Kapitel 15
Der Auftakt zum Finale.... Charakterentwicklung voraus!
Als Theliel sichMichaels Grab näherte, verspürte er ein aufgeregtes Kribbeln in derMagengegend. Es war, als würde das unter dem Grab verborgeneHimmlische Feuer ihn rufen. Über seinen donnernden Herzschlag hinwegglaubte er, ein Flüstern wahrzunehmen, doch sobald Theliel die Luftanhielt, um zu lauschen, war es verschwunden.
Hier zu stehen undden weißen Marmorgrabstein zu betrachten, hatte etwas Endgültiges.Theliel fragte sich, ob er Michael gemocht hätte, wenn sie jemalsdie Chance erhalten hätten, einander kennenzulernen. Jeder, der mitMichael vertraut gewesen war, schien in Theliel Ähnliches zu sehen.Die Last dieses Erbes erdrückte den jungen Engel.
Einerseits warMichael ein Held gewesen; obwohl er Lucifer geliebt hatte, war ihmdie Treue zum Himmel wichtiger gewesen. Sein Verrat hätte durchausLucifers Todesurteil bedeuten können. Theliel konnte sichvorstellen, dass diese Entscheidung Michael nicht leicht gefallensein konnte.
Andererseits warMichael genau wie Lucifer selbst ein gebrochener Mann gewesen, derhatte leiden müssen, dennoch immer wieder gezwungen worden war,gegen den Mann zu kämpfen, den er liebte. Der Schmerz mussteüberwältigend gewesen sein, wenn Michael keinen anderen Ausweg alsden Tod gesehen hatte.
Theliel schluckte.Selbst in der kurzen Zeit, in der er Lucifer hatte kennenlernendürfen, war ihm der Höllenkönig sehr ans Herz gewachsen. Gegen ihnzu kämpfen oder ihm nach allem, was Theliel über ihn wusste,absichtlich noch mehr Schmerzen zuzufügen, erschien ihm schon alsGedanke unerträglich.
So sehr war Thelielin seinen Gedanken versunken gewesen, dass er nicht hörte, wiePachriel sich näherte, bis sie in ihrer strahlenden Rüstung direktvor ihm stand. Das Visier ihres Helmes stand offen, doch ihreGesichtsausdruck war nicht länger so unbekümmert wie üblich.Angesichts des bevorstehenden Kampfes gegen Lilith schien selbst ihrOptimismus einen Dämpfer erfahren zu haben.
„Der Herr hat michangewiesen, dir zur Seite zu stehen", erklärte sie leise. „Ichweiß nicht, was Er von dir erwartet, aber ich wünschte, Er würdees nicht tun."
„Es ist nichts,was ich nicht selbst wollen würde", murmelte Theliel, obwohl esnur die halbe Wahrheit war. „Bitte geh wieder. Ich möchte nicht,dass du verletzt wirst oder..." Oder Schlimmeres, aber das konnteer nicht aussprechen.
Pachriel plustertesich empört vor ihm auf und spreizte die Flügel so weit, dass siedoppelt so groß erschien.
„Ich bin hier dieElitesoldatin mit jahrzehntelanger Ausbildung!", beschwerte siesich. „Ich werde dafür sorgen, dass du heute Abend heil nach Hausegehst, nicht umgekehrt!"
Bei diesen Wortenmusste Theliel lächeln. Er ergriff Pachriels behandschuhte Hand unddrückte sie, doch das kühle Metall spendete ihm keinen Trost.Natürlich hatte sie Recht; er selbst konnte kaum ein Schwertschwingen, ohne aus dem Gleichgewicht zu geraten, während Pachrieles vermutlich sogar mit Lucifer aufnehmen könnte.
„Ich habe Angst,dass sich alle irren", sagte er mit gesenktem Blick. „Dass ichdas Himmlische Feuer vielleicht doch nicht kontrollieren kann und esLilith in die Hände fällt. Dann wäre es meine Schuld, wenn derHimmel Schaden nimmt."
„Es ist nichtdeine Schuld", entgegnete Pachriel bestimmt. „Ich weiß nicht,was der Herr sich dabei denkt, dich in einen Kampf gegen eine Dämoninziehen zu lassen. Du trägst nicht die Schuld daran, dass es hierzugekommen ist."
„Doch, das tueich. Ich habe mich in dem Moment hierzu verpflichtet, in dem ich indie Hölle gestiegen bin, um diese Tür zu öffnen. Der Herr hat mirdoch noch angeboten, mich da heraus zu halten, aber..." Er seufzte.
Erst eine Sekundespäter fiel ihm auf, dass Pachriel die Hände über den Mundgeschlagen hatte.
„Und ich habe dichauch noch dazu ermutigt, dein Schicksal selbst zu bestimmen. Das wardumm von mir; ich hätte wissen müssen, dass es gefährlich werdenwürde, sich in solche Dinge einzumischen."
„Nein, du hattestRecht." Theliel konnte nicht anders, als zu lächeln. Vielleichtwar es eine Reaktion auf die Furcht oder einfach die Tatsache, dasser Pachriels Anwesenheit genoss. „Ich will nicht immerzu einSpielball sein. Ich will diese Schlacht schlagen und sagen können,dass ich etwas erlebt habe – falls ich überlebe. Das hast du mirklar gemacht. Ich dachte immer, als Engel der untersten Triade wäreich Niemand. Dass ich erst ein bedeutungsvolles Leben führen könnte,wenn ich in eine höhere Triade aufsteige, aber jetzt... jetztverstehe ich, dass es nicht mein Status, sondern meine Taten sind,die mich ausmachen." Er blickte der Engelin in die Augen. „Daswar es, was Lucifer den Engeln beizubringen versucht hat. Ich habe esnur nicht verstanden, bevor du davon gesprochen hast."
Es erleichterte ihn,ein Lächeln auf Pachriels bisher so besorgtes Gesicht gezaubert zuhaben.
„Hast du michgrade mit Lucifer verglichen?", neckte sie ihn, doch es lag keineBosheit hinter ihrer Frage.
„Das ist etwasGutes", hauchte Theliel, dem schon wieder die Tränen in die Augenstiegen. „Sogar der Herr hält viel von Lucifer. Ich glaube, dassjeder sehen kann, wie besonders Lucifer ist, außer ihm selbst."
Pachriel schwieg.Theliel war sich ihrer gespaltenen Gefühle bewusst; einerseits hattesie wie alle anderen Engel auch ein Leben lang zu hören bekommen,Lucifer sei ein gewissenloses Monster, andererseits schien sieLucifers Ansichten zumindest stückweise zu teilen.
Und in diesem Momentbegriff Theliel, dass es vielen Engeln so gehen musste. DieUngerechtigkeit zog sich durch alle Schichten und alle Aspekte einesEngellebens, dennoch fürchteten sich zu viele Engel vor Veränderungoder einer Verbannung aus dem Himmel wie bei Lucifer.
Dabei waren es nichtLucifers Ideen gewesen, die ihn seinen Platz im Licht an Gottes Seitegekostet hatten, sondern seine mörderischen Absichten dem Schöpfergegenüber. Seine Gedanken weilten noch immer im kollektivenGedächtnis des Himmels. Das zu wissen hätte ihn bestimmt gefreut,überlegte Theliel mit einem Lächeln.
Er straffte denRücken und griff Pachriels Hand fester. Das Metall auf seiner Hauthatte sich erwärmt.
„Du kannst dichauf mich verlassen", sagte die Thronenengelin ruhig.
„Ich danke dir."
Sie winkte ab.
„Dafür sindFreunde doch da."
Lucifers Weg durchden Himmel hatte ihn zu dem Haus geführt, vor dem er so viele Abendegewartet hatte, bis Michael aus der Tür kam, um ihn auf ein Date zubegleiten. Auch von innen hatte Lucifer jeden Winkel kennengelernt.Im oberen Stockwerk befanden sich drei Schlafzimmer, wobei Michaelssich in der Mitte befand, während Gabriel das Zimmer, das der Treppeam nächsten war, für sich beansprucht hatte.
Der Gedanke, dassnun beide diese Schlafzimmer leer sein sollten, schmerzte denHöllenkönig. Er hatte Gabriel nicht töten wollen, redete er sichselbst ein. Es war nur eine Maßnahme zur Selbstverteidigung inKriegszeiten gewesen.
Gabriel und erhatten sich nie gut vertragen. In früheren Zeiten war Lucifer einmalder Mentor des Erzengels gewesen, aber spätestens seit Luciferangefangen hatte, um Michael zu werben, hatte sich ihre Beziehungdeutlich verschlechtert. Als verantwortungsvoller undtraditionsbewusster älterer Bruder hatte Gabriel das jüngsteMitglied seiner Familie nicht einem eitlen Pfau wie Luciferüberlassen wollen.
Das zumindest hatteMichael Lucifer später über die häufigen Streitigkeiten mit seinemältesten Bruder erzählt. Lucifer hatte darüber geschmunzelt,seinen Geliebten zu sich gezogen und geküsst. Gabriel war einnerviges, aber irgendwie liebenswertes Hindernis gewesen.
Etliche Minutenumrundete Lucifer das Haus immer wieder, bevor er sich schließlichdazu durchringen konnte, an der Tür zu klopfen. Im Inneren desGebäudes waren Schritte zu hören, bevor die Haustür einen Spaltnach innen geöffnet würde. Ein einzelnes, blaues Auge spähtehervor.
„Ich bin es",sagte Lucifer und fühlte sich zweitausend Jahre zurückversetzt. Erfühlte sich, als hätte er Michael Blumen mitbringen müssen, nur umseinen Freund dann unter Gabriels wachsamen Blicken und Raphaelsgütigem Lächeln zu begrüßen. Doch heute begegnete ihm nichts alsFeindseligkeit.
„Was suchst duhier?", fragte der Heiler, doch seine Stimme hatte nicht einmalgenug Kraft, um wütend zu klingen.
„Zuerst einmalmöchte ich hereingelassen werden."
Als Raphael nichtsofort reagierte, trat Lucifer einmal von außen gegen die Tür,wodurch sie nach innen aufschwang und den Heiler zu Boden schickte.Eilig half Lucifer dem leise vor sich hin schimpfenden Engel auf.
„Verschwinde!",fuhr Raphael ihn an. „Du hast meine Brüder getötet! Ich will dichnie-"
„Nie wieder sehen,schon klar", schnitt der Höllenkönig ihm das Wort ab. „Ichweiß, dass ich deine Familie zerstört habe, Raphael. Aber ich binhier, weil ich kurz davor bin, gegen Lilith zu kämpfen, und fallsder Himmel dabei zerstört wird..." Er holte tief Luft. „Ichglaube, Michaels Seele ist noch hier."
„Hier?", fragteRaphael verwirrt und klopfte sich nicht vorhandenen Staub aus derToga. Seine Flügel zuckten leicht, als würde er nur mit Mühe dieTränen zurückhalten.
„Im Himmel. Alsich an seinem Grab gewesen bin... dachte ich, er stünde direkt nebenmir." Violette Augen trafen auf blaue. „Hältst du das fürmöglich?"
Raphael seufzteschwer. Er wandte Lucifer den Rücken zu und tapste in die Küche, umTee aufzusetzen. Im ganzen Haus war es unerträglich still. Dies warkein Ort mehr, an dem das Leben tobte. Lucifer fragte sich, ob dieselastende Stille nach Michaels oder erst nach Gabriels Tod Einzuggehalten hatte.
„Ich weiß nichtviel über Seelen", verkündete der Heiler aus der Küche. „Nurdass Dämonen sie fressen und dass der Tod sie verwaltet. Vermutlichmüssen wir erst sterben, um mehr darüber erfahren zu können."
„Das erscheint mirnicht praktisch", entgegnete Lucifer. Er betrat die Küche, dienoch genauso aufgebaut war, wie er sie in Erinnerung gehabt hatte.„Es tut mir leid wegen Gabriel."
„Ich will deineEntschuldigungen nicht hören", sagte Raphael mit einer Verachtungin der Stimme, die Lucifer erstarren ließ. „Du hast mir allesgenommen, was mir wichtig war. Meine Brüder. Nach MichaelsSelbstmord dachte ich noch, ich könnte dir vergeben, denn Vergebungist Gottes Werk, nicht wahr?" Er klang, als wolle er sich selbstdavon überzeugen. „Aber nach allem, was du getan hast, musstest dumir auch noch Gabriel nehmen. Du bist ein Monster, LuciferMorgenstern. Ich weiß nicht, wie ich in dir jemals einenLichtbringer sehen konnte."
Lucifer spürte dieKälte, die sich in seinem Brustkorb ausbreitete. Er schluckteschwer, antwortete jedoch nicht, als Raphael ihm eine dampfende TasseTee reichte. Schweigend nahm er sie entgegen. Er fühlte sich, alsmüsste seine Seele vor lauter Schmerz gleich zerreißen. Raphael,gegen den er niemals Groll gehegt hatte, war ein gebrochener Mann. Soviel Kummer lag in seiner Erscheinung, die Lucifer allein zuvertreten hatte.
„Ich wünschte,der Herr hätte mich einfach zum Tode verurteilt, anstatt mich zuverbannen", wisperte der Höllenkönig.
„Das wünschte ichauch." Raphael zog einen Stuhl heran und sah ungerührt zu, wieLucifer ebenfalls Platz nahm. „Meine Brüder haben dich beidebewundert, daher habe ich mich bemüht, in dir etwas Besonderes zusehen. Selbst wenn es dir jetzt gelingen sollte, Lilith zu besiegen,wird es niemals dazu kommen, dass ich dir vergebe."
Es kostete Luciferunendliche Kraft, den Blick von seinem Getränk zu erheben undRaphael anzusehen.
„Was ist, wenn ichsterbe, Raphael?"
„Dann hoffe ich,dass Michael auf der anderen Seite dich in die Arme schließt und duihn dieses Mal glücklicher machen wirst." Ihre Blicke kreuztensich. „Ich will keine Rache, Lucifer. Ich wünsche dir kein Lebenin der Verdammnis der Hölle oder gefangen in deinem Selbsthass. Ichmöchte einfach nur meine Brüder glücklich wissen."
Zu LucifersÜberraschung beugte Raphael sich vor und legte eine Hand aufLucifers Wange. Die Geste war tröstlich und gleichzeitig riss siealle Barrieren ein, die Lucifer sich zu seinem eigenen Schutzerrichtet hatte.
„Auch wenn meineBrüder deinetwegen gestorben sind, Lucifer, hast du es trotzdemverdient, nicht länger leiden zu müssen. Wenn du meine Erlaubnisbrauchst, um dir selbst gestatten können, wieder glücklich zu sein,dann erteile ich sie dir hiermit. Triff deine Entscheidungen,Morgenstern. Lebe dein Leben und tu, was dich glücklich macht. Ichwünsche dir kein Leid."
Obwohl Raphaelangekündigt hatte, dem Höllenkönig niemals vergeben zu können,fühlte sich die Erlaubnis, glücklich sein zu dürfen, befreiend an.Und mit den ersten Tränen, die seine Wangen hinunter zu laufenbegannen, kam die Erkenntnis, dass, wenn der Mann, der Lucifer vonallen lebenden Geschöpfen am meisten hassen sollte, ihm Frieden mitsich selbst erlauben konnte, Lucifer sich diesen Frieden auch endlichselbst gestatten konnte.
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