Kapitel 13

Lilith frohlockteinnerlich. Sie hatte sich in die tiefsten Tiefen der Höllezurückgezogen, um ungestört zu sein. Die Beine angezogen hockte sieauf einem Sessel und beobachtete das Mädchen mit den blonden Locken,das wie eine Katze zusammengerollt vor dem Kamin lag und seinegroßen, grauen Flügel wärmte.

Für wenigeKreaturen, die sie hervorgebracht hatte, hatte Lilith bisher so etwaswie Zuneigung empfinden können. Ihr ewig andauernder Kampf gegenGott und den Himmel hatte sie stumpf werden lassen; ihre Emotionenverwoben sich zu einem grauen Schleier, bis sie schließlichentschieden hatte, gar nichts mehr zu fühlen.

Doch mit der Vanthwar es anders. Sie war ein Kind, das aus Liebe entstanden war. DerVerrat ihres Vaters hatte nicht nur das Leben der Kleinen, sondernauch Liliths eigenes zerstört. In dem Moment, in dem sie etwas Glückin ihr Leben gelassen hatte, kam Jahwe und riss es wieder von ihr.Dieser alte Mann dachte wirklich, er könnte sich alles erlauben.

Eine gespalteneZunge schnellte zwischen ihren Lippen hervor. Sie nahm den Geruch desKaminfeuers auf, der sich mit dem Gruftgestank aus Vanths Flügelnmischte. Ihre Tochter bewegte sich im Schlaf, ohne aufzuwachen.Lilith hätte für immer hier sitzen und das Mädchen beobachtenkönnen, über es wachen.

Aber sie hatteandere Pläne. Sie würde Jahwe für Seine Verbrechen bluten lassen.Mit Hilfe des Himmlischen Feuers würde sie den Himmel zerstören,die überlebenden Engel zusammentreiben und dann vor den Augen Gotteseinzeln töten. Und erst, wenn die vollkommene Vernichtung in GottesGesicht zu sehen wäre, würde sie dem alten Mann den Gnadenstoßerteilen.

Sobald die Engelausgelöscht wären, stünde den von Satan stammenden Dämonen derWeg in die Menschenwelt offen. Es würde vielleicht einige Monateoder Jahre dauern, bis die Menschheit von der Übermacht hungrigerDämonen ausgelöscht wäre, aber Lilith konnte warten. Im Gegensatzzu den von ihr geschaffenen Dämonen ernährten sich die AbkömmlingeSatans ausschließlich von Menschen- oder Engelseelen.

Sobald dieMenschheit vernichtet wäre, stünden die Dämonen vor dem Problemmangelnder Nahrung. Zwar konnten sie nicht verhungern, aber die Giernach Seelen würde sie wahnsinnig übereinander herfallen lassen. Indiesem geschwächten Zustand wäre es der Dämonenmutter einLeichtes, sie alle nacheinander zu vernichten, bis nur noch sie undihre Tochter Erinnerungen an die vergangene Existenz Gottes und derEngel in sich tragen würden.

Der Tag, an dem dieDämonenmutter eine neue Ära mit neuen Dämonen begründen würde,stand bevor. Liliths gespaltene Zunge zog sich wieder in ihren Mundzurück, als sie siegesgewiss grinste.


Inzwischen fühlteTheliel sich bereits sicherer, wenn er den Tempel im Zentrum desHimmels betrat. Vor einer langen Zeit – sogar noch lange vorLucifers Verrat – war er angeblich von hohen Mauern umgebengewesen, damit Gott sich in Ruhe Seiner Aufgabe widmen konnte, dieErde zu erschaffen. Doch diese Mauern waren niedergerissen worden,damit der Herr Seine Aufmerksamkeit wieder auf den Himmel richtete.

Die Thronenengel inihren prächtigen, mit Spitzen und Details versehenen Rüstungenließen ihn ohne eine Regung passieren, als er Zugang zumArbeitszimmer des Herrn verlangte. Ihre Blicke unter den Helmen warenstarr nach vorne gerichtet und ihre Flügel klappten einladend zurSeite, als Theliel die Hand nach dem Türgriff ausstreckte.

Zum ersten Mal saher das Arbeitszimmer Gottes bei Tag. Es war von Licht durchflutet,wobei der Herr selbst mit dem Rücken zur Balkontür saß, um nichtvon der Sonne geblendet zu werden. Auf diese Weise konnte er außerdemjeden Eintretenden sofort sehen.

Theliel verbeugtesich tief, beim Anblick seines Schöpfers noch immer von Ehrfurchtergriffen. Er saß in einer schiefen Haltung an Seinem Schreibtisch,einen Stift vergessen in der reglos über dem Papier schwebenden,rechten Hand. Theliels Eintreten schien Ihn aus einem Gedanken zureißen, doch als Er den kleinen Engel erblickte, lächelte Ererfreut.

„Du bist zurück",sagte Er und bedeutete Theliel, gegenüber Seines SchreibtischesPlatz zu nehmen. Im hellen Tageslicht wirkte der Herr gar nicht mehrso überwältigend. „Ist es dir gelungen, Lucifers Pakt zuerfüllen?"

Theliel nickte.

„Ja... Wie Ihrgesagt habt, war es mir möglich, die versiegelte Tür zu öffnen."Er wollte noch mehr sagen, doch Gott fiel ihm ins Wort.

„Sehr gut, sehrgut", murmelte Er zu sich selbst, legte endlich den Stift weg undlächelte zufrieden. Erst als Er Seinen Blick wieder auf Thelielrichtete, schien Er zu merken, dass der kleine Engel noch Fragenhatte.

„Herr?", erhober vorsichtig die Stimme. „Habt Ihr gewusst, dass die Gefangene...nun ja..." Er verfluchte sich selbst für sein Gestammel; er wolltedem Herrn doch nicht mehr Seiner kostbaren Zeit rauben als unbedingtnötig!

„Dass sie einEngel ist?", riet Gott, die gütigen Augen noch immer fest aufTheliel gerichtet, der plötzlich doch wieder Ehrfurcht verspürte.Er fragte sich insgeheim, ob der Herr vielleicht kontrollierenkonnte, wie ehrfurchtgebietend Er auf andere wirkte.

„Sie hatteFlügel!", platzte Theliel heraus. „Aber Ihr sagtet, sie sei dasKind einer Dämonin! Wie könnte ein Engel sich jemals auf sieeinlassen?"

Ihm blieben dieWorte im Halse stecken, denn plötzlich drängten sich Theliel dieErinnerungen an Lucifer ein, der ihn – charismatisch wie immer –um den Finger wickelte und verführte, bis Theliel alles zu vergessendrohte, an das er geglaubt hatte. Er schluckte, senkte den Kopf undversank in beschämtem Schweigen.

„Es stimmt, dassLilith ein Verhältnis mit einem meiner Engel eingegangen ist",bestätigte der Herr nach einigen Sekunden, in denen der Ihmgegenübersitzende Engel verbissen schwieg. „Doch das ist sehrlange her und nachdem er dafür gesorgt hatte, dass die Konsequenzenseiner Taten dem Himmel nicht schaden werden, habe ich ihm vergeben."

„Also hat einEngel dieses Mädchen in der Hölle eingesperrt?", hakte Thelielnach.

„Das ist richtig.Keinem Dämon – nicht einmal Lilith selbst – war es möglich, dieversiegelte Tür zu öffnen, dafür hatte er gesorgt. Soweit ichweiß, haben er und Lilith sich danach nicht wieder gesehen."

„Warum konnte ichsie dann öffnen?" Die Frage brannte Theliel schon auf der Zunge,seit der Herr ihm von der versiegelten Tür erzählt hatte, dochbisher hatte er nicht gewagt, sie direkt an Gott zu stellen.

„Ich weiß esnicht. Er hat den genauen Mechanismus selbst vor mir geheim gehalten,aber ich vermute, dass die versiegelte Tür in der Hölle einemähnlichen Prinzip unterliegt wie das Himmlische Feuer. Aber nichtjeder Engel, der das Himmlische Feuer kontrollieren kann, hätte auchdiese Tür öffnen können." Sein Blick bohrte sich in ThelielsAugen. „Deine Kombination an Kräften ist einzigartig. SelbstGabriel oder Metatron, nein, nicht einmal Lucifer käme an sieheran."

Theliel schnapptenach Luft angesichts dieses unerwarteten Lobes. Doch ehe er daraufmit Dankesworten hätte antworten können, sagte Gott: „Nur inMichael habe ich diese Kräfte gesehen."

Diese Worte brachtenden kleinen Engel unsanft wieder auf den Boden der Tatsachen.

„Ihr sagtetbereits, ich sei ihm ähnlich. Aber ich wüsste nicht, wie ich einemHelden des Himmels nachkommen könnte. Ich kann kaum ein Schwert festgenug halten, um damit zuzustechen. In einem Kampf gegen Luciferwürde ich unterliegen, noch hätte ich die geistige Stärke, ihn indie Hölle zu stoßen."

Daraufhin wurde Gottplötzlich ruhig.

„Das hätte ichniemals von Michael verlangen dürfen. Ich hätte Lucifer selbstzurück in die Hölle werfen sollen, anstatt mich hinter meinenEngeln zu verstecken. Für Michaels Tod bin ich verantwortlich. Ichkann niemals erwarten, dass Lucifer mir das vergibt."

Schweigen senktesich über das Arbeitszimmer. Theliel hätte unendlich viele Fragenzu der scheinbar komplexen Beziehung von Gott, Michael und Luciferstellen können, doch dieser Zeitpunkt erschien ihm nicht angemessen.Der Blick des Herren schweifte ab und für viele Minuten schien er inSeinen Erinnerungen gefangen zu sein.

„Warum", setzteTheliel schließlich an und hatte sofort wieder Seine Aufmerksamkeit,„hat der Vater der Vanth es für nötig gehalten, sie einzusperrenund Liliths Einfluss zu entziehen? Was macht ein kleines Mädchen sogefährlich?"

„Ihre himmlischeAbstammung", eröffnete der Herr freimütig. „Sie ist fähig, dasHimmlische Feuer zu erwecken und einzusetzen, wenn sie sich in dessenNähe aufhält."

Ein eiskalter Knotenbildete sich in Theliels Magen. Als er zu sprechen begann, musste erbeinahe würgen. Zweimal setzte er an, bevor er es schaffte, einenSatz zu formen.

„Ist es dann nichtgefährlich, sie aus ihrem Gefängnis zu befreien? Nur um Lucifer ausseinem Pakt zu erlösen?"

„Gefährlich wares sicherlich. Lilith wird ihre Engelstochter in den Himmeleinschleusen, um an das Himmlische Feuer zu kommen. Der Himmel wäredann leichte Beute für sie, genau wie ich selbst." Der Herrstützte die Ellbogen auf die Tischplatte, ließ den Kopf auf seinenHänden ruhen und beugte sich zu Theliel vor. Obwohl Er beinaheflüsterte, stand ein schelmisches Lächeln auf Seinen Lippen. „Undgenau das ist mein Plan."


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