, der in der Bewegung erstarrte, als er Theliel bemerkte. Ein penetranter Geruch stieg von ihm auf und Theliel schluckte, als er ihn erkannte. Blut.
Das Gefühl, nein, das Verlangen, das Theliel bisher erfolgreich unterdrückt hatte, meldete sich übermächtig zurück. Speichel sammelte sich in seinem Mund, während er Lucifer, der ihn etwas verunsichert musterte, wie hypnotisiert anstarrte. Eine Menschenseele zu verzehren... für einen Engel unter gewöhnlichen Umständen undenkbar, aber die Hölle veränderte zusehends seine Maßstäbe und Wertvorstellungen.
Theliel schluckte erneut, doch die brennende Gier wollte nicht weichen. Seine Flügel begannen zu zittern, während er wie besessen weiter den Duft des frischen Blutes einsog. Er wankte leicht, konnte sich jedoch rechtzeitig an einer Säule abstützen.
Lucifer sagte etwas und kam näher, doch das alles nahm der junge Engel nur am Rande wahr.
Das Verlangen nach Blut, einer Menschenseele und dem Töten, um dieses Ziel zu erreichen, überwältigte ihn beinahe. Erst ein Blick in besorgte, violette Augen ließ ihn wieder zu sich kommen.
Keuchend brach Theliel zusammen, Schmerz zuckte durch seine Beine, als er mit den Knien auf dem harten Marmorboden landete. Nein! Kein Engel durfte sich jemals an der Seele eines Menschen vergreifen! Wie kam er überhaupt auf solche Ideen?
Entsetzt über sich selbst sprang er auf und floh panisch in sein Zimmer.
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